Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

zärkste beleidigt war. Darauf kam es doch bezuglich der Strafe 
rage wie der Schuldfrage wesentlich an. Aber der Staatsanwalt 
prang dazwischen und griff mit der eigentümlichen Motivierung 
sn, daß es sich, und zwar nach den Angaben des Landrats selbst, 
im einen Vertrauensbruch handle. Ich möchte wissen, was ge⸗ 
chehen wäre, wenn es sich um, eine Beleidigung gegen den Frei⸗ 
errn v, Maltzahn gehandelt hätte. Der Mangel an Obiektivi⸗ 
af des Vorsitzenden wird durch die Behandlung der Zeugen be⸗— 
hiesen. Der Vorsitzende hat behauptet, der Landgerichtsdirektor 
ei kein Parteigänger der Konservativen, trotzdem der Land— 
erichtsdirektor selbst einen konservativen Verein gegründet 
alte, Es war ein großer Fehler, eine parteipolitisch so exponierte 
Hersönlichkeit an die Spitze eines ausgesprochen politischen Pro⸗ 
efses zu stellen. Der Greifswalder Prozeß zeigt, wie ein Fach⸗ 
uristentum ohne Weltkenntnis, ein bureautratisches System und 
ine unbewußte gesellschaftliche Abhängigkeit unsere ganze Justiz 
chaädigen kann. Wir wollen im Wege der Gesetzgebung alles tum, 
im derartige Prozesse in Zukunft zu vermeiden, im Interesse des 
eutschen Richterstandes und im Interesse des Vertrauens des 
entschen Volkes zu ihm, des Vertrauens, ohne das der Staat auf 
ie Dauer ohne Erschütterung seiner Grundlagen nicht bestehen 
ann. GBeifall links.) 
Damit schließt die Diskussion. 
Der Etat für die Reichsjustizverwaltung wird ohne wei⸗ 
ere Debatte nach den Anträgen der Budgetkommission ang e⸗ 
om men, ebeno die von der Kommisßon vorgeschlagene Re⸗ 
olution wegen der Berufung von drei Rechtsanwälten in die 
dommission für die Ausarbeitung des neuen eerhed 
achdem der Referent Abg. Dr. Heckscher (F. V.) noch erwähnt 
jat/ daß die Kommission dem Staatssekretär den Wunsch zu er— 
ennen gegeben habe, daß der als Sachverständiger zu hörende 
dertreter der Presse von den berufenen Preßorganisationen zu 
räsentieren sei, und der Abg. Kirsch 43 noch den Gedanken 
ur Erwägung gestellt Nat, ob nicht auch ein Sachverständiger 
ruf dem Gebiete der Sozialwissenschaften in die Kommission ge⸗ 
ommen werden solle. 
Schluß gegen 6 Uhr: Nächste Sitzung Donnerstage1 Uhr: 
deeresvorlage und Militäretat. 
PreubPischer Landtag. 
———— 
Herrenhaus. 
(4. Plenarsitzung.) 
Berlin, den 22. Februar. 
Im Ministertisch: v. Dallwitz. — 
Lräsident Frhr. v. Manteuffel eröffnet die Situn 2 Uhr 18 Min. 
Die neu berufenen Mitglieder Generaloberstv. Linde⸗ 
iunst und Obermeister Plate, die bisher den Eid auf die 3— 
och m geleistet haben, werden in der üblichen seierlichen ise 
ereidigt. 
Ueber den gestern angenommenen Antrag Schlenther zur 
Legeordnung für ——— der gestern noch nicht gedruckt vorlag, 
dird nochmals abgestimmt, er wird angenommen. 
Es folgt der Entwurf betr. Abänderung der 
Gemeindeordnung für die Rheinprovinz. 
Minister des Innern v. Dallwitz: Der Entwurf bezwecdt, in 
theinland den Einfluß der bodenständigen Elemente, die ein beson- 
eres Interesse an der Gemeinde haben, zu stärken. Diese Elemente, 
e Meistbegüterten der bisherigen Gemeindeordnung, find durch das 
lebergreifen der Industrie auf das platte Land, das Entstehen von 
Nietzshäusern auf dem Lande, in eine falsche Lage gebracht worden. 
