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Die Novizen leisten das Gelübde der Keuschheit und
des Gehorsams, nicht aber, wie sonsst vielfach, das
der Armut, bleiben also vermögensfähig und sind
deshalb steuerpflichtig. Die Leitung liegt in den
Händen einer Meisterin und zweier bürgerlicher
Vorsteher. Letztere verwalten das Vermögen der
Anstalt. Der Meisterin, die zur Annahme der Wahl
verpflichtet ist, steht die Aufsicht zu. Sie hat die
Hausschlüssel zu verwahren, die Schwestern zu guten
Sitten anzuhalten und Unziemendes zu bestrafen.
Die Schwestern schulden ihr Gehorsam. Sie be-
dürfen ihrer Erlaubnis, wenn sie ausgehen wollen.
Keine soll „sunder kumpan“ ausgehen. Die Be-
gleiterin wird von der Meisterin ausgewählt ; sie
soll „der jungen ene olde’ mitgeben. Auch Kranken-
besuche sollen nur mit Wissen der Meisterin und
zu zweien gemacht werden. Keine Begine darf sich
solo auf der Straße blicken lassen. Abends um 7
Uhr, Fasstnachtsabend schon um 4 Uhr, wird der
Konvent geschlossen; längeres oder völliges Aus-
bleiben ist den Schwestern nur mit Erlaubnis der
Meisterin gestattet. Ihren Besuch können sie bis
9 Uhr bei sich behalten. Bricht eine Schwester ihr
Gelübde, so wird sie ausgeschlossen, ebenso, wenn
sie stiehlt, die Meisterin verhöhnt und einer Schwester
übles nachredet. FJn allen diesen Fällen verfällt das
von ihr Eingebrachte dem Konvent. Ausgetretene
wie Ausgestoßene dürfen die Tracht nicht weiter
tragen. Den Schwestern ist weiterer Verkehr mit
ihnen verboten. Besondere religiöse Pflichten, Gebets-
pflichten, hatten sie nicht, mußten jedoch Liebeswerke
verrichten, Kranke besuchen und pflegen. Ihre Tracht
bestand aus einem Gewand von braunem, schwarzem
oder blauem Wollstoff, einer weißleinenen Kapuze und
einem weißen Schleier, über die beim Ausgehen noch
ein schwarzes Wolltuch geschlagen wurde. Der
Konvent gab ihnen freie oder doch überaus billige
Wohnung, Holz, Kohlen, Licht und Wäsche, je nach
seinen Mitteln. Die Wohnung bestand in der
Regel aus einer gemeinsamen Wohnstube und be-
sonderen Schlafkammern. Reichte das Einkommen
des Hauses nicht zur vollen Unterhaltung aller aus,
so wurde die fehlende Summe durch Arbeit, besonders
Leinenweberei, verdient oder aus den privaten Ver-
mögen bestritten oder durch letztwillige Zuwendungen
(jeder Begine einen Schilling) gedectt. So viel von
den Beginenhäusern. Sie sind später stark entartet
und durch die Reformation beseitigt oder in Armen-
häuser verwandelt. Nur in Belgien haben sie sich
bis heute erhalten. Ludwig Richter erzählt in seiner
Selbstbiographie, er habe 1849 zu Brügge einige
Beginen in ihrer eigentümlichen Klostertracht ge-
sehen. 1896 gab es nur noch 15 Höfe mit 1230
Insassen. (Schluß folgt.)
Jahresbericht
des evangelischen Vereinshauses
für 1905,
erstattet in der Versammlung des Verwaltungsrats am
28. Februar 1906 von Senior D. Ranke.
, Herberget gernel“ Diese Mahnung des Apostels
Paulus wurde in der Gründungszeit der christlichen
Kirche treulich befolgt. Vornehmlich war das der
Fall, als in den Tagen der Bekenner und Märtyrer
so viele Christen sich gezwungen sahen, ihre Heimat zu
verlassen. Wo hätten die armen Heimatlosen bleiben
sollen, wenn nicht da und dort Glaubensgenossen
bereit gewesen wären, ihre Herzen und ihre Häuser
für sie aufzutun?
„Herberget gerne!“ Von Anfang an war es einer
der hauptsächlichsten Zwecke unseres Vereinshauses,
durchreisenden Fremden einen stillen und traulichen
Aufenthaltsort zu bieten. Je und je hat man sich
bemüht, diese Aufgabe zu erfüllen und die Gäste
fühlen zu lassen, daß sie willkommen seien. Es ist
das auch im Lause der Jahre von allen oder doch
von fast allen, die bei uns gewohnt haben, dankbar
anerkannt worden. Und doch, eine Erinnerung
an die großen Zeiten der Kirche ist dabei wohl bis
vor kurzem noch niemandem gekommen. Im
Jahre 1905 wurde es anders. Die blutigen Wirren
in Rußland brachten das mit sich. Wer am zweiten
Christtag an der Weihnachtsfeier des Kindergottes-
dienstes von St. Marien teilnahm, die, wie üblich,
im Saale unseres Hauses stattfand, dem bot ssich
ein tiefergreifendes Bild. Da saß an der Seiten.
wand neben dem Harmonium eine ehrwürdige
Matrone. Sie hielt eines ihrer Enkelkinder auf
dem Schoße, während drei andere sich dicht an sie
drängten. Es waren deutsch.russische Flüchtlinge, die,
ganz bescheiden, nur zusehen und zuhören wollten.
Doch sie durften innewerden, daß man sie „gerne
herberge." Helle Freude strahlte aus den Augen
der Kleinen, als. sie bei der Bescherung, die den
anderen galt, doch auch ihrerseits ein Büchlein und
einen Kuchen empfingen. Mit warmem Händedruck
dankte die Großmutter für die an sich geringfügige,
ihrem Herzen aber so besonders wohltuende Auf-
merksamkeit. Einer ganzen Anzahl solcher deutsch-
russischen Flüchtlinge konnte während des Winters
Gastfreundschaft erwiesen werden. Noch jetzt wohnen
etliche unter unserem Dache. gHZeitenweise füllten
sie alle verfügbaren Räume so, daß andere, die seit
Jahren regelmäßig ihr Absteigquartier bei uns zu
nehmen pflegten, nicht mehr unterkommen konnten.
Manche von den Abgewiesenen beklagten sich darüber.
Doch das darf uns die Freude nicht stören. Es ist