Full text: Lübeckische Blätter. 1906 ; Verhandlungen der Bürgerschaft. 1906 (48)

500 durch ein besonders zu begründendes Unternehmen zu verwirklichen ist. Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß unsere Tätigkeit im wesentlichen nicht den Allerärmsten und Bedrücktesten zugute kommt. Das mag denen schmerzlich zu hören sein, die von rein philanthro- pischen Gesichtspunkten ausgehen. Ihnen zum Trost sei gesagt, daß wir uns immer wieder, namentlich in den Jugendvereinen, bemühen, auch die unterste Schicht an uns heranzuziehen. Jm allgemeinen aber verlangt die Art und die soziale Natur unserer Arbeit eine gewisse Empfänglichkeit für geistiges und gemütliches Leben, die man bei den wirtschaftlich am tiefsten Stehenden doch nur selten findet. So ist es denn Tatsache geworden, daß gerade der auf- strebende Teil der Arbeiterschaft bei uns verkehrt. Und wir haben die Überzeugung, daß unser Stadt- teil Rothenburgsort der richtige Boden für uns ist. Hier fehlt eine direkt verelendete und entartete Maße, wie sie z. B. in der Gegend der Steinstraße zu finden ist. Ob es noch möglich ist, diese wieder geistig und sittlich zu heben? Wir vermögen es kaum zu glauben. Wer es aber bedauert, daß wir nicht bei den tiefsten Schichten unsere Arbeit eingesezt haben, der verkennt, daß wir nicht nur geben, sondern auch empfangen wollen; er verkennt, daß es nur möglich ist, wenigstens in der Anlage vorhandene Kräfte zu wecken und zu fördern; er verkennt endlich, daß wir nicht eine humane und philanthropische, sondern eine soziale, d. h. gemeinschaftbildende Aufgabe zu lösen haben. Zu dem Zwecke müssen wir uns eben an die Schichten wenden, bei denen der Gemeinsinn Wurzel fassen kann. Dazu gehört eine gewisse Höhe des geistigen und ethischen Zustandes, eine iunere Freiheit und Selbständigkeit, die sich nur bei dem von der unmittelbarsten Not nicht bedrohten, auf- strebenden Teil der Arbeiterschaft findet. Es entspricht im wesentlichen den Tatsachen, wenn wir unsere Besucher schlechtweg als „Arbeiter“ bezeichnen. Unsere Statistik weist das genauer nach. Natürlich können wir die feineren Differenzierungen des eigenen Standesbewußtseins der Arbeiter wohl bis zu einem gewissen Grade nachempfinden, aber nicht mitmachen. Wir dürfen auch wohl von dem Teil der Arbeiter, den der Drang nach Entwicklung seiner geistigen und seelischen Kräfte zu uns führt, verlangen, daß er jeden, den ein gleiches Streben dieselbe Bahn führt, als guten und getreuen Nachbarn ansieht. Je stärker die von uns begründeten Gemein- schaften ihre erziehliche Wirkung äußern, desto mehr wird das Gefühl für das Verpflichtende solcher gemeinsamen geistigen Arbeit sicherlich auch bei den Arbeitern wachsen. Schon zeigt sich bei den älteren „Gehilfen“ das Bestreben, bei der Leitung der Lehrlingsvereine als Ordner, Vorturner und der- gleichen Dienste zu leisten: sicherlich ein freudig zu begrüßender Erweis eines erstarkenden Gemeinsinnes. Bewegt sich die Entwicklung weiter in dieser Rich- tung, wie wir hoffen, so werden wir den begabtesten und charaktervollsten unter diesen Getreuen die Auf- nahme in unseren Mitarbeiterkreis nicht versagen dürfen. Hoffen wir doch auch, daß sich aus diesen tüchtigen jungen Menschen Persönlichkeiten entwickeln werden, denen der Staat Ehrenämter, wie die eines Armen- oder Waisenpflegers, anvertrauen kann. . Im übrigen glauben wir mit unserer bisherigen Organisation das Richtige getroffen zu haben. Wenigstens ist von den Arbeitern der Wunsch, daß ihnen allen die Vereinsmitgliedschaft eröffnet werde, nicht geäußert worden – vielleicht in Erkenntnis dessen, daß jede Mitgliedschaft auch eine Gegen- leistung erfordert, deren pekuniär noch so geringe Bemessung zweifellos manchen ausgeschlossen hätte. Wir selbst verkennen nicht den erziehlichen Wert eines dauernden Geldbeitrages, haben aber eine sachgemäße Normierung als unmöglich erkannt. Zu- dem würde sich das Unternehmen aus etwa gleich- mäßigen kleinen Beiträgen nicht selbst erhalten können: und das spricht entscheidend gegen eine demokratisch-genossenschaftliche Gestaltung. Auch innere Gründe sprechen für Beibehaltung der jezigen Form. Die Praxis zeigt, daß selbst in den größeren Veranstaltungen die Zuhörerschaft eine ziemlich ständige ist, so daß unsere Wirkung intensiv genug sein kann. Und eine Hörerschaft, die lediglich aus Interesse an der Sache zu uns kommt, die das Gefühl vollkommener Freiheit des Besuches hat, ist uns mehr wert, als die papierene Gewißheit einer großen Mitgliederzahl. Dafür, daß uns die Wünsche unserer Besucher nicht unbekannt bleiben, ist gesorgt. Wiederholte eingehende schriftliche Umfragen und persönliche Be- sprechungen im kleineren Kreise haben uns wertvolle Aufschlüsse und Direktiven gegeben. G Bei der persönlichen Art ungerer Tätigkeit wird es einleuchten, daß uns in den Erörterungen und Besprechungen „nichts Menschliches fremd“ bleiben kann. Unser Gedankenaustausch ersstrectt sich auf alle Gebiete des Wisssens und des Lebens, und es ist nur natürlich, wenn wir die Fragen, die dem Arbeiter praktish am nächsten stehen, die freilich auch von vornherein der abweichendsten Beurteilung sicher waren % die sozialpolitischen und die Welt- anschauungsfragen ~ nicht umgangen, sondern sie unverzagt angepackt haben. Dagegen haben wir, wenn anders wir wirklich absichtslose persönliche
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