Infolgedessen soll die Hälfte der Steuern die ein Meistbegüterter zu 
ahlen hat, allein auf die Grundsteuer entfallen. Außerdem soll die 
Jahl dieser Meistbegüterten nicht mehr als die Zahl der Gemeinde— 
ertreter betragen. Nach mehrfach geäußerten Wünschen des Pro— 
»inziallandtages sollen auch die juristischen Personen eine ange messene 
hertretung in den Gemeinden mit Stimmrecht erhalten. Auch andere 
euerungen entsprechen Wünschen, die in der Provinz geäußert wor— 
en waren. Auch die zahlreichen Petitivnen bewegen fich im allge⸗ 
einen auf dieser Grundlage. Damit ist erwiesen, daß die jehige 
emeindeordnung im wesentlichen den Bedürfniffen ber Rheinprovinz 
RJ De Wnedhee auf — des Hauses und 
Ahen daß der Entwurf eine neue gesunde Grundlage für di ini⸗ 
den Weneinden hieee rh w fũt die rheint 
Att. 1 der Vorlage, der 8 41 der bisherigen Gemeindeordnung 
—— ——— 
Art. 2 Absa etzt jest. daß zum Gemeinderate außer den ge— 
aͤhlten Mitgliedern auch die meistbegüterten e ede * 
onen die in der Gemeinde angesessen sind. Stagteeinommensteue 
9 rded e davon 75 M Grundfleuer zahln 
dlich entsprechende persönliche Eigen ie kön⸗ 
xn g5 Neher c he Eigenschasten besihen. Se lon 
rThr. v. der Leyen begntragt dazu, daß auch weibliche, sowie 
gr errree ed Ioe soehende oder ae eene 
„D u den Me— r ä ü 
verer ä *8 können. eisthegüterten zaͤhlen würden, ebensalis 
inister des Innern v. Dallwitz: Die Erwägungen die i 
ommission maßgebend waren, würden für den hetand 
oürde ich Bitten, aus gewissen prattischen Grüͤnden un abzule hnen. 
Der Antrag zu Aruikel2, wonach weibliche sowie unter Vormund⸗ 
eg v e 33 pdere Personen, die sonst 
n güterten zählen wi 
onne rire —— rden, ebenfalls Vertreier stellen 
ach weiteven unerheblichen Aenderun i 
angtesze e sen wird jodann das 
gchdem das Haus noch dem Entwurf betrefsend Aenderu 
erschledener Amtsßgerichtsbezi n 
orgg Ans a esirke zugestimmt hat. 
orgen LUhr: Rechnungssachen. 
Schluß 416Uhr echnungssachen 
Iboeordnetenhaus. 
33. Sitzung. 
Berlin, den 2. Februar. 
Am Ministertisch: v. Breitenbach. 
Seahnnn v. Kröcher eröffnet die Sitzung um 104 Dpr 
unächst werden die Abgo. Romahn ur; und Wenke 
Fortschr. Vp.) vereidigt. Es folat die Fortsetzung der zweiten 
Heratung des 
Eisenbahnetais 
Abg. Dr. Schroeder-Kassel (natlib.) befürworket den Ankrag 
dr. Friedberg und Gen. in welchem die Regierung aufge⸗ 
ordert wird, die Härlen, die durch die verschiedenartige Fest⸗ 
etzung der Gehaltssätze der Eisenbahn-Afsfistenten in 
reußen und im Reich geschaffen sind, unter Festhaltung an den 
estimmungen der Besoldungsordnung auszugleichen. Der Red⸗ 
der wünscht dann bessere Range und Anstellungsverhälmisse für 
danzleibeamte, Betriebssekrelace und Weichensteler. Der Minifter 
jat in der Kommission erklaͤrt, es sei bedenklich, wenn die Abge— 
»rdneten in die Versammlungen der Arbeiter gehen 
ind deren Wünsche nach Lohnerhöhung unterstüten. Ich halte es 
war auch nicht für richtig, wenn Abgeordnete in soichen Fällen 
* Arbeitern vage Versprechungen machen; wir halten es aber 
ür unsere Pflicht, uns üͤber die Wünsche der Arbeiter zu in— 
ormieren. Die Bezüge der Eisenbahnarbeiter dürfen nicht unter 
die ortsüblichen Tagelöhne heruntergehen. 
