Full text: Lübeckische Blätter. 1908 ; Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Bürgerschaft zu Lübeck im Jahre 1908 (50)

Z 82 mieden ist der umständliche Instanzenzug Schulvor- Wenn Gelehrte in literarischer Fehde liegen, stand, Handelskammer, Oberschulbehörde mit allen pflegen sie sich dadurch abzutrumpfen, daß sie sich Einzelfragen nach Maßgabe der gesezlichen Be-. ,„Gefühlswissenschaft“ vorwerfen. Was hat es mit stimmungen. Vielleicht findet sich in der Bürgerschaft diesem Vorwurf auf sich? Wir haben unseren Ver- ein Mitglied, welches darauf hinwirkt, daß endlich stand, um ihn zu gebrauchen. Jede wissenschaftliche klare Verhältnisse geschaffen werden. Sollte die Forschung muß von dem Grundsatz ausgehen, daß Bürgerschaft dem Gesetzesnachtrag aber zustimmen, sie zunächst und, soweit es angeht, alles verstandes- so bleibt die ruhige, wirklich segensreiche Arbeit in mäßig zu erklären versuch. Wer es anders macht, und an der Kaufmännischen Fortbildungsschule noch verfährt nicht wissenschaftlich und wird zu Recht ver- lange eine fromme Hoffnung. ! 871. dammt; denrt „Gefühlswissenschaft“ auf Kossten des Verstandes treiben, ist nicht erlaubt. Das Gefühl als Quelle der Erkenntnis. Aber die verstandesmäßige Betrachtungsweise . t reicht nicht aus. Wer offenen Auges in die Welt Alte wissenschaftliche Arbeit bedarf der Methode; sieht, wird des inne werden, daß es Wirklichkeiten wer unmethodisch arbeitet, dem geht es nur zu oft gibt, die sich von unserem Denkvermögen überhaupt mit der Mühe, die er aufwendet, wie der Welle, die nicht oder doch nur unvollkommen erfassen lassen. am Strande des Meeres zerfließt. Der Wert der Die Welt ist unserer Logik zu groß, unser Verstand Methode ist heute ja auch allgemein anerkannt, begreift nicht alles, was in ihr ist. Ja, gerade das gerade unsere Zeit hat mehr als eine je zuvor plan- Allergrößte und Allerfeinste entzieht sich ihm; es mäßig arbeiten gelehrt und gelernt. läßt sich nicht definieren (wer das tut, zerstört oder Aber dies Methodisieren der Arbeit hat auch verstümmelt es), nur gefühlsmäßige Betrachtung Nachteile gebracht; vor allem den, daß man die vermag hier zu erkennen. Jean Paul hatte recht, Methode, deren man sich bedient, überschättt, für wenn er sagte: „Nicht das Hirn, sondern das Herz allein möglich erklärt und nichts anderes gelten denkt die größten Gedanken aus.“ lassen will. Ja, mehr als das, mitunter ist gar Das Gebiet des Jrrationalen ist größer, als man sie, die doch nur ein Weg zum Ziel sein soll, diesem gemeinhin annimmt. Hu ihm gehört an erster und Ziele gleichgestellt, ja vorgezogen worden. einziger Stelle die Religion. Zu ihm gehört auch die Solcher übertriebenen Wertschätzung ist entgegen. Kunst. Ich bin in künstlerischen Dingen Laie und zuhalten, daß es allgemein giltige Methoden nicht weiß wohl, daß Laien vieles für unerklärlich halten, gibt. Wo man hinsieht, wird um sie gestritten; was der Wisssende aufs schönste zu erklären versteht. jeder meint, daß er die richtige habe, und der un. Alber auch ein Kenner wie Jakob Burckhardt hat in beteiligte Zuschauer entnimmt daraus mit Recht, seinen ,„Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ über die daß es sich bei ihnen nur um relative Größen handelt. Künste geschrieben: „Sie beruhen auf geheimnisvollen Jede Methode hat ihren Wert, auch die einseitigste. Schwingungen, in welche die Seele versezt sind“. Mag sie den Tatsachen auch noch so viel Gewalt Daher kommt es, daß wir ein Kunstwerk nur gefühls- antun und dadurch die größte Verwirrung anrichten, mäßig voll würdigen können. „O, wenn uns doch jeder Versuch, alles von einem Standpunkt aus zu jemand sag en könnte, was Schönheit ist," hat übersehen, alles auf eine Ursache zurückzuführen, hat einmal ein schönheitsdurstiger Mensch gerufen. Das doch in der Regel zu neuen Forschungsergebnissee ist ein unerfüllbarer Wunsch. Niemand wird das je geführt, derentwegen man alle Irrtümer und Ver- vollkommen sagen können; unserer Sprache fehlt's kehrtheiten wohl in den Kauf nehmen kann, auch dazu an Worten, an der Ausdrucksfähigkeit. Das wenn sie zunächst überwiegen sollten. Denn über Irrationale tritt uns weiter auch im Menschen und seinen der Gesamtheit aller wissenschaftlichen Arbeit leuchtet dJIdealen entgegen; jeder große Mensch ist ein My- die schöne Hoffnung auf Selbstkorrektur aller terium, das kein Verstand, keine Genealogie zu ent- ihrer Fehle. Aber jede Methode hat auch rätseln vermag, das nur die Verehrung begreift, die immer nur einen beschränkten Wert, weil sie einseiitg galten großen Menschheitsideale, wie Freiheit und Vater- ist und deshalb nicht alles vermag. Jedes Wissenss.. landsliebe haben bis zum heutigen Tage noch keine gebiet ist in der Regel so vielseitig, mannigfaltig unn irgendwie befriedigende, verstandesmäßige Inter- groß, daß eine Forschungsart nicht ausreicht, es zu pretation gefunden. erschließgen. Sicher gilt das von der Summe aller Das Gefühl als Erkenntnisquelle anzuerkennen, Forschungsgebiete, der Welt; wer sie verstehen lernen ist gefährlich. Denn ohne alle Frage wird dadurch will, muß sich der Methode nicht im Singular der Träumerei und Schwärmerei Tür und Tor sondern im Plural bedienen. geöffnet. Mystisch veranlagte Menschen werden nie Wir erkennen durch den Verstand. Die Frage imstande sein, der gefühlsmäßigen Betrachtung die ist, ob er unsere einzige Erkenninisquelle darstellt. richtige Stelle anzuweisen, sondern sich von vorn-
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