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durch ein besonders zu begründendes Unternehmen
zu verwirklichen ist.
Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß unsere
Tätigkeit im wesentlichen nicht den Allerärmsten und
Bedrücktesten zugute kommt. Das mag denen
schmerzlich zu hören sein, die von rein philanthro-
pischen Gesichtspunkten ausgehen. Ihnen zum Trost
sei gesagt, daß wir uns immer wieder, namentlich
in den Jugendvereinen, bemühen, auch die unterste
Schicht an uns heranzuziehen. Jm allgemeinen
aber verlangt die Art und die soziale Natur unserer
Arbeit eine gewisse Empfänglichkeit für geistiges und
gemütliches Leben, die man bei den wirtschaftlich
am tiefsten Stehenden doch nur selten findet. So
ist es denn Tatsache geworden, daß gerade der auf-
strebende Teil der Arbeiterschaft bei uns verkehrt.
Und wir haben die Überzeugung, daß unser Stadt-
teil Rothenburgsort der richtige Boden für uns ist.
Hier fehlt eine direkt verelendete und entartete Maße,
wie sie z. B. in der Gegend der Steinstraße zu
finden ist. Ob es noch möglich ist, diese wieder
geistig und sittlich zu heben? Wir vermögen es
kaum zu glauben.
Wer es aber bedauert, daß wir nicht bei den
tiefsten Schichten unsere Arbeit eingesezt haben, der
verkennt, daß wir nicht nur geben, sondern auch
empfangen wollen; er verkennt, daß es nur möglich
ist, wenigstens in der Anlage vorhandene Kräfte zu
wecken und zu fördern; er verkennt endlich, daß wir
nicht eine humane und philanthropische, sondern eine
soziale, d. h. gemeinschaftbildende Aufgabe zu
lösen haben. Zu dem Zwecke müssen wir uns eben
an die Schichten wenden, bei denen der Gemeinsinn
Wurzel fassen kann. Dazu gehört eine gewisse Höhe
des geistigen und ethischen Zustandes, eine iunere
Freiheit und Selbständigkeit, die sich nur bei dem
von der unmittelbarsten Not nicht bedrohten, auf-
strebenden Teil der Arbeiterschaft findet.
Es entspricht im wesentlichen den Tatsachen,
wenn wir unsere Besucher schlechtweg als „Arbeiter“
bezeichnen. Unsere Statistik weist das genauer nach.
Natürlich können wir die feineren Differenzierungen
des eigenen Standesbewußtseins der Arbeiter wohl
bis zu einem gewissen Grade nachempfinden, aber
nicht mitmachen. Wir dürfen auch wohl von dem
Teil der Arbeiter, den der Drang nach Entwicklung
seiner geistigen und seelischen Kräfte zu uns
führt, verlangen, daß er jeden, den ein gleiches
Streben dieselbe Bahn führt, als guten und getreuen
Nachbarn ansieht.
Je stärker die von uns begründeten Gemein-
schaften ihre erziehliche Wirkung äußern, desto mehr
wird das Gefühl für das Verpflichtende solcher
gemeinsamen geistigen Arbeit sicherlich auch bei den
Arbeitern wachsen. Schon zeigt sich bei den älteren
„Gehilfen“ das Bestreben, bei der Leitung der
Lehrlingsvereine als Ordner, Vorturner und der-
gleichen Dienste zu leisten: sicherlich ein freudig zu
begrüßender Erweis eines erstarkenden Gemeinsinnes.
Bewegt sich die Entwicklung weiter in dieser Rich-
tung, wie wir hoffen, so werden wir den begabtesten
und charaktervollsten unter diesen Getreuen die Auf-
nahme in unseren Mitarbeiterkreis nicht versagen
dürfen. Hoffen wir doch auch, daß sich aus diesen
tüchtigen jungen Menschen Persönlichkeiten entwickeln
werden, denen der Staat Ehrenämter, wie die eines
Armen- oder Waisenpflegers, anvertrauen kann. .
Im übrigen glauben wir mit unserer bisherigen
Organisation das Richtige getroffen zu haben.
Wenigstens ist von den Arbeitern der Wunsch, daß
ihnen allen die Vereinsmitgliedschaft eröffnet werde,
nicht geäußert worden – vielleicht in Erkenntnis
dessen, daß jede Mitgliedschaft auch eine Gegen-
leistung erfordert, deren pekuniär noch so geringe
Bemessung zweifellos manchen ausgeschlossen hätte.
Wir selbst verkennen nicht den erziehlichen Wert
eines dauernden Geldbeitrages, haben aber eine
sachgemäße Normierung als unmöglich erkannt. Zu-
dem würde sich das Unternehmen aus etwa gleich-
mäßigen kleinen Beiträgen nicht selbst erhalten
können: und das spricht entscheidend gegen eine
demokratisch-genossenschaftliche Gestaltung.
Auch innere Gründe sprechen für Beibehaltung
der jezigen Form. Die Praxis zeigt, daß selbst in
den größeren Veranstaltungen die Zuhörerschaft eine
ziemlich ständige ist, so daß unsere Wirkung intensiv
genug sein kann. Und eine Hörerschaft, die lediglich
aus Interesse an der Sache zu uns kommt, die das
Gefühl vollkommener Freiheit des Besuches hat, ist
uns mehr wert, als die papierene Gewißheit einer
großen Mitgliederzahl.
Dafür, daß uns die Wünsche unserer Besucher
nicht unbekannt bleiben, ist gesorgt. Wiederholte
eingehende schriftliche Umfragen und persönliche Be-
sprechungen im kleineren Kreise haben uns wertvolle
Aufschlüsse und Direktiven gegeben. G
Bei der persönlichen Art ungerer Tätigkeit wird
es einleuchten, daß uns in den Erörterungen und
Besprechungen „nichts Menschliches fremd“ bleiben
kann. Unser Gedankenaustausch ersstrectt sich auf
alle Gebiete des Wisssens und des Lebens, und es
ist nur natürlich, wenn wir die Fragen, die dem
Arbeiter praktish am nächsten stehen, die freilich
auch von vornherein der abweichendsten Beurteilung
sicher waren % die sozialpolitischen und die Welt-
anschauungsfragen ~ nicht umgangen, sondern sie
unverzagt angepackt haben. Dagegen haben wir,
wenn anders wir wirklich absichtslose persönliche