Auszugꝰ
Fahresbericht der Handelstammer zu Lübeck
uüber das Jahr 1913.
.,
Wirtschaftliche Ubersicht.
Mach vier Jahren aufsteigender Entwicklung der Weltwirtschaft, die im
Vorjahre zeitweise den Charalter einer Hochkonjunktur angenommen hatte,
brachte das Jahr 1913 sehr bald die Gewißheit, daß der Höhepunkt der Auf⸗
wärtsbewegung erreicht sei. Allerdings verlief das Berichtsjahr noch im
großen und ganzen für Handel, Industrie, Landwirtschaft und Schiffahrt der
maßgebenden Länder in angespannter, wenn auch nicht überall entsprechend
fruchtbarer Tätigkeit. In der zweiten Hälfte des Jahres machte sich indessen
in verschiedenen ausschlaggebenden Wirtschaftszweigen und zwar zuerst auf dem
Eisenmarkt, fortschreitend eine Abspannung bemerkbar, die im letzten Vierteljahr
die unverkennbaren Zeichen eines ernsthaften Konjunkturrückganges trug.
In erster Linie war es die dauernde Gesfahr politischer Verwickelungen
und die zeitweise direkt kritische Lage der internationalen Politik, welche eine
mehr als vorübergehende Erschlaffung der Unternehmungslust zur Folge haben
mußte. Vor allem hielten die kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan die
Welt in Spannung; die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den vier
vordem verbündeten Balkanstaaten enthüllte, ebenso wie schon zu Anfang des
Jahres während des ersten Balkankrieges, tiefgreifende Interessengegensätze
zwischen den beiden Gruppen der europäischen Großmächte, die angesichts
der umfassenden militärischen Bereitschaft OsterreichUngarns und Rußlands
mehrfach unmittelbar für den Bestand des Weltfriedens fürchten ließen und
noch weit über die Mitte des Jahres hinaus schwer auf der gesamten Kultur⸗
welt lasteten. Längere Zeit wirkte außerdem von jenseits des Ozeans der
Burgerkrieg in Mexiko mit der Möglichkeit einer Intervention der Ver—
einigten Staaten beunruhigend auf die Stimmung des Weltmarktes. Infolge—
dessen kam der fast allseitig sehr befriedigende, teils, wie in Nordamerika,
sogar glänzende Ausfall der Ernte in seiner anregenden Wirkung nur sehr ab⸗
geschwächt zur Geltung und konnte das Abflauen der allgemeinen Wirtschafts⸗
iage zwar verlangsamen, aber nicht aufhalten.
In Deutschland konnte sich die günstige Konjunktur auf beinahe allen
Gebieten des Erwerbslebens bis in die zweite Jahreshälfte hinein behaupten,
wozu die gute Ernte des Vorjahres und die damit gegebene Kräftigung der
heimischen Landwirtschaft nicht unwesentlich beigetragen haben dürfte. Ander—
seits bewirkte die dauernde außergewöhnliche Anspannung des Geldmarktes
einen allmählich sich verschärfenden Rückgang in der Aufnahmefähigkeit des
Inlandsmarktes. Zunöchst war es das ganze Baugewerbe, das unter der
Geldnot zu leiden hatte, dann aber griff die rückläufige Bewegung, die natürlich
alsbald in gedrückter Preislage zum Ausdruck kam, sehr bald auf weitere Kreise
von Handel und Industrie über und erfaßte besonders auch die Schwerindustrie.
