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Amtsblatt der freien und Hansestadt Lübeck 163. Jahrgan
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Ausoo
Dienstag, den 23. Dezember 19153.
Abend⸗Blatt Ur. 649.
Erstes Blatt. hierzu 2. Blatt
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Umsang der heutigen Nummer 6 Seiten.
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Nichtamtlicher CelI.
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Eine Unterredung mit Geheimrat
*
Kießer.
Von Auel Riple.
Der Herausgeber der bekannten nationalliberalen Zeit—
schrift Panther, Axel Ripke, hat in Angelegenheit der Frage des
Arbeitswilligenschutzes eine Unterredung mit dem Vorsitzenden
des Hansabundes gehabt. Wir geben seine Ausführungen, die
m Panther erlschienen, mit besonderer Erlaubnis auch hier
rieder:
Da ich in der Ortktsgruppe Görlitz des Hansabundes einen
Vortrag zu halten hatte, in dem auch die Reformbestrebungen
auf dem Gebiete des Schutzes gegen Streik-Aus—
ichreitungen eine Rolle spielten, so wollte ich mich vorher
genau über die Stellung des Direktoriums zu dieser Frage infor—
mieren; Geheimrat Rießer hatte die Freundlichkeit, perfönlich
mir die Haltung des Hansabundes näher zu begründen. So
hatte ich wieder einmal Gelegenheit, seine reichen Gedanken
und klugen Worte, seine eindringliche Sprache und seinen
lebendigen Blick, kurz den gaunzen Mann, wie wir wenige seines
gleichen haben, auf mich wirken zu lassen; und was er dabei
sagte, ist von viel zu großer Bedeutung. als daß ich seine Worte
den Lesern des Panther vorenthalten könnte. Hier darum seine
Ausfsührungen, so gut ich sie im Gedächtnis behalten habe.
„Aus dem Streit — so ungefähr begann der Geheimrat —
über die Resolutionen des Industrieratkes können Sie wieder
einmal ersehen, in wie hohem Grade das Schlagwort unsere
Defsentlichkeit regiert. Ein Beispiel für viele: Von einzelnen
Berbänden erhielt ich Zuschriften, die gegen die ungeheuerliche
Zumutung des Industrierats protestierten, sie „dem Joche
»es 8 31 BGB. unterwerfen zu wollen“, heiterer
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renen Verbänden, die kraft dieser Tatsache längst diesem
„Joche“ unterworfen waren! Von rechts und links beliebte
man wieder einmal auf den Hansabund loszuschlagen, ohne sich
auch nur die geringste Mühe zu geben, die Berechtigung für
solche Angriffe zu prüfen. Und wäre es das noch allein! Denn
an Angriffe der extremen rechten Seite und der Sozialdemo—
kraten bin ich ja gewöhnt und habe sie mir stets zur Ehre
angerechnet; aber dieses Mal lärmten auch Herren wider den
Sansabund, die doch sonst eher gewohnt waren, mit uns zu—⸗
sammen zu gehen. Von solchen Vertretern der Feder — die ich
nicht erst näüher zu nennen brauchte. Sie kennen lie solhit
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hatte ich es allerdings nicht erwartet, daß sie in jenem Mangel
an Solidaritätsgefühl und Taktik, der von jeher das Unglüd
des deutschen Liberalismus war, noch ehe der Hansa—
bund selbst gesprochen hatte, ihn bereits verurteilen
würden, was ja nur dem gemeinsamen Gegner nützen konnte.
Henn im Grunde war der Lärm gegen diese Resolutionen des
Industrierates n ichts anderes als ein Kampf gegen eingebildete
hespenster, deren Unwirklichkeit jeder erkennen muh'e, der jene
desolutionen genau gelesen hatte. Beschlüsse des Hansa—
»undes kann nämlich ein Fachausschußz niemals zum Ausdrud
zringen, weil er dazu nicht die Ermächtigung besitzt, und sie auch
jar nicht in Anspruch nimmt. Wohl aber kann er — und nun
»as hat der Industrierat getan — Anträge an das Direk
orium stellen, dessen Aeußerungen allein für den Hansabund
»erpflichtend sind. Wer also schon auf die Anträge des Indu—
trierates hin von Beschlüssen des Hansabundes sprach oder
chrieb, der entstellte entweder bewußt die Tatsachen, oder er er⸗
vies sich über die Organisation des Hansabundes überaus wenig
interrichtet.
Das also ist das Erste und Wichtigste; die Resolutionen
»es Industrierats sind, wie er es auch ausdrüdlich betont hatte,
nichts anderes als Anträge oder Vorschläge; erst die Stellung⸗
iahme des Direktoriums bestimmt die programmatische Haltung
des Hansabundes.
