Full text: Lübeckische Blätter. 1906 ; Verhandlungen der Bürgerschaft. 1906 (48)

765 erhalten. In seiner stillen Klause verfolgte er mit großem JInteresse alle geistigen und sozialen Bestre- bungen unserer Zeit und förderte leßtere mit allzeit offener Hand. Ein tief religiöser Zug ging durch sein ganzes Wesen, und fast kein Tag seines so schönen Lebensabends ging vorüber, ohne daß er in der Bibel gelesen, die ihm das Buch der Bücher blieb. Im Presbyterium der reformierten Gemeinde, der er durch Geburt angehörte, verblieb er volle fünfzig Jahre, und seine Stimme galt viel in der Gemeinde! So lebte und wandelte er wie ein Patriarch unter den Seinen. Gessättigt mit langem Leben, schloß er nach kurzem, schmerzlosen Unwohlsein die Augen; eine leichte Influenza hatte ihn hinweggenommen. Bene vixit, qui bene latuit. eh. Dr. Theater nnd Musik. Stadthallentheate. Ca r men. Oper von Bizet. (21. Dezember.) Die große Anziehungskraft, die Bizets Meister- werk stets ausübt, bewährte sich auch am Freitag. Das Theater war troy der nahen Festtage sehr gut besucht. Die Aufführung durfte zu den besten der Saison gerechnet werden. Eine vollkommene Carmen ist die als Gast mitwirkende Frau Boehringer- Saalburg nicht, aber zweifellus eine sehr interessante. Ihrer umiangreichen Stimme fehlt nocq die rechte künstlerische Durchbildung, der Ton klingt meist zu flach und bewahrt im Affekt nicht immer die reine Intonation. Weit bedeutender ist die Künstlerin als Schauspielerin; namentlich in den Eckakten war ihr Spiel von packender Realistik. Von unsern em- heimischen Künstlern verdiente vor allem perr Bischof k als José uneingeschränktes Lob, das auch Fräulein Richter (Micasla) gespendet werden könute, wenn sie ihre Stimme von dem starken Tremolo befreite. Herr Kapellmeister Weys bot in der Leitung des Orchesters eine warm anzuertennende Leistung; nicht oft haben wir die Oper gleich glanzvoll von Streichern und Bläsern gehört. Viertes Siufoniekonzert. (15. Dezember.) Das außerordentlich interessante und anregende Konzert bot eine Fülle von wenig oder gar nicht be- kannter Munk, für deren Vermittlung man Herrn Kapellmeister Abendroth nur dankbar sein kounte. Als die wertvollîte Gabe galt uns das zweite bran- denburgische Konzert Bachs mit seinem ganz herrlichen zweiten Satz, einem Meisterwerke polypyoner Kunst. Es wurde von den Herren Konzertmeister Schwabe, unserm famosen Trompeter Leßle, Gelfius (Flöte) und Siugelmann (Oboe), die wir als außerordentlich tüch- tige Vertreter ihrer Instrumente kennen lernten, prächtig und mit feiner Zurückhaltung geipcelt. Jean Jacques Rousseaus zu Anfang gespielte Ouvertüre zu „Le devin du village“ beansprucht nicht nur historisches Interesse. Hält sich der langsame Satz auch in den Grenzen konventioneller Musik, zeugt der Allegroteil doch von nicht geringer Erfindungskraft; des Komponisten. Jn- wieweit der Bearbeiter Heinrich Schwartz durch die neue Instrumentierung auf die Klangwirkung einge- wirkt hat, entzieht sich ohne Kenntnis der ursprüng- lichen Partitur natürlich näherer Beurteilung. Von Fel'x Mottls Suitenbearbeitungen älterer Komponisten haben wir vor einigen Jahren schon die Glucksche Suite kennen gelern. Mit mcht minder glücklicher Hand hat der geniale Dirigent drei Tanzstücke aus Grétrys Ballett „Céphale et Procris“ aneinander- gereiht, die ob ihrer fein empfundenen Musik und ihrer entzückenden Wiedergabe lautesten Beifall des sehr zahlreich erschienenen Publikums hervorriefen. Den Beschluß des Konzertes machte Haydns D-dur- Sinfonie (Nr. 14 in der Breitkopf und Härtelschen Ausgabe), die mit Unrecht wenig gespielt wird. Sie verdiente mit ihrer warmen Melodik und ihren vielen liebenswürdigen Zügen weit öfter die Programme ernsier Konzerte zu zieren. Herr Kapellmeister Abend- roth erwies sich auch in muijikalischer Kleinkunst als fei fühliger Musiker, als den wir ihn seit Beginn seiner Tätigkeit immer von neuem schäyen lernen. Die mitwu: kende Solistin Frau Adrienne von Kraus-Osborne, die hier schon vor einer längeren Reihe von Jahren, damals noch im Anfange ihrer künstlerischen Laujbahn stehend, in einem Sinfoniekonzert sang, hatte einen großen und verdienten Erfolg zu verzeichnen. Ihre um'angreiche, durch keinerlei Fehler der Toubildung beeinträchtigte Stimme ist von berücken- der Schönheit. Noch höver schäßgen wir die hohen künstlerischen Qualitäten der Sängerin, die in Arien von Gluck und Händel und einer Reihe unbekannter Lieder ron Schubert, Mozart und Weber bewies, daß ihr jeines Stilgerühl den verschiedenar tigsten Stimmun- gen gerecht zu werden vermag. Einen Genuß für sich bildete die Begleitung durch Herrn Hofmeier an einem prahtvollen Steinway. J. Hennings. Leben und Treiben im alten Lübeck. (Aus den Protokollen der Kämmerei.) Von Dr. Hartwig. Schulmeister und Schneider. 1779 23. September: Auf suppliciren des Schulmeisters zu Duchelstorff . . Heins daß er mit der auf diesjährigem Landgericht festgesegten recog- nition von 1 Thaler wegen seines Schneider Hand- werks möge übersehen werden; ist demselben zum Be- scheid ertheilet: daß die Schulmeister in den Dörfern, welche nevenher rin Handwerk treiben, unter solcher Verordnung nicht mit verstanden würden, mithin er von dem recognitions Thaler frey seyn solle.
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