Full text: Lübeckische Blätter. 1905 ; Verhandlungen der Bürgerschaft. 1905 (47)

[ A Üinyrze der Weihnachtsfeier noch frisch und ebendig sind. In der Zeit vor dem Feste kann man manches Mal hören, wie Kinder einander fragen: Wie viele Weihnachten hast du? Eines sucht das andre durch die Zahl der Feiern zu übertrumpfen; und wer nur von einer Feier daheim im Elternhause zu sagen weiß, wird mitleidig angesehen. Ist das ein gesunder Zustand ? Ist es nicht vielmehr das Natürliche, daß das Kind den Begriff der Weihnachtsfeier unmittel- bar mit dem Elternhause verbindet, und daß die ersten Eindrücke des Weihnachtsfestes, die sich dem kindlichen Gemüt einprägen und in ihm fürs ganze Leben haften bleiben, fest mit dem Elternhause ver- knüpft sind? Es ist wahr, wenn ein großer Familien- kreis an demselben Orte wohnt, ist das nicht immer leicht durchzuführen. Aber ich lobe mir jenen Vater, der, als seine Eltern ihn mit seinen Kindern zur Weihnachtsbescherung einluden, ihnen antwortete: „Wollt ihr meinen Kindern etwas bescheren, so nehme ich es dankbar an, aber schickt eure Geschenke bitte zu mir ins Haus; dort, zu Hause haben meine Kinder ihre Weihnachtsbescherung und nirgend sonst." Den Mitgliedern mancher altlübeckischen Familie, wo man gewohnt ist, schon am Tag vor Weihnachts- abend oder noch früher mit den Bescherungen zu beginnen und außer der häuslichen Feier bei den Großeltern, Onkeln, Tanten und wer weiß wo sonst noch, Tag auf Tag zu feiern, erscheint eine solche Auffassung gewiß entseglich kezerisch. Wenn man sie aber unter dem Eindruck des eben verlebten Festes durchdenkt, wird man ihr die Berechtigung nicht ab- sprechen können. Und gewiß ist schon mancher, der durch besondere Verhältnisse genötigt war, sich aus- nahmsweise auf die häusliche Feier zu beschränken, zu derselben Erkenntnis gekommen. Jmmerhin sind diese verschiedenen Weihnachtsbescherungen im er- weiterten Familienkreise noch lange nicht so schlimm als alle die Weihnachtsfeiern in den Vereinen, bei denen das Weihnachtsfest oft nur den Namen hergibt und von seiner eigentlichen Bedeutung kaum etwas zu merken ist. Wie manche Familie, die gerade in den Festtagen einmal ihre Glieder im eigenen Heim ver- einen könnte, kommt durch diese Vereinsfeiern um ihre schönsten Stunden! Am ersten berechtigt sind die außerhäuslichen Weihnachtsbescherungen noch in den Anstallen, selbst- verständlich in Internaten, die die Familie völlig ersetzen, aber auch in Kleinkinderschulen und Kinder- horten, die doch im Grunde nichts anderes als ein Ersatz für die Familie sind, ein Notbehelf, der bei den heutigen sozialen Verhältnissen nicht entbehrt werden kann. Sehr zu wünschen wäre aber, daß man auch in diesen Anstalten die Kleinen nicht verwöhnt und daß alles vermieden wird, wodurch der Eindruck des Almosens erweckt werden könnte. Die Kleinen müssen sich eben in den Warteschulen und Horten so zu Hause fühlen, daß sie die Gaben annehmen, als ob sie ihnen im Elternhause gespendet würden. Darum muß die Öffentlichkeit ausgeschlossen sein, und nur die unmittelbar zu der Anstalt gehörigen Personen, die den Kindern wohlbekannt sind, sollten an der Feier teilnehmen. Das führt mich endlich auf den wundesten Punkt bei unsrer Art von Weihnachtsfeier, die öffentlichen Bescherungen. Goldene Worte hat darüber vor kurzem in der Täglichen Rundschau ein Freund der Armen geschrieben. Auch in Lübeck verdienten die von ihm ausgessprochenen Gedanken ernstlich erwogen zu werden. Es ist ja keine Frage, daß in unsrer Stadt ein großer Wohl. tätigkeitssinn herrscht und gerade zu Weihnacht sich glänzend betätigt. Wer kann all die Vereine, Näh- abende und Kränzchen zählen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, zu Weihnachten arme Familien zu erfreuen! Und nichts liegt mir ferner, als das zu tadeln oder auch nur eingeschränkt zu wünschen. Gewiß ist es auch anerkennenswert, wenn man diesen Sinn schon in der Jugend weckt und pflegt, und wenn die Kinder in den höheren Schulen angehalten werden, der Armen zu gedenken und frühe sich im Wohltun zu üben. Aber, rufe ich mit dem Freund der Armen in der Täglichen Rundschau: ihr Be- scherenden, schont das Ehrgefühl der armen Kinderl! Durch die öffentlichen Bescherungen wird es nur zu leicht getötet. Jeder Mensch mit normalem sittlichen Empfinden sträubt sich dagegen, Almosen zu heischen und anzunehmen. Diesen köstlichen Stolz Follten wir hegen und pflegen; denn wenn er geschwunden ist, hat der Mensch im Lebenskampf eine starke Waffe eingebüßt. Wenn wir die Kinder daran gewöhnen, vor vielen Augen Almosen zu empfangen, dann erziehen wir ein Geschlecht, daß alles von andern, nichts von eigner Kraft erhofft. Sie werden wie einst rufen: panem et circenses. Schon jetzt macht sich auch in unserer Stadt vielfach dieser Schade fühlbar. Manche Mütter, z. T. mit ihren Kindern, verstehen sich darauf, sich nicht nur bei einer, sondern bei verschiedenen Bescherungen anzu- bringen, während andere, die es viel nötiger hätten und auch viel würdiger wären, unberücksichtigt bleiben. Haben die Kinder erst einmal an so einer öffentlichen Bescherung teilgenommen und die edle Scham, die sie zunächst dabei beseelt, überwunden, da wird es ihnen leicht, auch außerhalb der Weihnachtszeit zu betteln. Wäre es nicht viel besser, wenn die Kinder wohlhabender Eltern angeregt würden, arme Kinder in ihrer Wohnung aufzusuchen und dort ohne viel Aufsehen ihre Gaben zu überreichen? So würde [1 |] | 1
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