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kann man wohl sagen: der letzte Dienstag brachte
uns Außerordentliches. Angeregt durch den vorher-
gehenden Bericht des Herrn Dr. Sack, welcher über das
Zeißwerk in Jena sprach, hatte sich Herr Bernhard
Dräger bereit finden lassen, über seine Fabrik, seine
Erfindungen und seine Arbeiterverhältnisse zu berichten.
Jeder, der ihm zugehört, ist dankbar für den be-
reiteten Genuß. Wir wissen freilich alle, daß der
Sauerstosf zum Leben, zum Brennen und zum
Gedeihen notwendig ist, aber in welch vielfacher
Weise er heutigentags gebraucht wird, das hat man
doch nicht so recht geahnt, wenn man nicht gerade mitten
im industriellen Leben steht. „„Eine neue Industrie
kann aber," wie der Vortragende begann, „niemals
gedeihen, noch zu einer Größe gelangen, wenn sie
nicht von volkswirtschaftlicher oder kultureller Be-
deutung wird.“ Die Sauerstoffindustrie ist aber seit
einigen Jahren in rapidem Wachstum begriffen. Die
wirtschaftliche Nutzbarmachung des Sauerstoffes er-
fordert wiederum die fabrikmäßige Herstellung vielerlei
Apparate, die bei seiner Verwendung erforderlich
sind. Trotz der noch jungen Industrie aber hat die
Anwendung des Gases schon eine lange Vorgeschichte,
wie der Redner durch Vorzeigen älterer französischer
und englischer Bücher bewies. Aber erst die Kohlen-
säureverwendung mit ihren Stahlzylindern half
auch der Sauerstoffindustrie rasch zu kräftiger Ent-
wicklung empor. Man darf wohl, ohne Widerspruch
zu finden, aussprechen, daß die beiden Dräger, Vater
und Sohn, die Bedeutung des komprimierten Sauer-
stoffes rechtzeitg erkannten und keine Mühe und
Arbeit scheuten, aber auch durch langwierige und kost-
spielige Versuche schließlich zum Erfolge gelangten.
Während die Fabrik noch im Jahre 1900 die
Massenherstelung von Armaturen für Bierdruck-
und Mineralwasserapparate betrieb, stellt sie gegen-
wärtig nur noch Sauersstoffinstrumente her. Der
Erfindung des „Finimeters“ folgten bald andere
Konstruktionen. Das Finimeter hat eigentlich erst
den Gebrauch des Sauerstoffzylinders populär ge-
macht, wie Berichterstatter aus ureigenster Er-
fahrung bezeugen kann. Denn es ist ein übel
Ding, einen Vortrag mit Lichtbildern und Kalk.
beleuchtung zu beginnen, ohne über den Sauer-
stoffvorrat orientiert zu sein! Alles lauscht dem
Redner und bewundert seine aus fernen Gegenden
mitgeführten prachtvollen Projektionsansichten. Plötz-
lich werden sie blaß, dunkel und verschwinden ganz,
der Sauerstoff im Zylinder ist alle! Das Finimeter,
leicht und kompendiös gebaut, dennoch ganz zuver-
lässig, belehrt den Redner stets über den Vorrat
in der Stahlflasche. Sein ,Druckreduzierventil“
(weitere Drägersche Erfindung) gestattet ihm, die
unter dem Drucke von 125 Atmosphären gebändigten
Gase aus dem Innern der Stahlflasche mit ! , 1/z
oder ähnlichem brauchbaren Drucke heraus und die
Kalkplatte der Drummondlampe umspielen zu lassen.
Die Brenner Jelbst verbesserten Drägers natürlich
auch erst, so daß man sie heute fast gänzlich unge-
übten Händen ohne Gefahr überlassen kann. Leider
sahen beide Fabrikanten ihre Sauerstoffflaschen oft
zum Teil geleert hier ankommen, weil die Flaschen-
ventile nicht dem ungeheuren Drucke (ungefähr 15
mal so stark als im Kessel einer modernen Dampf-
maschinel) nicht genügend Widerstand leisten konnten.
Nichts lag näher, als erst mal brauchbare Versschlüsse
zu schaffen. Obgleich hier technische Schwierigkeiten
mancherlei Art zu überwinden, die an andere Kon-
struktionen gewöhnten Konsumenten erst für die neue
Form zu gewinnen und neidische Konkurrenten zu
besiegen waren, bahnte sich das Drägersche Fabrikat
bald seinen Siegesweg.
Dann wandten sich die Fabrikanten der Her-
stellung von Narkoseapparaten zu. Daß Redner
monatelang die mechanischen und physiologischen
Vorgänge des Atmens studierte, sich mit Ärzten in
Verbindung setzte und manchen Operationen beiwohnen
mußte, um das richtig zu erfassen, worauf es später
ankommen mußte, verschwieg Herr Dräger in seiner
Bescheidenheit. Den Narkoseapparat, der von jeder
Krankenschwester bedient werden kann, führte Redner
vor. Das Auditorium war imstande, den Tropfen-
fall des Chloroforms und Äthers deutlich zu hören,
jenachdem das Ventil mehr geöffnet oder abgekniffen
wurde. Ein JInhalationsapparat, der Sauerstoff-
Koffer, Schweißapparate, um Stahlzylinder ohne
Nat aneinanderzufügen, Überdruckoperationsvorrich-
tungen, die eine L ffnung der Brusthöhle gestatten,
und Feuerwehr-Rettungsapparate folgten aufeinander.
Letzgenannte Vorrichtungen sind die in Courrières
unter persönlicher Leitung des Herrn Bernhard
Dräger angewandten, was er uns leider auch wieder
verschwieg. An der Hand der Umsatzzahlen + (ein
Betriebsgeheimnis habe Redner nicht zu verhüllen)
kann man die überwältigende Zunahme des Betriebes
erschen. Die Zahlen stellen sich: 1900 : 3000;
1901 : 7000; 1902 : 20 000; 1903 : 70 000; 1904 :
200000; 1905: 400000; 1906 voraussichtlich
AM 700000!!! Der Sauerstoff wird populär. Das
Eindringen dieser Industrie in Erwerbszweige, die
früher sich nicht träumen ließen, je damit in Verbindung
zu treten (Fischversand), muß Drägers abhalten, sich
mit allen ihren Zweigen zu befassen. Redner erwähnte
unter anderem nur noch Brenner zum Aufblasen ver-
schlackter Hochofenöffnungen. Letzteren Zweig aller-
dings wird die Firma wohl über kurz oder lang zu
betätigen haben. Aber ~ daß die Bäume nicht in den
Himmel wachsen, die Fabrikation nicht ins Uferlose