Die letztere hatte auf dem heimischen Markt mit steigenden Absatzschwierig—
keiten zu kämpfen und war deshalb genötigt, auf Kosten des Ertrages für
einen immer größeren Rest der in den letzten Jahren bedeutend erweiterten
und auch durch keine schweren Arbeitskämpfe beeinträchtigten Produktion auf
dem Weltmarkt Unterkunft zu suchen. Der Handel blieb bei dieser Lage der
Dinge zwar durchgehends lebhaft beschäftigt und erzielte in einzelnen Zweigen,
insbesondere im Auslandsverkehr, sogar größere Umsätze, ohne daß jedoch sein
Nutzen in demselben Maße gestiegen wäre. Für die Seeschiffahrt brachte das
Berichtszjahr nach dem so erfreulichen Aufschwung des letzten Jahres ebenfalls
die aufsteigende Konjunktur zum Stehen und dann in seinem weiteren Verlauf,
in erster Reihe für die freie Schiffahrt, einen Rückgang, der sich in der
weichenden Tendenz des Frachtenmarktes widerspiegelt; immerhin wird die
deutsche Schiffahrt mit dem Ergebnis des Jahres durchweg noch recht zu—
krieden sein können.
In der Wirtschaftsstatistik findet diese eigenartige Lage des deutschen
Erwerblebens im abgelaufenen Jahr ihren. sichtbaren Ausdruck, insofern einer
größeren Lebhaftigkeit des Warenverkehrs, insbesondere im Export, keine ent⸗
sprechende Steigerung der Produktion und des Nutzens gegenübersteht, in
dieser Hinsicht vielmehr ein Rückschritt in einigen Zweigen der heimischen
Vollkswirtschaft deutlich wird. Als charakteristische Tatsache ist hervorzuheben,
daß im deutschen Außenhandel lediglich die Aussuhr eine Steigerung aufweist;
sie stieg dem Werte nach in den ersten 10 Monaten des Jahres um 15,2 v. H.,
gegenüber den Ziffern des Jahres 1911 vergleichsweise um 25,6 v. H.,
während die Einfuhr, ebenfalls gemessen am Werte des Spezialhandels ohne Edel—⸗
metalle, in den ersten 10 Monaten des Jahres sogar um ein geringes, nämlich
um 060,3 v. H. abnahm, weil die beiden letzten reichlichen Inlandsernten den
Bedarf an fremdem Bro und Futtergetreide im verslossenen Jahr erheblich
herabgemindert hanen. Der Wred des deutschen Gesamteigenhandels wird
in diesem Jahr die 22. Milliarde überschritten haben, belief er sich doch
im Jahre 1912 bereits auf 21256 Millionen Mark und im Jahre 1911 auf
19 161 Millionen Mark. Die Steigerung der Einnahmen aus dem Güter—
derkehr der deutschen Eisenbahnen erreichte in der Zeit bis Ende Ottober
mit 48 d. H. bei weitera nicht das Ausmaß des Vorjahres. Auf dem Arbeits-
markt überstieg das Angebot von Kräften in den einzelnen Monaten sast
ausnahmslos das des Vorjahres. Der Beschäftigungsgrad in der gewerblichen
Warenherstellung blieb dauernd hinter den vorjährigen Ziffern zurück, und die
Zahl der gewerblich Beschäftigten stieg nur langsam von Januar bis Oktober
don 6,47 Millionen auf 5,66 Millionen. Die Förderung im deutschen Stein—
kohlenbergbau übertraf dagegen für die ersten 10 Monate die des gleichen
dorjährigen Zeitraums wkederum um 9,0 v. H. Die außerordentliche Steigerung
ber Ausfuhr von Kohlen und Koks, der nur eine verhältnismäßig unwesentliche
Vermehrung der Einsuhr gegenübersteht, läßt indessen klar erkennen, daß jene
Produltionserhöhung auf dem Inlandsmarkt keinesfalls Absatz gefunden hat.
