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erhalten. In seiner stillen Klause verfolgte er mit
großem JInteresse alle geistigen und sozialen Bestre-
bungen unserer Zeit und förderte leßtere mit allzeit
offener Hand. Ein tief religiöser Zug ging durch
sein ganzes Wesen, und fast kein Tag seines so
schönen Lebensabends ging vorüber, ohne daß er in
der Bibel gelesen, die ihm das Buch der Bücher blieb.
Im Presbyterium der reformierten Gemeinde, der er
durch Geburt angehörte, verblieb er volle fünfzig
Jahre, und seine Stimme galt viel in der Gemeinde!
So lebte und wandelte er wie ein Patriarch unter
den Seinen. Gessättigt mit langem Leben, schloß er
nach kurzem, schmerzlosen Unwohlsein die Augen; eine
leichte Influenza hatte ihn hinweggenommen. Bene
vixit, qui bene latuit. eh. Dr.
Theater nnd Musik.
Stadthallentheate. Ca r men. Oper von Bizet.
(21. Dezember.)
Die große Anziehungskraft, die Bizets Meister-
werk stets ausübt, bewährte sich auch am Freitag.
Das Theater war troy der nahen Festtage sehr gut
besucht. Die Aufführung durfte zu den besten der
Saison gerechnet werden. Eine vollkommene Carmen
ist die als Gast mitwirkende Frau Boehringer-
Saalburg nicht, aber zweifellus eine sehr interessante.
Ihrer umiangreichen Stimme fehlt nocq die rechte
künstlerische Durchbildung, der Ton klingt meist zu
flach und bewahrt im Affekt nicht immer die reine
Intonation. Weit bedeutender ist die Künstlerin als
Schauspielerin; namentlich in den Eckakten war ihr
Spiel von packender Realistik. Von unsern em-
heimischen Künstlern verdiente vor allem perr Bischof k
als José uneingeschränktes Lob, das auch Fräulein
Richter (Micasla) gespendet werden könute, wenn sie
ihre Stimme von dem starken Tremolo befreite. Herr
Kapellmeister Weys bot in der Leitung des Orchesters
eine warm anzuertennende Leistung; nicht oft haben
wir die Oper gleich glanzvoll von Streichern und
Bläsern gehört.
Viertes Siufoniekonzert. (15. Dezember.)
Das außerordentlich interessante und anregende
Konzert bot eine Fülle von wenig oder gar nicht be-
kannter Munk, für deren Vermittlung man Herrn
Kapellmeister Abendroth nur dankbar sein kounte.
Als die wertvollîte Gabe galt uns das zweite bran-
denburgische Konzert Bachs mit seinem ganz herrlichen
zweiten Satz, einem Meisterwerke polypyoner Kunst.
Es wurde von den Herren Konzertmeister Schwabe,
unserm famosen Trompeter Leßle, Gelfius (Flöte) und
Siugelmann (Oboe), die wir als außerordentlich tüch-
tige Vertreter ihrer Instrumente kennen lernten, prächtig
und mit feiner Zurückhaltung geipcelt. Jean Jacques
Rousseaus zu Anfang gespielte Ouvertüre zu „Le devin
du village“ beansprucht nicht nur historisches Interesse.
Hält sich der langsame Satz auch in den Grenzen
konventioneller Musik, zeugt der Allegroteil doch von
nicht geringer Erfindungskraft; des Komponisten. Jn-
wieweit der Bearbeiter Heinrich Schwartz durch die
neue Instrumentierung auf die Klangwirkung einge-
wirkt hat, entzieht sich ohne Kenntnis der ursprüng-
lichen Partitur natürlich näherer Beurteilung. Von
Fel'x Mottls Suitenbearbeitungen älterer Komponisten
haben wir vor einigen Jahren schon die Glucksche
Suite kennen gelern. Mit mcht minder glücklicher
Hand hat der geniale Dirigent drei Tanzstücke aus
Grétrys Ballett „Céphale et Procris“ aneinander-
gereiht, die ob ihrer fein empfundenen Musik und
ihrer entzückenden Wiedergabe lautesten Beifall des
sehr zahlreich erschienenen Publikums hervorriefen.
Den Beschluß des Konzertes machte Haydns D-dur-
Sinfonie (Nr. 14 in der Breitkopf und Härtelschen
Ausgabe), die mit Unrecht wenig gespielt wird. Sie
verdiente mit ihrer warmen Melodik und ihren vielen
liebenswürdigen Zügen weit öfter die Programme
ernsier Konzerte zu zieren. Herr Kapellmeister Abend-
roth erwies sich auch in muijikalischer Kleinkunst als
fei fühliger Musiker, als den wir ihn seit Beginn
seiner Tätigkeit immer von neuem schäyen lernen.
Die mitwu: kende Solistin Frau Adrienne von
Kraus-Osborne, die hier schon vor einer längeren
Reihe von Jahren, damals noch im Anfange ihrer
künstlerischen Laujbahn stehend, in einem Sinfoniekonzert
sang, hatte einen großen und verdienten Erfolg zu
verzeichnen. Ihre um'angreiche, durch keinerlei Fehler
der Toubildung beeinträchtigte Stimme ist von berücken-
der Schönheit. Noch höver schäßgen wir die hohen
künstlerischen Qualitäten der Sängerin, die in Arien
von Gluck und Händel und einer Reihe unbekannter
Lieder ron Schubert, Mozart und Weber bewies, daß
ihr jeines Stilgerühl den verschiedenar tigsten Stimmun-
gen gerecht zu werden vermag. Einen Genuß für
sich bildete die Begleitung durch Herrn Hofmeier an
einem prahtvollen Steinway. J. Hennings.
Leben und Treiben im alten Lübeck.
(Aus den Protokollen der Kämmerei.)
Von Dr. Hartwig.
Schulmeister und Schneider.
1779 23. September: Auf suppliciren des
Schulmeisters zu Duchelstorff . . Heins daß er mit
der auf diesjährigem Landgericht festgesegten recog-
nition von 1 Thaler wegen seines Schneider Hand-
werks möge übersehen werden; ist demselben zum Be-
scheid ertheilet: daß die Schulmeister in den Dörfern,
welche nevenher rin Handwerk treiben, unter solcher
Verordnung nicht mit verstanden würden, mithin er
von dem recognitions Thaler frey seyn solle.