Unterstaatssekretär im Finanzministerium Michnelis: An 
der Besoldungsordnung darf auf Jahre hinaus nichts geändert 
verden. Wir sind aber bereit, in den naͤchsten Etatange Summie 
nzustellen. um die Härten in den Gehaltsverhäliusen der 
Sisenbahn-Assistenten auszugleichen F 
Minister v. Breitenbach: Die vorgetragenen Wünsche werden 
nit Wohlwollen gepriüft werden. In der Besoldung so rd⸗ 
rumg haben die unteren Eisenbahnbeamten eine durchschnittliche 
lufbefserung von Mo 04 erhalten. Ein Druck auf die Parla⸗ 
nentarier soll nicht ausgeübt werden in der Richtung, daß sie 
ich nicht an den Versammlungen der Arbester beteiligen sollen, 
bber durch die Teilnahme von Abgeordneten an solchen Ver—⸗ 
ammlungen wird die Sitnation für uns nicht erleichtert. Die 
Wgleichheiten in den Tobnberhälinissen in en eten Didet 
ĩonsbezirken sollen veseitigt werden. Neber die Akkordlohhne wird 
elfach geklagt. Hierüber sollen Sachverständige und auch Ar— 
zeitervertreter gehört werden. Wenn Arbeiter entlafsen werden, 
o müssen wichtige Gründe vorliegen; von einer Willkür kann 
abei keine Rede sein. Geifall.) 
Abg. Biereck (freikons.); Namens meiner Freunde spreche ich 
»em Minister meine volle Anerkennung dafür aus, daß er aus— 
eichend für die Arbeiter sorgt. Mit Recht wird diesen die Ver— 
flichtung auferlegt, sich von ordnungsfeindlichen Be— 
trebungen fernzuhalten und jeden Streif abzuwehren. Wir 
offen, daß der soziale Geist, der vom Eisenbahnninisterium aus— 
jeht, dazu beitragen möge, das Vertrauensverhältius zwischen 
em Minister und den Angestellten zu festigen. Vas Pariament 
it bestrebt, den Minister zu unterstützen, und dieses Ziel ver⸗— 
olgen auch die Parlamentarier, wenn sie in die Verfannntungen 
er Arbeiter gehen. Erfreut sind wir über die Erklaͤrung des 
N nisters in der Kommission, wonach Mitglieder von Arveiter 
usschüssen nicht von den unteren Instanzen, sondern nur von 
en Direltionen entlassen werden koönnen Ebenso degrüßen wir 
ie Ausführung des Ministers, nach welcher Ärbeiter nur wegen 
disziplinarvergehen entlassen werden. GBeifall.) 
Abg. Deuus (Vpt.): Den Eisenbahnarbeitern muß eine 
rusreichende Fürsorge zuteil werden. Die Besoldungsregulierung 
on 10 hat viele bherechtigte Wünsche nicht erfuůlit, deshalv můffen 
vir bestrebt sein, Härten und Ungleichheiten zu beseitigen. Aus 
jesem Grunde fordern wir die Gleichttelung der preußischen 
kisenbahn-Affistenten mit den Reichseisenbahn⸗Lisi— 
enten, wie das in dem bereits von der Kommiffion angenomme⸗ 
en —8 Friedberg verlangt wird. Für eine Reide 
eiterer Beamtenkategorien sind ebenfalls Aufbefferungen erfor— 
erlich. Die Löhne der Eisenbahnarbeiter vedürfen 
ielfach ebenfalls einer Erhöhung. Die Eisenbahnarbeiter denten 
ibsolut nicht an den Streik, deshalb follle man ihre berechtigten 
Bünsche erfüllen. Wenn wir die Versammlungen der Eisenbahn 
rbeiter hefuchen, so arbeiten wir der Verwaltung nicht entgegen. 
ondern stellen ein Bindeglied awischen den Arbeitern und der 
kisenbahnverwaltung her. 
