LUÜBECKIS CHE BLATTER
ZEITSCHRIFT DER GESELLSCHAFT ZUR BEFORDERUNG GEMEINNUÜTZIGER TATIGKEIT
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_ LÜBECK, DEN 20. NOVEMBER 1949
FÜNF UN D ACHT ZI G S T ER JAHR G ANG / NU MMER 4
A M 2. NOVEMBER 1949
.. aber uns leuchtet freundliche Treue.
Sehet, das Neue findet uns neu.
Goethes kraftvoll in die Zukunft weisende Verse Denken wir einmal zurück: Das Gründungsjahr
„Zum neuen Jahr“’ sowie sein schönes „Vermächtnis“ unserer Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger
und seine geheimnisvollen „Urworte‘“, gesprochen Tätigkeit 1789 ist das der Französischen, der „„großen“
von Renate Rehn-Röper, und festliche Mozartische Revolution. Besteht ein innerer Zusammenhang mit
Musik, gespielt von Rolf und Maria Ermeler, bildeten dem Entstehen oder der Entwicklung unserer Gesell-
nen in würdigster Weise Auftakt und Rahmen für die schaft ? Wohl kaum, oder doch nur auf recht ge-
Feierstunde, mit der unsere Gesellschaft ihren 160. wundenen Umwegen: Ist doch unsere Gesellschaft
Stiftungstag beging. Im Mittelpunkt der überaus stark ein Kind des humanistischen Geistes der Aufklärung
besuchten Veranstaltung stand eine Ansprache des und des Freimaurertums. Aber daran wollen wir
Direktors, Prof. Dr. W. Kusche, der zunächst in einem gerade jetzt denken, daß der größte Deutsche, dessen
; kurzen Vberblick der Geschichte der Gemeinnützigen 200jährigen Geburtstag wir in diesen vergangenen
N im letzten Jahre, der Verstorbenen und der durch Ver. Wochen gefeiert haben, damals, also im Gründungs-
leihung der Denkmünze der Gesellschaft ausgezeich- jahre unserer Gesellschaft, das reife Mannesalter er-
neten Mitglieder gedachte, um sodann in seiner eigent- reicht hatte, daß die die ganze Kulturwelt erschüttern-
lichen Festrede, die wir nachfolgend wiedergeben, zu den „Leiden des jungen Werther“ und andere Jugend-
den uns alle bewegenden Fragen der Zeit, unseren werke des Großen in Jedermanns Hand waren, daß
Sorgen, Hoffnungen und Aufgaben Stellung zunehmen. unsere Vorfahren auch hier im geschäftlich nüchtern
Das gesellige Beisammensein in den schönen neur denkenden Lübeck in ihrem Denken und bis zu einem
hergerichteten Räumen des Gesellschaftshauses gab gtewissen Grade sogar im Handeln Söhne und Töchter
Gelegenheit zu Meinungsaustausch und mancherlei jener romantiseh-sentimentalen Epoche waren und
Anregung für die Arbeit der Gesellschaft in der eine so ganz andere Sprache redeten als wir – auch
kommenden Zeit. Der Verkauf der Tombolalose für in den Räumen dieses altehrwürdigen Hauses.
die Herberge zur Heimat ergab eine stattliche Summe. Us folgt die Epoche Napoleon und die der Freiheits-
kriege mit ihrem Aufflammen der nationalen Idee,
Ansprache des Direktors der der Weise in Weimar für Viele unter uns in schwer
Rs dürfte in Deutschland, ja in der ganzen west- zu begreifender Art so kühl und skeptisch gegen-
lichen Welt nur wenige Institute oder Gemeinschaften überstand. Dann kommen die entscheidenden Jahre
geben, die auf das ehrwürdige Alter von 160 Jahren nationalen Lebens 1848 und 1871. Es gehen parallel
zurückblicken können, wie es heute bei unserer Gesell- damit die Umwälzungen wirtschaftlicher Art, die
schaft der Fall ist. 160 Jahre bedeuten im mensch- Wandlung Deutschlands sowie der meisten anderen
lichen Leben etwa fünf Generationen! europäischen Länder von agrarischen zu indu-
Anders zu wägen ist diese Zahl bei pflanzlichen Striellen Gemeinschaften. ;
Organismen, von denen manche dies ehrwürdige Die letzt vergangene, ja noch ein Teil der
Alter noch übertreffen: ich denke etwa an einzelne heutigen, älteren Generation erlebt dann die Kulmi-
Uxemplare unserer holsteinischen Buchen, an unsere nationsperiode der deutschen Politik unter dem auf
stolzen Eichen, an hochragende Nadelhölzer der ge- leider so einsamer Höhe stehenden Staatsmann
mäßigten Zonen. –+ Ein Nichts sind 160 Jahre, ge- Bismarck.
messen an dem Werden und Verfallen der Runzeln Und der heutigen Generation ist nun das traurige
und Falten der Erdrinde, die mit Jahrhundert- Erbe geblieben, den Abstieg von dieser nationalen
tausenden rechnet. Für das kurzlebige Menschen- Höhe und Weltgeltung zu erdulden, einen Abstieg,
volk selbst aber wird man die Worte 160 Jahre nur wie er in der modernen Geschichte nur mit dem des
langsam und mit Ehrfurcht aussprechen müssen. weltbeherrschenden Reiches Philipps II. zu dem be-
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