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Üinyrze der Weihnachtsfeier noch frisch und
ebendig sind.
In der Zeit vor dem Feste kann man manches
Mal hören, wie Kinder einander fragen: Wie viele
Weihnachten hast du? Eines sucht das andre durch
die Zahl der Feiern zu übertrumpfen; und wer nur
von einer Feier daheim im Elternhause zu sagen
weiß, wird mitleidig angesehen. Ist das ein gesunder
Zustand ? Ist es nicht vielmehr das Natürliche, daß
das Kind den Begriff der Weihnachtsfeier unmittel-
bar mit dem Elternhause verbindet, und daß die
ersten Eindrücke des Weihnachtsfestes, die sich dem
kindlichen Gemüt einprägen und in ihm fürs ganze
Leben haften bleiben, fest mit dem Elternhause ver-
knüpft sind? Es ist wahr, wenn ein großer Familien-
kreis an demselben Orte wohnt, ist das nicht immer
leicht durchzuführen. Aber ich lobe mir jenen Vater,
der, als seine Eltern ihn mit seinen Kindern zur
Weihnachtsbescherung einluden, ihnen antwortete:
„Wollt ihr meinen Kindern etwas bescheren, so
nehme ich es dankbar an, aber schickt eure Geschenke
bitte zu mir ins Haus; dort, zu Hause haben meine
Kinder ihre Weihnachtsbescherung und nirgend sonst."
Den Mitgliedern mancher altlübeckischen Familie,
wo man gewohnt ist, schon am Tag vor Weihnachts-
abend oder noch früher mit den Bescherungen zu
beginnen und außer der häuslichen Feier bei den
Großeltern, Onkeln, Tanten und wer weiß wo sonst
noch, Tag auf Tag zu feiern, erscheint eine solche
Auffassung gewiß entseglich kezerisch. Wenn man
sie aber unter dem Eindruck des eben verlebten Festes
durchdenkt, wird man ihr die Berechtigung nicht ab-
sprechen können. Und gewiß ist schon mancher, der
durch besondere Verhältnisse genötigt war, sich aus-
nahmsweise auf die häusliche Feier zu beschränken,
zu derselben Erkenntnis gekommen. Jmmerhin sind
diese verschiedenen Weihnachtsbescherungen im er-
weiterten Familienkreise noch lange nicht so schlimm
als alle die Weihnachtsfeiern in den Vereinen, bei
denen das Weihnachtsfest oft nur den Namen hergibt
und von seiner eigentlichen Bedeutung kaum etwas zu
merken ist. Wie manche Familie, die gerade in den
Festtagen einmal ihre Glieder im eigenen Heim ver-
einen könnte, kommt durch diese Vereinsfeiern um
ihre schönsten Stunden!
Am ersten berechtigt sind die außerhäuslichen
Weihnachtsbescherungen noch in den Anstallen, selbst-
verständlich in Internaten, die die Familie völlig
ersetzen, aber auch in Kleinkinderschulen und Kinder-
horten, die doch im Grunde nichts anderes als ein
Ersatz für die Familie sind, ein Notbehelf, der bei
den heutigen sozialen Verhältnissen nicht entbehrt
werden kann. Sehr zu wünschen wäre aber, daß man
auch in diesen Anstalten die Kleinen nicht verwöhnt
und daß alles vermieden wird, wodurch der Eindruck
des Almosens erweckt werden könnte. Die Kleinen
müssen sich eben in den Warteschulen und Horten
so zu Hause fühlen, daß sie die Gaben annehmen,
als ob sie ihnen im Elternhause gespendet würden.
Darum muß die Öffentlichkeit ausgeschlossen sein,
und nur die unmittelbar zu der Anstalt gehörigen
Personen, die den Kindern wohlbekannt sind, sollten
an der Feier teilnehmen. Das führt mich endlich
auf den wundesten Punkt bei unsrer Art von
Weihnachtsfeier, die öffentlichen Bescherungen. Goldene
Worte hat darüber vor kurzem in der Täglichen
Rundschau ein Freund der Armen geschrieben. Auch
in Lübeck verdienten die von ihm ausgessprochenen
Gedanken ernstlich erwogen zu werden. Es ist ja
keine Frage, daß in unsrer Stadt ein großer Wohl.
tätigkeitssinn herrscht und gerade zu Weihnacht sich
glänzend betätigt. Wer kann all die Vereine, Näh-
abende und Kränzchen zählen, die sich zur Aufgabe
gemacht haben, zu Weihnachten arme Familien zu
erfreuen! Und nichts liegt mir ferner, als das zu
tadeln oder auch nur eingeschränkt zu wünschen.
Gewiß ist es auch anerkennenswert, wenn man diesen
Sinn schon in der Jugend weckt und pflegt, und
wenn die Kinder in den höheren Schulen angehalten
werden, der Armen zu gedenken und frühe sich im
Wohltun zu üben. Aber, rufe ich mit dem Freund
der Armen in der Täglichen Rundschau: ihr Be-
scherenden, schont das Ehrgefühl der armen Kinderl!
Durch die öffentlichen Bescherungen wird es nur zu
leicht getötet. Jeder Mensch mit normalem sittlichen
Empfinden sträubt sich dagegen, Almosen zu heischen
und anzunehmen. Diesen köstlichen Stolz Follten
wir hegen und pflegen; denn wenn er geschwunden
ist, hat der Mensch im Lebenskampf eine starke
Waffe eingebüßt. Wenn wir die Kinder daran
gewöhnen, vor vielen Augen Almosen zu empfangen,
dann erziehen wir ein Geschlecht, daß alles von
andern, nichts von eigner Kraft erhofft. Sie werden
wie einst rufen: panem et circenses. Schon jetzt
macht sich auch in unserer Stadt vielfach dieser
Schade fühlbar. Manche Mütter, z. T. mit ihren
Kindern, verstehen sich darauf, sich nicht nur bei
einer, sondern bei verschiedenen Bescherungen anzu-
bringen, während andere, die es viel nötiger hätten
und auch viel würdiger wären, unberücksichtigt bleiben.
Haben die Kinder erst einmal an so einer öffentlichen
Bescherung teilgenommen und die edle Scham, die
sie zunächst dabei beseelt, überwunden, da wird es
ihnen leicht, auch außerhalb der Weihnachtszeit zu
betteln. Wäre es nicht viel besser, wenn die Kinder
wohlhabender Eltern angeregt würden, arme Kinder
in ihrer Wohnung aufzusuchen und dort ohne viel
Aufsehen ihre Gaben zu überreichen? So würde
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