Abg. v. Heunigs-Techlin (kons.): Eine Gleichstellung der 
kisenbabn⸗Assistenten mit den Reichseisenbahn-Afsiftenten muß 
rfolgen, soweit es mit den Grundsfaͤtzen der Besoldungsordnung 
ereinbar ist. Die berechtigten Wünsche der Beamten naͤch Beffer⸗ 
ellung müssen nach Msglichkeit berücksichtigt werden; anderer⸗ 
eits ist eine Kontrolle der wahllosen Wünsche und Petitionen 
iotwendig. Unser Beamtenheer wird vom NMinister mit einem 
Wohlwollen behandelt, wie wir es nicht besser wünschen können. 
Minister v. Breitenbach: Alle Wünsche der Beam⸗ 
en nach Besserstellung, die massenhaft an uns herantreten, kön⸗ 
en wir leider nicht erfüllen. Wenn wir aber bestrebt sind, in 
ielen Fällen einen Ausgleich für manche Härten au schaffen, so 
arf man uns nicht, wie es geschehen ist, den Vorwurf machen, 
gßz wir mit der einen Hand geben und mit der anderen nehmen. 
Lenn die Angestellten in Versammlungen über wirtschaftliche 
iragen verhandeln, dann sollte man der zuständinen Verwal⸗ 
ungsstelle Gelegenheit geben, daran teilaunehmen. Die Mehr— 
ahl der Angestellten wünscht das auch. 
Abg. Korfanty (Pole);: Was die Ostmarken-Zulagen 
in Eisenbahnbeamte hetrifft, so scheint es, als ob die Beamten sich 
m einer besonderen Unhöflichkeit gegen die polnische Bevölkerung 
erpflichtet fühlten. Im Eisenbahndirektionsbezirk Bromberg ist 
urch einen Erlaß der Eisenbahndirektion den Beamten verboten 
oorden, mit dem Publikum und den Arbeitern polnisch zu spre— 
Jen. Solche kleinlichen Nadelstiche sind einer großen Verwaltung 
licht wurdig. Im Ausland, 3. B. in Warschau und Krakau, ist 
tan gegen die volnisch sprechende Bevölkerung viel liberaler. 
Minister v. Breitenbach: An den Grundfätzen über die Verwen⸗ 
ung des Ostmarkenfonds, dessen Zwecke ja bekannt sind, kann nichts 
eändert werden. Daß die polnische Sprache verfolgt werde und 
usgemerzt werden solle, wie der Vorredner behauptet hat, ist unzu⸗ 
ceffend. Es ist der Behörde gleich, welcher Sprache sich die Beamten 
ind Arbeiter in der Familie bedienen, und welche Zeitungen fie 
esen. Dagegen ist es erste und grundlegende Vorschrift, daß die An⸗ 
xstellten der Eisenbahnverwaltung deuisch sprechen. (Beifall.) 
Abg. Leinert (Soz.): Den unteren Beamten hat man 200 -400 
Nark Gehaltserhöhung gewährt. Den Eisenbahnarbeitern nut 33.4 
ro Jahr. Das ist ein Almosen. Vielen Arbeilern hat man sogar 
ieses Almosen nicht einmal gegeben. Auch sonst zeigt die Eisenbabn— 
erwaltung ihren Arbeitern kein besonderes Entgegenkommen. Ver 
dinister hat die Etwartung ausgesprochen, daß es bei uns zu einem 
isenbahnerstreik nicht kommen werde. Die ganze Behand- 
ung der Arbeiter, ihre Unfreiheit, ihre Bevormundung bieten Stoff 
enug, der zu einer Erplosion führen lönnte. Wir verlangen die Be— 
nns der Willkür und der Beeinträchtigung der sigatsbürgerlichen 
te. 