Ich kann Ihnen versichern, ich habse mir sehr, sehr lange
ie Anträge des Industrierates durch den Kopf gehen lassen.
Für mich als liberalen Mann bestand allerdings von vornherein
ber die Aufrechterhaltung zweier Grundprinzipien, die auck
inen Teil des Hansabund-Programms bilden und die auch der
zndustrierat in keiner Weise verletzen wollte, kein Zweifel
inmal, daß keine Ausnahmegesestze beantragt werden
Rurften; zum anderen, daß das Koglitionsrecht nich
ingegriffen werden darf. Das muhßte vor allem in der Kund—
zebung des Direktoriumsvom Hansabunde zu klarem und
weifelsfreiem Ausdruck kommen, und das, denke ich, ist deutlich
jsenng geschehen.
Ebensowenig aber konnte das Direktorium des Hansabundes
ugeben, daß die Koalitionsfreiheit der Arbeiter auch ein
decht auf Ausschreitungen einschließt. Daß aber solche
lusschreitungen in der brutalsten Form in zahllosen Fällen vor—⸗
zjekommen sind, kann niemand leugnen, der nicht von Phrasen
ind Schlagworten lebt oder diese Dinge nicht sehen will, weil
ie ihm nicht in den Kram passen.
Nun fragt es sich, wie lassen sich solche Ausschreitungen
am besten bekämpfen; unter Bekämpfung aber verstehe ich,
-sie verhüten. Ein Ausnahmegesetz, wie gesagt, kommt
überhaupt nicht in Betracht, und schwerere Strafen zu be—
antragen, hat niemand Lust oder auch nur ein Interesse.
Die bereits bestehenden Gesetze, das will ich gleich
hinzufügen, genügen — wenn man sie nur richtig anwendet.
Da Ner dies mie gar nicht —lJoußnon itt niöottach schen bere —
— — 2
nicht geschieht, weil die unteren staatlichen Organe über das
bestehende Recht und die Prarxis nicht genau unterrichtet lind,
o muh man zum Schlusse kommen, daß eine Belehrung
zerade der unteren Beamten über das, was ihre Pflicht und
hr Recht gegenüber Streikausschreitungen ist, gerade zur Vesr⸗
zatung von Ausschreitungen dringend vonnöten lei. Ein
Beispiel dafür: Einer meiner Bekannten, ein Fabrilkbesitzer in
Baden, dessen Villa innerhalb seines Fabrikterrains liegt, konnte
mit seiner Familie während dreler Tage und Nächte im Laufe
eines Streiks sein Haus nicht verlassen, nur weil eine johlende
Urbeitermasse seine Fabrik und sämtliche Zugänge und Ausgänge
imstellt hatte. Als er sich telephonisch um Hilfe an die Polizei
vandte, erhielt er den Bescheid, so lange keine Tätlich
rweiten vorgefallen wären, könnte diese nicht eingreifen!
sticht mit Unrecht erwiderte der Fabrikant, wenn er erst tot⸗
zeschlagen sei, werde er kaum mehr telephonieren können, aber
ille seine Bitten blieben umsonst. Noch hundert ähnliche Fälle
önnte ich Ihnen aufzählen, wo die Beamten versagten, aus
Unkenntnis und falscher Auslegung der Gesetze und Verord⸗
rungen oder aus Furcht, bei einem entschlossenen Vorgehen von
den Vorgesetzten eine Rüge zu erhalten. Wer aber auch eine
Belehrung über das bestehende Recht als reakltionär
oerschreit, der setzt sich dem Verdacht aus, dah er auch die An⸗
vendung der heute schon bestehenden Gesetze — ich füge
ausdrucklich nochmals hinzu. dahß diese genlugen — nicht
wünscht. Diese Herren haben aber kein Recht, dem Hansabund
einen Vorwurf zu machen!
