Deutscher Reichstag.
(132. Sibung.
Berlin, den 22. Februar.
Am Bundesratstische Dr. Lisco. Die Beratung des
Etats der Reichsjuftizuerwaltung
vird beim Gehalt des Staatssekretärs fortgesetzt.
Abg. Dr. Wagner (dk.): Die gestrige Rede des Abg. Dr. Ablaß
über den Prozeß Becker stand, wie ia auch der Präsident fesl⸗
iellte, nur in sehr losem Zusammenhang mit dem Etat. Diese Fest⸗
stellung des Präsidenten war noch eine sehr wohlwollende, immer hin
yat Herr Ablaß mit großem Geschick verstanden, sein Ziel zu erreichen.
Daß die Erörterung innerpreußischer Angelegen—
heiten an sich nicht zur Kompetenz des Reichsiages gehoͤrt, ist doch
t genug ausgeführt worden; was diese Sache mit dem Gehalt des
Staatssekretärs zu tun hat, ist mir völlig unerfindlich. Offenbar hatte
aber Herr Ablaß das Bedürfnis, in dieser Angelegenheit, die in der
Oeffentlichkeit sehr weitschichtig umd im Preußischen Abgeordneten⸗
hause zweimal eroͤrtert woiden ist, wobei seine Freunde nicht besonders
gut abgeschnitten haben, diesen den Rudzug zu deden Aber ganz
unbegreiflich ist es, wie an diesen Prozeß der Vorwurf der Klafsen—
sustig geknüpft werden konnte. (Lebhafte Zustimmung rechts.) Der
Abg, Dr. Ablaß hat auch den Vorwurß des Eingreisens des Reichs—
lanzlers in den noch schwebenden Moabiter Prozeß wiederhoit,er
üͤbersieht dabei vollstaͤndig, daß der Kanzler gar nicht angefangen hat,
Pr durch den Angriff des Abg. Scheidemann auf preußische
Poligeiorgane zu einer Abwehr veranlaßt war, zu der er sehr wohl
gerechtigt war. Ebenso steht es mit dem gegen den preußischen
Justizminister erhobenen Borwurf, er habe den Vorfitzenden dez Noa—
biter Schwurgerichtsprozesses zur Rede gestelli. Er hat das nicht ge⸗
tan, sondern er hat fich lediglich bei dem Landgerichtsdirektor Unger
informiert, um auf etwaige Anfragen im preußischen Abgeordneten⸗
hause Rede und Antwort siehen zu können. Uebrigens sind die Mei⸗
nungen darüber, ob eine solche Rechtsbelehrung der Geschworenen
durchaus über alle Kritik erhaben ist geteilt Der Adg. Frant hat die
Reichsgerichtsentscheidungen über den Begri ffder Notwehr
bemängelt; durchaus mit Unrecht. Wenn sich ein von einem Schitz⸗
mann oder Gendarm Angegriffener immer damil —V
er habe geglaubt, der Beamte befände sich nicht in der rechtmäßigen
Ausübung seines Amtes, so wäre alle siaailiche Ordnung aufgeloͤst.
Hat in dem Falle Glogau die Begrundung des Urteils so gelautet,
vie ausgeführt war, dann stehe guch ich nicht an, das für sehr be⸗
oauerlich zu erkllären. Aber jede Verallgemeinerung aus solchen Föllen
ist durchaus unstatthaft; folche Ausnahmen bestätigen nur die Regel,
daß un seve Rechtsprechung unparterisch und ohne Ansehen der Person
geübt wird. Es ist guͤch sehr zu — daß es sich bei solchen Zei—
umgsnachrichten auch um falsche Berichterstattung oder Aufbauschung
handeln kann. Unser Strasprozeß, das steht feft leidet an einer ge⸗
Ver Vennacgiaben Re durchaus eingedänimt werden muß. (Beifall
8
Abg. Dr. Junck (nI.): Wir halten unsererseits daran gest, daß
er Reichs justizetat die Sielle ist, bei der allgemeine Bemerkungen
iber die Justizverwaltung angebracht werden toönnen. Ich möchte
eststellen, daß in Bahern die Frage des Grundbuchrechts
etzt befriedigend Were ist. Andere deutsche Staaten find mit der
Sinführung des Grundbuchs noch im Rüchkstande, von Mecklenburg
vill ich gar nicht reden, aber Sachsen-Weimar, Schaumburg⸗ Lippe
Hremen und beide Schwarzburg“ sind noch nicht so wen. Ich
nöchte also den Staalssekretar bitten, seine Bemühungen forizu⸗
eEben, daß das, Grundbuch einheitlich durchgeführt wird. Dem
Falle Hellfeld, der uns im vorigen Fahre beschäftigt hat,
ann ich nur einen wehmütigen Nachruf widmsen. Das Urteil von
Tsingtau ist vom Staatssekretär des Nuswärtigen sr wirkungslos
erklätt worden. Ich möchte nun fragen, wie weit die Zwangs-
pollstreckung gediehen ist. Hoffentlich gelingt es, Jur Schlich—
umg derartiger Streitfaͤlle auf internationalem Wege ein Schieds⸗
het zu schaffen. Dringend möchte ich dem Staatssekretär die
Keform der A nwaltsgebühren empfehlen. die Anwalis
ammern haben ihre Mitwirkung an dieser Frage nicht versagt son⸗
hern fie nur für sehr schwierig ertlärt und gewünscht, daß die Re—
orm durch weitgehende Erhebungen nicht aufgehalten werde. Ddie
Anwälte beklagen sich namentlich über den Ansfall an Gebühren bei
Armen⸗Sachen, die auf 53 Millionen jährlich berechnet werden.