Minister v. Breitenbach: Die Arbeiterfreihent, die Sie 
zu den Soz.) meinen, wollen wir allerdings nicht. (Sehr richtig! 
echts.) In den Zeiten des größten Arbeilsmangels find wir in der 
age gewesen, unser großes Persongl zu halten. Das Personal ist 
ändig vermehrt worden. Am 1. Januar diefes Jahres sind nicht 
veniger als 30 900 Anwärter für Arbeiterstellen aufgezeichnet wor— 
en. In Ihre (zu den Soz.) Versammiungen dürfen unsere Arbeiter 
icht gehen. (Hoͤrt, hört! bei den Sogialdemokraten. Sehr richtig! 
echts.) Die Einkommenverhältnisse der Arbeiter bessern sich fort⸗ 
esetzt. Jahr für Jahr, selbst in Zeiten des wirtschaftlichen Nieder⸗ 
angs, find Lohnaufbesferungen erfolgt. Wir sind serner bestrebt, 
insere Wohlfahrtseinrichtungen zu verbeffern Wenn der Vorrebnet 
ingedeutet hat, daß es zur passiben Resistenz des Personals kommen 
önne, so werden wir auch diese Möglichteit im öffentlichen Intelesse 
ekämpfen. (Lebhafter Beifall.) 
Abg. Dr. König (Ztr.); Die Sozialdemokraken wollen 
ur das Volk aufpelischen. Eine Gleichstellung imsever Assistenten 
nit denen der Reichseisenbahnverwaltung halten wir für erwunscht. 
zm übrigen bitte ich den Minister, die Wünsche der Beamten wohl⸗ 
ollend zu prüsen. Auch über die Wunsche und Beschwerden der Ar— 
eiter muͤßte von Zeit z Zeit eine sorgfältige Prüfung eintreten, da⸗ 
nit die guten sozialpolitischen Gedanken des Minisiers auch von den 
nteren Organen zur Durchführumg kommen. Indem Sie (zu den 
Vz.) gegen das Arbeiterwohnungsgeset gestimmi haben. haben Sie 
ezeigt. wie es mit Ihrer Arbeitersreundchteit befleüt ist (Sehr 
zut! und Beifall im Zentrum.) 
Hierauf wird die Weiterberatung auf Donnerstag 10 Uhr veriagt. 
Schluß 5 Uhr. 
— 3 
Vom Schwinden der deutschen Volkstracht. 
Unsere deutschen Volkstrachten bilden in ihrer bunten Farbig⸗ 
eit, in ihrer Mannigfaltigkeit der Formen und in dem gemülstiefen 
⸗e schmack Anordnung eine der schönsten Blüten in dem vollen 
ranz der deutschen Volkskunde; fie sind aigzntli die einzigen 
dostüme, die unsere Kultur feloͤstänbig geschaffen o zum min⸗ 
esten umgeschaffen hat. Denn die maßgebende Modetracht haben wir 
utschen immer im Lauf der errumdern von fremden Vorbil⸗ 
ern entlehnt, und I als die aus Byzanz, aus Spanien und Frank⸗ 
eich eingeführten Kleidungsstücke in den vornehmen Kreisen unmo— 
ern wurden, als sie herabsanken zum Volk und von diesem aufge⸗— 
iommen wurden, fanden sie eine eigenartigé, originale Ausgestaltung 
ind en Auf diesen Zusammenhang der Volkstracht mñ 
er städtischen Modetracht weist ein feiner Kenner der volkstümlichen 
Kleidung, der Pfarrer Karl Spieß, in einem wipohen Büchlein über 
die deutschen Volkstrachten hin, das er in der Teubnerschen Samm- 
ung „Aus Natur und Geisteswelt“ erscheinen läßt. 