Nun weiter: Die nächste Forderung, die das Direktorium
rufgestellt hat und die sich, wie auch die erste mit den Anträgen
des Industrierats decktt, ist die nach einer allgemeinen Beschleu⸗
nigung unseres Gerichtsverfahrens. Ausdrücklich weise ich dar⸗
ruf hin, dah wir eine allgemeine Beschleunigung fordern,
auch der Industrierat hat nichts anderes gewollt. Man braucht
nur an den Ohm⸗Prozeh zu denken, wo die verhafteten Ange⸗
chuldigten 223 Jahre in Untersuchungshaft saßen, ehe ihre
Sache verhandelt wurde, um zu verstehen, wie notwendig eine
Beschleunigung unseres gerich lichen Verlahrens auch im Intere se
der Angeschuldigten ist. Wir haben diese alte Forderung einer
illgemeinen Beschseunigung des Verfahrens in die unzweideutigste
Form gekleidet, damit nicht die verstedten und offenen Feinde
»es Hansabundes auch nur das geringste Recht erhalten, uns des
Wunsches nach einer Ausnahmegesetzgebung zu verdächtigen. Wir
jaben deshalb sogar auch das Wort: Streik⸗Instruktion ge⸗
trichen. Sie werden mir nach alledem zugeben, dah diese beiden
ersten Forderungen des Direktoriums in keiner Weise von
den früheren programmatischen Aeußerungen des Hansabundes
abweichen und dah es sich bei denen, die sogar hier von „Ver⸗
etzung des Koalitionsrechts“ und „Scharfmacherei“ reden, in
der Tat um „blutige Phrasen“ handelt, wie man die
betr. Beschlüusse des „Bundes der technischen industriellen Be⸗
amftfon“ rFonnzeichnet
Tatjana
Roman aus dem Leben Petersburgs
von Hans Becker.
Machdruck verboten)
„Meine liebe Tatijana Alexandrowna, ich habe Ihnen eine
schmerzliche Mitteilung zu machen, aber erschrecken Sie nicht, mein
Kind, wir stehen alle in Gottes Hand, und er, der uns alle be⸗
chirmt und behũtet, wird auch Sie schützen und Sie vor dem lekten
Schredlichen bewahren. Ihr Vater ,——
„Mein Vater, er ist tot?“
„Nein, mein Kind, aber ein Unfall ist ihm zugestoßen, der
chwere Folgen haben kann; er wünscht seine Tochter um sich zu
zaben. Aus Unvorsichtigkeit, aus Absicht, man weiß es nicht, ist
jhr Valer gestern im Walde von einem seiner Bauern durch einen
zchuh verwundet, der Arzt hat telegraphiert und fordert Ihre
ofortige Heimkehr. Eilen Sie, mein Kind, seien Sie dem Kranken,
»em ja keine liebende Gattin mehr zur Seite steht. eine treue
ßzflegerin.“
Sanft küßte sie die still vor sich hin Weinende auf die Stirn
ind ließ sie alsdann durch die im Nebenzimmer weilende Klassen—
ame zurücdbegleiten.
Wenig erinnerte sich Tatjana des weiteren. Weinende Freun⸗
ainnen, schnell gepadte Koffer, „Auf Wiedersehen“, „Auf Wie
ersehen“. „Tatjana, du schreibst“, „Du schreibst bald“, dann ging
s zum Bahnhof. Und nun hatte sie schon die acht Stunden lange
kisenbahnfahrt hinter sich und rollte in klapperndem Tarantaßz den
Jenden, öden Landweg zum heimatlichen Gute hin.
Es dunlelte bereits, als die vier lleinen, struppigen, ermũdeten
Bferdchen mit letzter Anstrengung den Wagen die Rampe zum
ßutshause hinaufschleppten, aber das Gefühl des Geborgenseins,
die Heimat, an der jeder Russe mit unzerstörbarer Liebe,
mit ganzent Herzen hängt, empfing auch sie, als sie aus dem
Wagen stieg, als die alte Dienerin, die schon ihre ersten
zinderschritte bewacht hatte, sie liebevoll in ihre Arme schloß.
hr Stirn und Hände kühte, immer von neuem seanend das
treuzeszeichen machte.
„Was macht mein Vater? Wie geht es meinem Nater? Wo
st er? Führe mich zu ihm.“
„Still, still, mein Täubchen, mein Seelchen, er schläft jetzt.
Tomm nur erst, erhole dich von der garstigen Fahrt, trink ein
Tdäspchen Tee,“ und leise vor sich hinsprechend führte sie die Ge—
rochene, Willenlose ins Haus, ins Zimmer, wo in der Mitte unter
vec Hängelampe der weißagedeckte Tisch mit dem brodelnden
Zantowar stanß
Als sie eintraten, erhob sich von einem Stuhl vor dem
Tisch ein ungefähr fünfundzwanzigjähriger junger Mann mit
stillen, intelligenten Züagen. dunklem Haar. und blieb aufrecht
stehen.