Fin Gleiches gilt auch für die deutsche Roheisengewinnung, die bis Ende
KNovember um weitere 8,6 d. H. zunehmen konnte. Die Versandziffern des
Ztahlwerksverbandes blieben trotz zunehmenden Auslandsanteils für Halbzeug
ind Formeisen in den einzelnen Monaten laufend hinter den entsprechenden
zahlen des vorhergehenden Jahres zurück, und wenn die Gesamtversandziffern des
herbandes bis Ende November trotzdem nur unwesentlich geringer waren
ls die entsprechenden Ziffern des Jahres 1912, so war dies allein den er⸗
öhten Lieferungen für den heimischen Eisenbahnbedarf zu verdanken. Auf
em Geldmarkt blieb die schwierige Lage bis in das letzte Viertel des Jahres
inein unverändert bestehen; die großen Ansprüche, welche Handel und Industrie
unächst noch in unvermindertem Umfange an die Banken stellten, führten bei
er Unsicherheit der politischen Verhältnisse sogar noch zu einer weiteren Ver⸗
härfung der Lage, die im Grundstücksverkehr sich soweit zuspitzte, daß von
iner wirklichen allgemeinen Sypothekennot gesprochen werden muß.: Die
törse legte sich unter diesen Umständen eine weitgehende Zurückhaltung auf.
die Herabsetzung des Reichsbankdiskonts im Oktober und Dezember um je
4 auf 5v. H. bewies zwar, daß eine gewisse Entspannung des Geldmarktes
ch schließlich durchgesetzt hat, doch war dies nur eine Folge der abnehmenden
donjunkturwelle; einen Anreiz zu erhöhter Unternehmungslust trugen die
illigen Geldleihsätze nicht in sich.
Die wirtschaftliche Gesamtlage am Jahresschluß ist nicht derart, daß mit
iner baldigen durchgreifenden Besserung der Verhältnisse gerechnet werden
ann. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß sich ein weiteres Abflauen der
xẽrwerbstätigkeit vorbereitet, wenn dieser Abstieg, auf den maßgebende Wirt⸗
haftszweige sich einzurichten schon im Berichtsjahre begonnen haben, auch
soraussichtlich bei weitem nicht so plötzlich eintreten und so steil abfallen wird,
vie bei dem letzten Konjunkturumschwung. Für das heimische Erwerbsleben
vird daneben noch mit der finanziellen Rückwirkung der Wehrbeitragssteuer
u rechnen sein, die besondere Beachtung verdient, da sie mit schon an sich
zespannten Verhältnissen auf dem Geldmarkt, mit einer weichenden Kon⸗
unktur und entsprechend verringerten Verdienstmöglichkeiten zusammentreffen
vird. Trotz alledem liegt kein Anlaß zu ernstlichen Besorgnissen für das
ommende Wirtschaftsjahr vor. Die allgemeine Lage der Weltwirtschaft und
er deutschen Erwerbstätigkeit ist gesund und läßt hoffen, daß der Rüchschlag,
er sich, bisher durchaus im Rahmen der gewohnten periodischen Auf- und
diederbewegung der Konjunktur hält, ohne größere Störungen überstanden
vird. Diese Hoffnung findet eine gute Stütze in der berechtigten Annahme,
aß die politischen Verhältnisse sich weiter entspannen werden und damit für
das kommende Frühjahr wieder eine leichtere Flüssigkeit der Geldmittel ein⸗
treten wird.