So ursprünglich und persönlich die ländlichen Trachten auch er— 
cheinen mögen, p ist doch bei genauer Betrachtung übetall in ihnen 
ie Kleidung der höheren Stände zu erkennen, wie sie uns nur in 
lten Bildern pes vor Augen tritt. Würdevoll und steif, wie die 
zauern heute in ihrer Tracht erscheinen, eben so trugen sich einst die 
Ztadtherren und »damen nach französischen und spanischen Vorbil— 
ern. Dieser altfränkische Zug der Volkstracht erweist zuͤgleich auch 
hren großen JFulturgeschichtlichen Wert, da hier noch Mächte des Ge⸗ 
hmacks und der In lebendig sich darbieten, die in der allgemeinen 
dultur längst dahingegangen u Aber da diese Volkstrachten im 
asch dahinflutenden Strom des modernen Lebens nur eine kleine 
usel längst verflossener Vergangenheit sind, so ist auch der tiefste 
zrund für ihr, Verschwinden in der Gegenwaärt gegeben. Solange 
er Bauer noch fest wurzelte in den Anschanungen früherer Jaht— 
Anderte, war auch die Kleidungsweise dieser versunklenen Epoche 
ein oper Ausdruck seines inneren Wesens. Seitdem coer das 
kandvolt immer engeren Anschluß an die allgemeine geistige Ent— 
vicklung gefunden, mußte die Beibehaltung der altfräntischen Klei— 
er der Väter zu einem Widersinn werden, So existiert denn schon 
heute in weiten Gebieten des Deutschen Reiches eine Volkstracht im 
eigentlichen Sinne nicht mehr. Sie hat sich nur noch in einigen Ge— 
genden erhalten, vor allem in Hessen, im Schwarzwald, dem Spree— 
wald, in Oberbayern und Tirol. Einzelne Trachten-Inseln ragen 
uus weiten Landgebieten, in denen auch der Bauer schon unsere mo— 
derne Tracht angelegt hat, hervor, so auf Rügen, in Hinterpommern, 
in der Lausitz, in Altenburg, im npreen Franken und im Elsaß. 
Das Volk sagt sich instinktiv los von der Trachl der Ahnen, weil sie ihm 
als ein trauriges Wahrzeichen seiner eigenen Rückständigkeit erscheint, 
und die Begeisterung, die die Städter für die alten Kostüme an den 
Tag legen, trägt nur dazu bei, sie von dem Bauern innerlich mehr 
und mehr zu entfremden Symptomatisch ist dafür eine Geschichte, 
e ein Trachten-Forscher von der tschechischen Tracht in der Tauser 
svegend berichtet; „Ich habe gehört, daß chodische Männer, denen 
man ihre Tracht lobte und denen man sagte, sie mögen sie beibehalten, 
chäthzen und in Ehren halten, sich äußerten: Ihr Herrenleute wollt, 
aß wir ewig die dummen Bauern bleiben. Was Ihr anzieht, können 
wir auch tragen. Kleiden sich aber Städter in Voikstracht, um der⸗ 
selben Schätzung zu erweisen, . sagen manche Bauern: Seht Ihr. 
man macht 9* aus uns einen Narren.“ 
Neben diesem allmählichen Schwinden der bäuerlichen, in 9 ab⸗ 
geschlossenen i ree und des bäuerlichen ——— ind es 
Ursachen mehr lokaler Art, die das Aussterben alter Trachten be⸗ 
virken. Die Herstellung einzelner Trachtenstücke wird nicht selten 
ingstlich als Geheimnis gehütet, und mit dem leten Kenner, der 
etzten Kennerin dieser Kunstfertigkeit sinkt ein solcher Teil des 
ostüms für immer dahin. So war z. B. in einer Gegend des 
Schwarxzwalds nur eine enng Feon imstande, die dort üblichen 
Bollenhüte anzufertigen, und alle rsuche, sse dazu zu bewegen, 
eine Schülerin in ihre Künste einzuweihen, scheerien an der Furcht 
hor der drohenden Konkurrenz. Aber der alte Spruch: „Selbstgespon⸗ 
nen selbstgemacht, Ist die beste Bauerntracht“ verliert uͤberhaupt im— 
mer mehr an Geltung. Das Spinnen und Weben zu Hause ist der 
eistungsfähigeren Maschine unterlegen; die billige Fabrikware segt 
wer das selbstverfertigte Kleid. Der Hausierer bringt n 
utzendware ins Haus, und seine hunten Tücher, seine Bänder und 
Nodestoffe verdrängen den Schmuck, den noch die Großmutter mit 
leißigen Händen sich ns zu schaffen wußte Schon Moser, hat im 
18. Jahrhundert in seinen von Wose gepriesenen „Patriotischen 
Inemaden geklagt, daß die „Packenträger“ die guten, einfachen 
Silten des Landvolts cucß de e denewese detditte. De 
amals in den Anfängen begriffene Entwicklung ist heute im wesent⸗ 
ichen vollendet: an die Stelle des kleidsamen „Stülpchens“ ist das 
8 Kopftuch, an die Stelle des Mieders die itädtische Bluse ge⸗ 
reten. 