leber die Entlastung des Reichsgerichts hat der Siaatssekreltar
ankenswerte Auskunft gegeben. Db aber die Verwendung von
bilfsträften beim Reichsgericht richtig ist, will ich
nicht entscheiden. Es wäre richtiger gewesen, neue Hiifssenate zu
zilden. Die Zuweisung der Hilfsrichter gn die Senate ist doch nicht
mabänderlich; der Staatssekretär wird schließlich um die Bildung
euer Senate nicht herumkommen können. VDie Bedeutung des
teichsgerichts ist darauf begründet, daß es unabhängig ist, auch
venn es sich um Entscheidungen handelt, bei denen Auͤsländer in
Frage kommen. Was die Reform des Strafgefeßbuches
hetrifft, so wünschen wir, daß die Justizverwaltung diese Reform
zroßzügig in die Hand nimmt. Ich moͤchte bitten, die Raͤnner, die
jur Koinmission berufen werden, von jeder Nebentaätigkeit zu befteien
und mit den Mitteln für die Kommission nicht allzu karg zu sein.
Bei weer Frage kann es auf die Kosten nicht ankommen; es
chadet nichts, wenn die ausgeworfenen 120 000 M Uberschritten wer—
»en. Ein großer Teil der Reichssgerichtsssenischeidungen
»ewegt sich heute auf ethischem Gebiele, dies gilt namentlich von den
Prozessen auf sozialem Gebiete. Der Vorentwurf ende es dem
Kichter, nach seinem Ermessen mildere Strafen zu verhängen. Der
sichter wird freier gestellt, damit wächst seine Veräntwortlichkeit
und der Kreis seiner Aufgaben. Die Beschäftigung mit dem Straf⸗
echt ist manchen Richtern und Anwälten nicht so angenehm als mit
»em Zivilrecht. Das ist zu bedauern. An die Verantwort—
richtkeit des Richters stellt das Strafrecht gewiß höhere 3
zaben. Die Justizverwaltung muß dafür sotgen, daß die Straf⸗
rechtspfiege nicht leidet. Die Richter müssen abwechselnd in HZipil⸗
ind in Strafrechtssachen beschäftigt werden. Beide große Gebiete
müssen gleichmäßig berücksichtigt werden. Viele angefochtene Urteile
der neuesten e ich nenne Moabit, sind ein 33
des Zeugnis für die Unabhängigkeit der richte.
Was die vielbesprochene Lieber⸗Kammer geleistet hat, ist
im böchsten Maße anerkennenswert, sowohl was die Betätigung
der Unabhängigkeit wie die Geschicdlichkeit betrifft, mit der das
Schiff durch die vielen Klippen hindurchgesteuert worden ist. Das
oerdient, im Reichstag von unserer Seite hervorgehoben zu wer⸗
oen. Auf die vom Aba. Ablaß behandelten Verwaltungszustände
will ich hier nicht näher eingehen. Wir Angehörige außerbpreußi⸗
cher Bundesstagten können uns ja schwer in diese Verhältnifse
hzineindenken. (Heiterkeit) Man hört davon mit Erstaunen, wie
rus überseeischen Ländern. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig,
wer das Strafmaß ist dasjenige, was das deutsche Volk nicht ver⸗
tanden hat. In einer Zeit, wo die gräßlichste Quälerei von Kin⸗
dern beinahe ungesühnt bleibt, wird die Beleidigung eines Ver—
valtungsbeamten durch einen immerhin gutgläubigen Mann mit
einem Jahr Gefängnis bestraft! (Beifall links.) Die Versuche,
»en Umfang der Beweisaufnahme gerade jetzt einzuschränken,
nüssen allerdinas an den Erfahrungen, die wir im Becker⸗Prozeß
und im Moabiter Prozeß gemacht haben, scheitern. Kürzlich haben
sich Juristen und Angehörige anderer Berufsstände zu einer Ver—⸗
einigung zusammengeschlossen, um einmal dem Vorwurf entgegen
zu treten, als wenn unsere Juristen Nur⸗-Juristen wären. Es ist
erfreulich, daß man sich in Juristenkreisen an die Brust schlägt und
sagt; ich will selbst untersuchen, was es mit der Weltfremd⸗e
eit dexr Richter auf sich hat. Gegenüber den Riesenfort⸗
schritten, die Naturwissenschaft und Technik aufzuweisen haben,
ist der Jurist allerdings in schlimmer Lage, denn auf seinem Ge⸗
hiet gibt es keine auffallenden sichtbaren Fortschritte. Den Staats⸗
ekretär bitte ich um sein Wohlwollen für diese neue Vereinigung.
