Full text: Lübeckische Blätter. 1906 ; Verhandlungen der Bürgerschaft. 1906 (48)

224 Die Leitung der Erholungsstätte liegt gewöhnlich in der Hand einer Schwester, der das Personal untersteht, bestehend in einer Köchin, zwei Aushilfen und einem Nachtwächter. Überwacht wird der Be- trieb durch einen Vorstand, in dem natürlich die Arzte genügend vertreten sein müssen. Die Auf- gabe dieser Arzte ist aber lediglich die Überwachung des Betriebes vom hygienischen Standpuukt aus; mit der Behandlung der einzelnen Kranken haben sie nichts zu tun, dieselbe verbleibt uneingeschränkt dem Hausarzte. Der Betrieb der Erholungsstätte ist so ein- gerichtet, daß die Kranken morgens zur Anstalt herauskommen und abends wieder uach Hause zurück- kehren. Die Nacht über verbleiben ne in ihrer Wohnung. Mit Rücksicht darauf muß die Lage der Stätte eine solche sein, daß sie nicht allzu fern von der Haltestelle einer elektrischen Bahn liegt. Wege von 10—15 Minuten kann man jedoch erfahrungs- gemäß allen Besuchern zumuten. In dankenswerter Weise haben sich bis jetzt fast überall die Betriebsleitungen der Straßenbahnen zu weitgehenden Preisermäßigungen für die Kranken verstanden. In der Erholungsstätte erhalten die Kranken die volle Verköstigung; zwar ist erstes Frühstück und Abendbrot eigentlich nicht vor- gesehen, allein morgens nach dem Eintreffen und abends vor dem Weggang wird ein kleiner Imbiß gereicht, so daß man praktisch von einer vollen Be- köstigung sprechen kann. Besonderer Wert wird auf reichlichen Milchgenuß gelegt. Die Zeit zwischen den einzelnen Mahlzeiten wird mit Spaziergang, Liegekur, Spielen, event. mit leichter Arbeit nach ärztlicher Vorschrift ausgefüllt Wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, läßt sich bei guter durchschnitt- licher Belegung der Betrieb bei Erwachsenen mit A 11,20, bei Kindern mit M 0,50 0,60 pro Kopf und Tag ohne weiteren Zuschuß durchführen. Was den Kreis der Kranken angeht, die der Erholungsstätte zugewiesen werden können, so kann man ganz allgemein sagen, jeder Kranke kann auf- genommen werden, der imstande ist, den zweimaligen täglichen Weg zwischen der Anstalt und seiner Wohnung zurückzulegen. Die Erfahrung hat ge- lehrt, daß das viel mehr Kranke ohne Schaden fertig bringen, als man gewöhnlich glaubt; selbst schwer Herzkranke nicht ausgenommen. Wiederholt sind ferner in Berlin schwer Tuberkulöse bis einige Tage vor ihrem Tode regelmäßig in der Erholungs- stätte gewesen. Die Mehrzahl der Kranken, welche die bis jezt bestehenden Erholungsstätten besucht haben, waren Tuberkulöse vom leichtesten bis zum schwersten Stadium. Für dieje Kranken bilden die Walderholungsstätten eine wertvolle Ergänzung der Lungenheilstätten. Die Landesversicherungsanstalten die fast allein für die Überweisung der Kranken da- hin in Betracht kommen, müssen sich, wie schon er- wähnt, entsprechend ihren Aufgaben und Befugnissen darauf beschränken, nur solchen Lungenleidenden das Heilverfahren zu gewähren, bei denen dadurch Ver- hütung oder doch wesentliches Hinausschieben der Invalidität zu erhoffen ist, d. h. im wesentlichen den Anfangsstadien. Hier greift die Walderholungsstätte ein; sie nimmt alle Tuberkulösen ohne Unterschied auf, auch die vorgeschrittenen, und entfernt damit diese verderbliche Infektionsquelle wenigstens tags- über aus dem Familienkreise. Außer den Tuber- kulosen finden wir noch sonstige Kranke in den Erholungsstätten: Nerven-, Herz,, Magen-, Darm- kranke, Blutarme, ferner skrophulöse und rhachitische Kinder, Rekonvaleszenten u. dergl. Aber, wird man mir entgegenhalten, ist es nicht gefährlich, Lungenkcranke mit anderen Kranken zu- sammen zu verpflegen, droht diesen nicht die Gefahr der Infektion? Nun, die Erfahrung hat gelehrt, daß das nicht zu befürchten ist. In Berlin, wo man doch sonst in dieser Beziehung unter dem Ein- fluß der Kochschen Schule am vorsichtigsten ist, hat man seit 1900. der Gründung der ersten Erholungs-. stätte, Lungenkranke und andere Kranke immer gemeinsam verpflegt, ohne daß sich daraus irgendein Nachteil ergeben hätte. Im HWalde finden die Tuberkelbazillen keine günstige Gelegenheit zur Weiterverbreitung, sie gehen dort sehr bald zugrunde. Selbstverständlich muß auf strenge Innehaltung der nötigen Vorsichtsmaßregeln geachtet werden, so daß jeder hustende Kranke seine Spuckflasche bekommt und sie auch benutzt, daß Eßgeschirr und Decken numeriert sind, so daß sie immer nur von dem- selben Kranken in Gebrauch genommen werden, und so noch verschiedenes andere. Daß bei genügender Vorsicht, allerdings auch nur dann, der Umgang mit Lungenkranken ungefährlich ist, dafür liefern den besten Beweis die zahlreichen Ärzte an den Lungen- heilanstalten, die mit Hunderten von Lungenkranken in langdauernde Berührung kommen, und doch hat eine jüngst veranstaltete Umfrage ergeben, daß keiner bst rriser durch seinen Beruf an Tuberkulose er- rankt ist. Die Erfolge, die man bisher in den Wald. erholungsstätten erzielt hat, sind recht befriedigende; sie stehen hinter denen der Lungenheilstätten nur wenig zurück. Gewichtszunahmen von sechs, acht, zehn Pfund und noch mehr in wenigen Wochen sind fast als Regel zu bezeichnen, und Hand in Hand damit geht die Hebung der Gesundheit des ganzen Körpers. Wie sehr die Erholungsstätten einem Bedürfnis entgegenkommen, beweist der große Andrang zu denselben, der in Berlin bereits zur
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