„Ach, Herzchen,“ flüstert die Dienerin, „stört er dich nicht,
der Fremde? Das ist der Gehilfe des Herrn Notars, der hier nach
dem Rechten sieht.“ Und zu dem jungen Manne gewandt, sagte
ie: „Iwan Petrowitsch Nemilow, unsere junge Herrin, Tatjana
Merandrowna, unser liebes Herzchen, das von der Reise ganz
erschlagen ist. Nur schnell, nur schnell, dah unsere Tanischka ein
Däßchen Tee bekommt.“
Echweigend verneigte sich der junge Mann, und währenðd
Tatjana Platz nahm, sagte sie einfach:
„Lassen Sie sich bitte nicht stören.“
Dann versuchte sie, von dem heihßen Tee zu trinken.
Aus dem Untertäßchen ist's ühler,“ beeilte sich die Dienerin,
es dem Fräulein bequem zu machen. „Iwan Petrowitsch verzeiht,
dan wir es uns so häuslich einrichten. Iwan Petrowitsch, bitte,
auch noch ein Gläschen, und du, Herzchen, hier Butter, Fleisch
und Brot, ißk, mein Seelchen, Gott hat's gegeben.“
Schweigend nahm Tatiana einige Bissen, während die Alte
ruhelos um den Tisch herumhuschte und ihr bald dies., bald jenes
hinschob.
Dann wurden sie plötzlich durch die schnell eintretende Kranken—
pflegerin geftört.
Ah, da ist ja das gnädige Fräulein, bitte schnell, der Herr
ist erwacht, verlangt nach Ihnen.“
Sastig erhob sich Tatjana, und, begleitet von der Pilegerin
sowie der alten Marfa, begab lie sich hinauf ins Krankenzimmer.
Ihr Herz klopfte, als sie über die Schwelle trat, einen
Augenblick zögerte sie, dann aber stürzte sie ans Bett und auf
die Knie, die Arme um den Kranken schlingend.
Leise tastete die Hand des Vaters über Gesicht und Haare
der Knienden, kaum hörbar flüsterte er:
„Armes Kind, so allein jetzt, so allein, verzeih, zu spät.“
Dann Schweigen und nur leises Röcheln.
Schluchzend verharrte die Tochter noch eine Weile auf den
Knien, dann wurde sie auf einen Wink der Krankenschwester von
der alten Dienerin hinaus und auf ihr Zimmer geführt. Mit
sanfter Hand entkleidete sie die Alte, immer schmeichelnd, lieb—
kosend. ürachte sie fißs mie ein kleines Kind zu Bott ieise hetond
4.
Bei der grohen Ausfahrt der Zöglinge des Smolnainstituts,
der vornehmsten weiblichen Erziehungsanstalt in Petersburg, hatte
die Kaiserin, während in Peterhof der Tee gereicht wurde,
ihr die Wangen geklopft und sie liebenoll nach ihren Ange—
hörigen gesragt.
Die grohen grauen Augen des zierlichen Persönchens mit dem
eicht gebogenen schmalen Näschen und den weichen geschmei—
digen Bewegungen der echten Russin hatten geglänzt und das
Heine Köpfchen war angefüllt mit Bildern der Zukunft, die ihr,
der stets Verhätschelten, nur Gutes, nur Erfüllung all ihrer
Wünsche bringen konnten.
Das war vor einem Jahre — und heute?
Ratternd jagte der Tarantah den staubigen Weg von der
Bahnstation, aber die darin Sitzende fühlte nicht das Stoßen
ind Rütteln. Zusammengekauert, den Blid starr vor sich hin
gerichtet, rief sie noch einmal die Ereignisse der lekten nierund-
2wanzig Stunden sich ins Gedächtnis.
Gestern früh war es gewesen, als man sie zur Instituts—
vorsteherin gerufen und sie, von den Segenswünschen ihrer drei
Zimmergenossinnen begleitet und in ihrem Köpfchen schnell all
hre kleinen Verstöhe und Sünden überschlagend, mit noch schlaf⸗
lrunkenen Augen in aller Eile angekleidet, schnell die langen
Korridore hinabhuschte.
In wenigen Minuten stand sie vor der bekannten Tür, die zu
der Wohnung der Vorsteherin führte und auf ihr zaghaftes Pochen
sönte es: „Entrez!“
Jetzt war sie im Zimmer. Die Vorsteherin, eine ältere, schlanke
Dame von distinguierter Erscheinung, erhob sich ganz gegen die
sonstigen Gepflogenheiten des Instituts und kam der Eintretenden
inige Schritte entgegen. Sanft legte sie ihren Arm um deren
Schultern und führte sie zu einem in der Mitte der Hinterwand
odes Zimmers stehenden Diwan.
Nachdem sie Platz genommen, hob sie das Köpfchen der
Empfangenen zu sich empor und, den einen Arm noch immer um
shre Schultern geschlungen, sah sie ihr liebevoll in die Augen.