Sie wird Segen stiften, je mehr sie konkrete Vorschläge bringt.
Ich schließe mit der Hoffnung, daß der Staatssekretär alle diese
an ihn herantretenden Vorschläge mit jener inneren Freiheit be⸗
—
Staatssekretär Dr. Liseo: Den Worten, die der Abg. Junck
dem Zusammenschluß, der vorgestern zwischen Juristen und An⸗
zehörigen anderer Berufsstände stattgefunden hat, widmete, kann
ch nur voll zustimmen. Auch ich kann nur hoffen, daß der Zu⸗
ammenschluß, der nun in die Wege geleitet ist, aur Läuterung
ind Ausaleichung der Meinungen dienen wird. Ich bin dem
Lorredner dankbar fürdie anerkennenden Worte, die er unserer
Gerichten gezollt hat, Worte, wie wir sie leider hier im Hau
nicht oft hören. Ueber die in Anregung aebrachte wechselwei
Beschäftigung der Richter in Zivil- und Strafkam—
nexrin habe ich schon im vorigen Jahre ausgeführt, daß eine
solche auch dem dringenden Wunsch der Landesjustizverwaltungen
wie der Reichsiustizverwaltung entspricht. Wir sind aber leider
Jar nicht in der Lage, auf einen solchen Wechsel hinzuwirken. Es
uan bedauerlich sein, aber es ist tatsächlich der Wunsch sehr vieler
kichter, nicht in den Strafkammern zu sitzen. Wir werden viel⸗
eicht mit der Zeit zu einer Aenderung kömmen, wenn wir die
ungen Juristen in der Beziehung besser vorbilden und ihnen die
leberzeugung beibringen, daß auch die Strafrechtspflege für den
Ztaat von unendlicher Wichtigkeit ist. Wenn der Wunsch der
Kichter sich jetzt immer wieder darauf richtet, lieber in den Zivil—
ammern zu arbeiten, so liengt das vielleicht an der mangelnden
Entschlußfähigkeit, die bei dem Zivilrichter nicht so ausgebildet
zu sein braucht wie beim Strafrichter. Wollte die Justizverwal⸗
sung auf die Oberlandesgerichtspräsidenten, die jetzt über die Be—
jetzung der Zivil- und Strafkammern zu entscheiden haben, ein⸗
wirken, so würde sich wieder die Klage erheben, daß wir in die
Unabhängigkeit der Gerichte eingreisen. Der Abn. Dr. Junck
laubte, daß die Hilfsrichterbeim Reichsgericht besser
»erwendet würden, wenn nicht die Mitglieder der einzelnen Se⸗
nate verniehrt, sondern mehr Senate geschaffen würden. Bereits
bei der Beratung des voriährigen Gefetzes habe ich darauf hinge⸗
viesen, daß das auch seine aroßen Bedenken hätte. Es würden
mit der Zeit acht oder neun Senate gebildet, und diese müßten
A2 und Ils wieder aufgehoben und auf sieben reduziert werden.
Daun müßte eine vollständig neue Geschäftsverteilung eintreten,
vährend jets die materielle Verteilung der Geschäfte unter die
inzelnen Senate dieselbe geblieben ist, wie bisher und eine Aen—
—
aötig ist. Uebrigens geben die Senatspräsidenten den Vorsitz nicht
ede Woche ab, sondern ieden Monat zweimal. Das Grund⸗
zuch ist im größten Teile Deutschlands angelegt. Für 960 von
1134 Grundbuchgemarkungen ist es durchgeführt, für den Resi—
verden noch zwei Jahre erforderlich sein. Die Sache wird wei
er verfolgt, und ich werde jederzeit in der Lage sein, dem Reichs
age darüber Mitteilung zu machen. Was die Sicherungs-
ypotheken anbetrifft, so sind, wie schon ein Kommissar in
er Petitionskommission erklärt hat, Schwierigkeiten vorhanden.
Zie können nicht überwunden werden, bevor man sie nicht in ihrer
»ollen Tragweite erkannt hat, damit eine Aenderung nicht größe
ꝛen Schaden anrichtet als das Uebel selbst. Vor allen Bingen
Jehen die Aeußerungen über die wirtschaftlichen Folgeerscheinun—
den noch sehr weit auseinander. Der Gegenftand
vird aber, weiter aufmerksam beobachtet werden.
