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straße, wieder mit der Jakobikirche als Abschluß, ein
Beispiel dafür, wie kleinere Häuser (die Prediger-
häuser) cinen Maßstab bilden für größere Bauwerke,
weiter der Abschluß der Mühlenstraße durch ein
hohes Giebelhaus der Sandstraße und endlich die
Sandsteintreppe und das Portal des Rathauses als
Beispiel dafür, wie das Straßenbild durch Vorbauten
belebt werden kann.
Was ist aus diesen Beispielen zu lernen? Wir
müssen uns von der Herrschaft des Lineals befreien
und müssen zurückkehren zu den alten Grundsätzen.
Gerade jetzt steht ein weiterer Ausbau der Stadt
bevor; was jetzt geschaffen wird, wird zum großen
Teil entscheiden über das Aussehen, das Lübeck
später haben wird. Darum ist es wichtig, sich jetzt
über diese Fragen klar zu sein. Einige Abbildungen
aus dem neuen Lübeck zeigten mit erschreckender
Deutlichkeit, wohin man kommt, wenn man den
„modernen“ Straßen der Großstädte nacheifert.
Der Vortragende schloß seine Ausführungen, indem
er die Hoffnung aussprach, daß das Neuzuschaffende
ut werde.
ß In der sich anschließenden Aussprache wurde
erwähnt, daß immer noch eine starke Gegenströmung
zu bekämpfen sei, die allerdings in der Versammlung
nicht zutage trat. Hingewiesen wurde auf die
Seydlitzsiraße, in der ein Versuch, durch Vorbauten
zu wirken, an der –~ Unfähigkeit ? der betreffenden
Architekten gescheitert ist. Hauptsächlich drehte sich
die Besprechung um das Kanzleigebäude, von dessen
Notwendigkeit sich allmählich immer weitere Kreise
überzeugt haben, und um die Häuser vor der Turm-
front der Marienkirche, die durch ein Geset über
die Verbreiterung von Schüsselbuden und Fünfhausen
der Vernichtung preisgegeben sind. Die Gründe,
die ihre Erhaltung notwendig machen, wurden mit
der wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen.
Hoffentlich läßt sich in diesem Falle der Beschluß
rückgängig machen, seine Ausführung würde sicherlich
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praktischen Rückssichten wegen der dann unvermeid-
[lichen Wirbelwinde müßte die Straße wieder gegen
die Kirche abgeschlossen werden. 547.
.;
in den v. Ticbent a Erinnerungen.
Seit etwa zwei Jahrzehnten wiegen in der
historischen Literatur mehr denn jemals vorher die
Denkwürdigkeiten vor. Und diese Hochflut an Er-
zeugnissen der Memoirenliteratur nimmt noch zu,
erfreulicherweise nicht nur der Menge, sondern
vielleicht in noch höherem Grade dem Werte und
der Bedeutung nach.
î Aus den Erscheinungen nur des letzten Jahres
seien hier angeführt die Tagebücher des Grafen
Ernst Ahasverus Heinrich v. Lehndorf; die von
Herm. Oncken auserwählten Briefe Rudolf v. Bennig-
sens; die Erinnerungen, die Generalfeldmarschall
Freiherr von Loe aus seinem Berufsleben heraus-
gegeben hat; die Notes et Souvenirs de M. Thiers;
das Buch von Verdy du Vernois: im Hauptquartier
der russischen Armee in Polen, 1863-65, und von
Gustav v. Diest, aus der Zeit der Not und Befreiung
Deutschlands in den Jahren 1806015; als die
Perlen dieser ganzen Literatur des letzten Jahres
aber die bekannten drei Bücher des Prinzen Kraft
zu Hohenlohe-Ingelfingen, die Bismarckerinnerungen
des Dr. Freiherrn v. Mittnacht und die Lebens-
erinnerungen von Rudolph v. Delbrück, 1817\67.
Ihnen reiht sich noch kurz vor Jahresschluß der
erste Band eines großangelegten Memoirenwerkes
an, welches an wertvollem Inhalt und politischer
Bedeutung hinter den Werken Hohenlohes, Mittnachts
und Delbrücks schwerlich zurückstehen dürfte. Dieser
Band, der auf 504 Seiten in trefflichster Ausstattung
die Zeit von 1830-68 umfaßt, ist für die gesamte
deutsche und preußische Geschichte, für die Auffassung
Bismarcks in der damaligen Zeit, für die Wirksamkeit
des Nationalvereins von Wichtigkeit; eine wahre
Fundgrube aber in angenehmster Mischung von
Amüsantem und Bedeutendem für die Geschichte
Schleswig.Holsteins.*)
Manchem dürfte die Wiedergabe dessen, was in
dem trefflichen Werke von Lübeck erzählt wird, nicht
unwillkommen sein.
Nachdem Christoph v. Tiedemann in Kiel sein
juristisches Staatsexamen bestanden hatte, ließ er sich
mit 26 Jahren als Advokat zu Segeberg nieder,
woselbst er gleichzeitig dem Landeskomitee des
Nationalvereins als Vertrauensmann für Stadt und
Land Segeberg diente. Drei Monate später fand
im Mai 1862 eine Versammlung des Nationalvereins
zu Lübeck statt, auf welcher der junge Advokat
Miquel kennen lernte: „Miquel hielt einen Vortrag
über die Gegner des Nationalvereinz. Damals,
im Beginne seiner politischen Tätigkeit, hatte er noch
mit einem organischen Fehler zu kämpfen, von dem
man in späteren Jahren nichts ahnte: wie sein
griechischer Kollege Demosthenes stotterte er etwas.
Bei seinem Vortrag in Lübeck fiel dies um so mehr
auf, als vor und ' nach ihm zwei Redner sprachen,
*) Christoph v. Tiedemann: „Aus sieben Jahrzehnten.
Erinnerungen, B. I: Schleswig Holsteinische Erinnerungen."
Leipzig, S. Hirzel, 1905, 8%, XIV und 504 S.