Wie fich das Schwinden der Volkstracht migu vollzieht, 
erläutert der Verfasser an einem Vorgang in seinem heimischen Be— 
zirk, dem Kreise Biedenkopf. Die hier ursprünglich herrschende Tracht 
st bdie hehche oder Marburger. Zu einem 3 — Zeitpunkt wurde 
es aber Mode, die Haartracht zu ändern. Während bis dahin das 
daar nach oben gekämmt war und die Zöpfe äuf dem Scheitel in 
inem sogenannten „Schnaz“ zusammengelegt wurden, trug man nun 
das Haar in der Mitte gescheitelt und die Ine am Hinterkopf auf⸗ 
gesteckt. Infolgedessen konnte das kleidsame, äufrechtstehende Mützchen 
„Stülpchen“) nicht mehr getragen werden. An seine Stelle trat ein 
einfaches Kopftuch, und damit war schon die ganze Erscheinung voll⸗ 
tändig verändert. Nun ging die Umbildung langsam weiter. Die 
Köcke wurden zunächst in der Sonntagskleidung verlängert, die Jacke 
änderte ihr Aussehen und wurde schließlich zur fdnschen Bluse. 
Die zunächst so geringfügige Umformung der Haartracht hatte also 
ꝛas Verschwinden der Volkstracht zur Folge gehabt. In anderen 
Fällen brechen die Bauern radikal mit der Volkstracht und legen 
Modekleidung an; Refte erhalten sich dann noch in der Trauertracht 
oder der Abendmahlskleidung, oder in einzelnen Kleidungsftücken 
Vermischtes. 
Erweiterung der Londoner Hafenanlagen. In Eng— 
and steht gegenwärtig die Frage der Erweiterung 
er Londoner Hafenanklagen zur Diskussion. Es 
jandelt sich bei dem bereits vor einiger Zeit gemeldeten Plan, der, 
vie exinnerlich, insgesamt einen Kostenaufwand von nahezu 
Millionen Mark erfordern soll, in der Hauptsache um zeit⸗ 
gemäße Au gestaltung und um Vergrößerung der vorhandenen 
häfen und Docks. Unter den Londoner Docks zwischen der Tower 
Zridge und Tilbury an der Nordseite des Flusses ist das älteste 
)as St. Katharins-Dock, das im Jahre 1828 geschaffen wurde. 
Amgeben von großen Lagerhäusern, dient es vor allen Dingen den 
leinen Küstenfahrern zur Benutzung. Die London-Docks beher⸗ 
bergen den wichtigsten Teil des Londoner Handels, nämlich die 
Aüstenschiffahrt und den Warenaustausch mit dem Kontinent. Hier 
oll namentlich der Zugang zu dem wichtigsten Hafen, Western⸗ 
ock genannt, verbessert und für größere Schiffe zugängig ge⸗ 
nacht werden. Die Eastern⸗Docdks, die gleichfalls einen Bestandteil 
er London-Docks bilden, sollen durch Anlage neuer Kais be⸗ 
rächtlich erweitert werden. Die innerhalb des Gebiets der 
rondon-Docks nach Maßgabe des Plans neu hinzutretende Kai— 
änge soll sich über nahezu 8000 Fuß erstrecken. Für die West 
zndia-⸗-Docks sind neue Zugänge, neue Hafenbecken und Liege⸗ 
tellen, Uebergänge und Brücken, neue Kaianlagen, Trockendocks 
n Aussicht genommen; die Kosten dieser Anlagen find auf 22 
Millionen Mark veranlagt. Aehnliche Verbesserungen sollen bei 
jen Millwall and East India⸗Docks, die hauptsächlich dem Ge⸗ 
reidehandel dienen, mit rund 15 Millionen Mark Kostenaufwand 
orgenommen werden. Im allgemeinen sollen die Abmessungen 
der Häfen und Kais derartig erhöht werden, daß sie von Schiffen 
his zu 50 Fuß Länge benutzt werden können. Gegenwärtig 
öonnen Fahrzeuge von solcher Größe bis zur Länge von etwas 
Wer 600 Fuß ausschließlich in den Tilbury-Docks vor Anker 
jehen. In drei weiteren Dods können Fahrzeuge bis zu 810 Fuß 
Länge Äufnahme finden. Alle übrigen Häfen bieten in ihrem 
gegenwärtigen Zustand für Schiffe von solcher Größe keinen 
daum. Die Dringlichkeit der geplanten Neuanlagen wird mit 
em enormen Wachstum des Londoner Seeverkehrs begründet. 