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Für Lübecks Handel, Industrie und Schiffahrt nahm das Berichts-
ahr im allgemeinen einen recht befriedigenden Verlauf. Von einigen
lusnahmen abgesehen, blieb im Handel der Geschäftsgang lebhaft und in der
industrie der Beschäftigungsgrad durchweg zufriedenstellend, wenn sich auch in
er zweiten Hälfte des Jahres der allgemeinen Wirtschaftslage gemäß fast
llgemein eine Abschwächung der Konjunktur einstellte. Dieser Rückgang
ußerte sich bisher vornehmlich in einer Verschlechterung des Verhältnisses
wischen Einstands- und Verkaufspreisen und in einer entsprechenden Ver—⸗
ingerung des Geschäftsgewinnes. In verschiedenen wichtigen Geschäftszweigen
ewirkte die ungünstige Wendung der Konjunktur aber doch schon gegen Schluß
»es Jahres eine erhebliche Verringerung der Nachfrage und damit des Um—⸗
atzes bezw. der Beschäftigung. Im Kleinhandel erwies sich die Kaufkraft durch
»en Fortbestand der Teuerung weiterhin als beeinträchtigt. Anderseits ließ
»er außerordentlich hohe Geldstand eine Belebung der Bautätigkeit auch im
erflossenen Jahr noch nicht zu, das hiesige Baugewerbe lag vielmehr immer
ioch danieder, sodaß auch die daran beteiligten Handels- und Gewerbezweige
jegen normale Jahre eine Einbuße zu verzeichnen hatten. Die Lage der See—
chiffahrt blieb weiterhin günstig, während das Ergebnis in der Binnenschiff-
ahrt im Hinblick auf das sehr mäßige Herbstgeschäft kaum befriedigend genannt
verden kann. *3
Die industrielle Entwicklung Lübecks machte im Jahre 1913 weitere
Fortschritte. Nachdem das Hochofenwerk einen dritten Hochofen gegen
üẽnde des Vorjahres in Betrieb genommen hatte, wurde im Berichtsjahr in
er zur Verwertung der Eisenschlacken angegliederten Zementfabrik mit dem
Zau eines zweiten Drehofens begonnen. Diese Anlage, welche die Zement—
rzeugung des Werkes verdoppeln wird, dürste Anfang März 1914 fertiggestellt
»erden. Ebenfalls in Angriff genommen wurde der Bau einer Kupferhütte,
velche die Rohstoffbeschaffung für die Hochofenanlage auf eine breitere Grund⸗
age stellen soll. Dieser Nebenbetrieb wird voraussichtlich im zweiten Viertel
es nächsten Jahres eröffnet werden.
Die Ausgestaltuung der Überlandzentrale verlief in jeder Beziehung günstig.
im Schluß des Jahres besand sich fast das gesamte Leitungsnetz in den
dreisen Herzogtum Lauenburg, Stormarn und Segeberg in Betrieb, während
»er Bau der Anschlußleitungen im Fürstentum Lübeck Mitte des kommenden
zahres beendet sein wird. In und um Lübeck wurden mit einer weiteren
Anzahl von industriellen Unternehmungen Stromlieferungsverträge abgeschlossen.
fin Teil dieser Anschlüsse kam schon im Berichtsjahre in Benutzung. Zur
deckung des erheblich gestiegenen Bedarfs mußte die Zentrale erweitert werden.
Der im Vorjahr an dieser Stelle erwähnte Bau einer mechanischen Lösch⸗
anlage für Kohlen- und Erzschiffe, die eine Kohlengroßhandelsfirma sich hier
chafft, ist so weit vorgeschritten, daß die Anlage, welche zwei Verladebrücken
nit Greiferbetrieb umfassen soll, voraussichtlich zum 1. April nächsten Jahres
jertig wird. Eine von einer anderen Kohlengroßhandlung erbaute Kokssortier-
instalt kam bereits in der Mitte des Berichtsjahres in Betrieb.
imd —y vorliegende Auszug beschränkt sich auf einen zusammenfassenden Uberblick über die diesjährige allgemeine Wirtschaftslage, über die Lage von Lübecks Handel, Industrie und Schiffahrt
er den Verkehr Lübeds mit den nordischen Ländern sowie serner auf einen Bericht über die wichtigeren Punkte gus der Tätigkeit der Handelskammer im abgelaufenen Jahr. Der vollständige
e der außer einem ausführlicheren Bericht über die Tätigkeit der Handelskanmrmer, nsbesondere auch die Berichte über den Geschäftsgang in den einzelnen Zweigen von Lübecs Handel,
ndustrie und Schissahrt enthält, erscheint in den nächssen Tagen und if durch die Handelskammer zu beziehen.
Lübed, den 27. Tezember 1913 Die Handelskammer.