Full text: Lübeckische Blätter. 1906 ; Verhandlungen der Bürgerschaft. 1906 (48)

510 kann man wohl sagen: der letzte Dienstag brachte uns Außerordentliches. Angeregt durch den vorher- gehenden Bericht des Herrn Dr. Sack, welcher über das Zeißwerk in Jena sprach, hatte sich Herr Bernhard Dräger bereit finden lassen, über seine Fabrik, seine Erfindungen und seine Arbeiterverhältnisse zu berichten. Jeder, der ihm zugehört, ist dankbar für den be- reiteten Genuß. Wir wissen freilich alle, daß der Sauerstosf zum Leben, zum Brennen und zum Gedeihen notwendig ist, aber in welch vielfacher Weise er heutigentags gebraucht wird, das hat man doch nicht so recht geahnt, wenn man nicht gerade mitten im industriellen Leben steht. „„Eine neue Industrie kann aber," wie der Vortragende begann, „niemals gedeihen, noch zu einer Größe gelangen, wenn sie nicht von volkswirtschaftlicher oder kultureller Be- deutung wird.“ Die Sauerstoffindustrie ist aber seit einigen Jahren in rapidem Wachstum begriffen. Die wirtschaftliche Nutzbarmachung des Sauerstoffes er- fordert wiederum die fabrikmäßige Herstellung vielerlei Apparate, die bei seiner Verwendung erforderlich sind. Trotz der noch jungen Industrie aber hat die Anwendung des Gases schon eine lange Vorgeschichte, wie der Redner durch Vorzeigen älterer französischer und englischer Bücher bewies. Aber erst die Kohlen- säureverwendung mit ihren Stahlzylindern half auch der Sauerstoffindustrie rasch zu kräftiger Ent- wicklung empor. Man darf wohl, ohne Widerspruch zu finden, aussprechen, daß die beiden Dräger, Vater und Sohn, die Bedeutung des komprimierten Sauer- stoffes rechtzeitg erkannten und keine Mühe und Arbeit scheuten, aber auch durch langwierige und kost- spielige Versuche schließlich zum Erfolge gelangten. Während die Fabrik noch im Jahre 1900 die Massenherstelung von Armaturen für Bierdruck- und Mineralwasserapparate betrieb, stellt sie gegen- wärtig nur noch Sauersstoffinstrumente her. Der Erfindung des „Finimeters“ folgten bald andere Konstruktionen. Das Finimeter hat eigentlich erst den Gebrauch des Sauerstoffzylinders populär ge- macht, wie Berichterstatter aus ureigenster Er- fahrung bezeugen kann. Denn es ist ein übel Ding, einen Vortrag mit Lichtbildern und Kalk. beleuchtung zu beginnen, ohne über den Sauer- stoffvorrat orientiert zu sein! Alles lauscht dem Redner und bewundert seine aus fernen Gegenden mitgeführten prachtvollen Projektionsansichten. Plötz- lich werden sie blaß, dunkel und verschwinden ganz, der Sauerstoff im Zylinder ist alle! Das Finimeter, leicht und kompendiös gebaut, dennoch ganz zuver- lässig, belehrt den Redner stets über den Vorrat in der Stahlflasche. Sein ,Druckreduzierventil“ (weitere Drägersche Erfindung) gestattet ihm, die unter dem Drucke von 125 Atmosphären gebändigten Gase aus dem Innern der Stahlflasche mit ! , 1/z oder ähnlichem brauchbaren Drucke heraus und die Kalkplatte der Drummondlampe umspielen zu lassen. Die Brenner Jelbst verbesserten Drägers natürlich auch erst, so daß man sie heute fast gänzlich unge- übten Händen ohne Gefahr überlassen kann. Leider sahen beide Fabrikanten ihre Sauerstoffflaschen oft zum Teil geleert hier ankommen, weil die Flaschen- ventile nicht dem ungeheuren Drucke (ungefähr 15 mal so stark als im Kessel einer modernen Dampf- maschinel) nicht genügend Widerstand leisten konnten. Nichts lag näher, als erst mal brauchbare Versschlüsse zu schaffen. Obgleich hier technische Schwierigkeiten mancherlei Art zu überwinden, die an andere Kon- struktionen gewöhnten Konsumenten erst für die neue Form zu gewinnen und neidische Konkurrenten zu besiegen waren, bahnte sich das Drägersche Fabrikat bald seinen Siegesweg. Dann wandten sich die Fabrikanten der Her- stellung von Narkoseapparaten zu. Daß Redner monatelang die mechanischen und physiologischen Vorgänge des Atmens studierte, sich mit Ärzten in Verbindung setzte und manchen Operationen beiwohnen mußte, um das richtig zu erfassen, worauf es später ankommen mußte, verschwieg Herr Dräger in seiner Bescheidenheit. Den Narkoseapparat, der von jeder Krankenschwester bedient werden kann, führte Redner vor. Das Auditorium war imstande, den Tropfen- fall des Chloroforms und Äthers deutlich zu hören, jenachdem das Ventil mehr geöffnet oder abgekniffen wurde. Ein JInhalationsapparat, der Sauerstoff- Koffer, Schweißapparate, um Stahlzylinder ohne Nat aneinanderzufügen, Überdruckoperationsvorrich- tungen, die eine L ffnung der Brusthöhle gestatten, und Feuerwehr-Rettungsapparate folgten aufeinander. Letzgenannte Vorrichtungen sind die in Courrières unter persönlicher Leitung des Herrn Bernhard Dräger angewandten, was er uns leider auch wieder verschwieg. An der Hand der Umsatzzahlen + (ein Betriebsgeheimnis habe Redner nicht zu verhüllen) kann man die überwältigende Zunahme des Betriebes erschen. Die Zahlen stellen sich: 1900 : 3000; 1901 : 7000; 1902 : 20 000; 1903 : 70 000; 1904 : 200000; 1905: 400000; 1906 voraussichtlich AM 700000!!! Der Sauerstoff wird populär. Das Eindringen dieser Industrie in Erwerbszweige, die früher sich nicht träumen ließen, je damit in Verbindung zu treten (Fischversand), muß Drägers abhalten, sich mit allen ihren Zweigen zu befassen. Redner erwähnte unter anderem nur noch Brenner zum Aufblasen ver- schlackter Hochofenöffnungen. Letzteren Zweig aller- dings wird die Firma wohl über kurz oder lang zu betätigen haben. Aber ~ daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, die Fabrikation nicht ins Uferlose
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