Die im Londoner Hafen registrierte Schiffstonnage ist seit 1860 
auf das Dreifache gestiegen, sie hat sich seit dem Jahre 1886, 
in dem die Tilbury-Docks eröffnet wurden, um b0 v. H. ver⸗ 
mehrt. Man rechnet also damit, daß der Verkehr sich in noch 
lärterem Maße entwickeln wird, wenn die Hafenanlagen den 
etigen Größenabmeffungen der Kauffahrteischiise angepaßt sind. 
defe Größenverbältnisse sind außerordentlich geftiegen. Im 
dahre 1879 war das Durchschnittsmaß der überhaupt vorhandenen 
O größten Schiffe 3300 Tons Raumgehalt, 350 Fuß —X 
3 Fuß Breite und 23 Fuß Tiefgang. Fir die im Jahre 1910 vor⸗ 
andenen Wgrößten Schiffe ergibt sich als Mittel 21500 Tons 
daumgehalt, 00 Fuß Länge, 76 Fuß Breite und 36 Fuß Tiefgang. 
Im im Londoner Hafen die nötigen Vorbedingungen des Schiiss⸗ 
erkehrs zu schaffen, sollen aber nicht nur die vorhandenen Dods 
usgebaut, sondern auch nue Dockanlagen geschafien werden. So 
vird südlich von dem bereits vorhandenen Albert-Dock die Er— 
ichtung eines neuen Docks empfohlen; die Kosten der Anlage sind 
uif nahezu 52 Millionen Mark veranschlagt. Bei diesem Dock, 
o lautet das Proiekt, soll über das bei den Tilbury-Docks ange⸗ 
rommene Längenmaß weit hinausgegangen werden. In diesem 
ieuen Hafen jsollen Schiffe bis zu 800 Fuß Länge Unterkunft fin⸗ 
»en können. Die Zuganasschleuse soll 880 Fuß Länge, 110 Fuß 
Breite und 48 Fuß Wassertiefe erhalten. Es sollen Einrichtungen 
erart vorgesehen werden, daß die Länge verhältnismäßig leicht 
uuf 1000 Fuß ausgedehnt werden lann. Das Hafenbecken selbst 
oll 4600 Fuß Länge, 4426 Fuß Tiefe und eine nutzbare Quaimauer 
von 00 Fuß Länge und eine Wasserfläche von 65 Acres erhalten. 
ie Verbindung zwischen dem neuen Dock und dem Albert-Dock, 
ie hergestellt werden soll, soll von Schiffen bis zu 650 Fuß Länge 
enutzt werden können. Eine zweite neue Dockanlage wird nörd⸗ 
ich von dem bereits vorhandenen Albert-Dock empfohlen; die 
dosten sollen 87 Millionen Mark betragen. Die Ausmaße sollen 
och erheblich bedeutender sein, als bei dem Sonth Albert-Dock, 
ie nutzbare Quailänge soll 15 600 Fuß, die Wasserfläche 126 Acres, 
die Wassertiefe 532 Fuß betragen. Endlich sind bei dem Vietovia 
ind Albert-Dock, das gegenwärtig gleichfalis nur für Schiffe mäßi— 
er. Größe benutzbar ist, Erweiterunas⸗ und Neubanten mit einem 
rostenaufwand von über 13 Millionen Mark gleichfalls in dem Re— 
ormprojekt in Vorschlag gebracht.
	        
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