Was die Gebührenordnung der Rechtsanwälfte be—
rifft, so haben die Anwaltskammern die ihnen zugegaängenen
zragebogen an die preußische Justizverwaltung zurüdgehen 38
nit der Begründung, die Fragen erschienen nicht geeignet, die noti—
ien Unterlagen gor statift isches Material zu geben. Das 72* zu
iner gewissen Verlegenheit. Wir nehmen an, daß der Reichstag
gicht gesonnen ist, eine rhehnns der Gebühren, vorzunehmen, wenñn
sie nicht als notwendig nachgewiesen ist. In diesen Tagen sind nun,
im wenigstens nach P i etwas statistisches Material zu be—
chaffen, die Bundesregiexungen ersucht worden, von den Praͤfiden-
sen der, Oberlandesgerichte eine gutachtliche Aeußerung daruüber
einzuziehen, ob eine Erhohung der Gebührensätze geboten ist, und
n pen Umfange. Die Fragen beziehen sich im wesenktlichen
uur auf eine Aenderung des 89 der Gebührenördnung. Es darf
leichwohl erwartet werden, daß die Aeußerungen allgemeiner ge—
jalten sein werden. Die Antworten werden in nicht zu ferner Zeit
eingehen, sie werden dann zusammengestellt werden und gegebenen-
alls dem Reichstage eine neue Gebihrenordnung ehen Auf den
brozeß Becker kann ich nicht eingehen, da das ÜUrleil noch nicht
zechtskräftig ist. Der Abg. Ablaß hat gestern behaupiet, der
frühere Landrat eree bis zur Stunde noch aus
einem staatlichen Fonds Bezüge erhalte. Ich habe verfucht, mir das
Material zu beschaffen. Osterroht hat sich bereits vor 1899 einer
deihe nene aber kriminell nicht strafbarer Handlungen
huldig gemacht. Am, 23, Mai 1899 erlitt er einen Sturg vom
Pferde, der anscheinend Geisteskrankheit bei ihm zur Folge gehabt
jat, Im August 1899 hat sich dann Osterroht ein Vergehen gegen
175 StGB. zuschulden kommen lassen. Um sich der slrafgerichi—
ichen Verfolgung zu entziehen, entwich er nach der Schweiz und
»lieb in einer Heilanstalt bei Zürich. Das eingeleitele Strafver—
ahren ist durch Verfügung des Ersten Staatsanwalts in Greifs⸗
»ald eingestellt, worden, weil die vor dem August 1809 liegenden
dandlungen nicht kriminell strafbar waren und Ofterroht nach dem
vutachten des Anstaltsarztes und des Kreisphysitus feit dem Sturz
om Pferde am 22. Mai 1899 geisteskrank, mishin unzurechnungs
ähig war, und schließlich, weil die Schweiz wegen Päderaftie nicht
rusliefere. Wegen der bor dem Mai 1899 liegenden Handlungen
wurde ein Disziplinarverfahren gegen Osterroht eingeleitet. Es
ndete damit, daß Osterroht durch Urteil des Staatsministeriums
»om 28. Juni 1801 wegen der vor dem Jahre 1899, vor Ausbruch
»er, Geisteskrankheit, begangenen kriminell nicht strafbaren, Ver—
ehlungen zur Strafe der Dienstentlassung unter gänzlichem Verlust
aller —— verurteilt wurde. Demgemäß ist die An—
zabe, Osterroht erhalfe bis zur Stunde noch Bezüge aus einem
staatlichen Fonds, nicht — Osterroht ist dann, soweit fest-
zestellt, 1909 in der Landesirrenanstalt Teupiß untergebracht wor—⸗
den. Ueber jsein Verhalten in der Zwischenzeit, insbesondere zur
Zeit der vom Abg. Ablaß erwähnten ängeblich in Karlsruhe erfolg—
en Verurteilung zu 200 M Geldstrafe, ist uns gar nichts bekannt.
1910 ist es dann errope gelungen, aus der Anstalt Teupitz zu
entweichen, er ist jedoch demnächst in Steglitz wieder uese
worden und, soweit bekannt, wieder nach Teupiß zurü r
worden. Für die Handlungen, für die er verantwortlich Jemacht
werden konnte, ist eine ausreichende Sühne erfolgt. und wegen des
Vergehens gegen 8 175 konnte Osterroht überhaupt nicht zur Ver—
antwortung gezogen werden. Einen Vorwurf gegen die Justizver—
valtung wird man daher in keiner Weise erheben können.
Abg. Werner (Refp.): Die Gebührenordnung für
zeugen und Sachverständige ist über 30 Jahre alt und
Fringend reformbedürftig, die Reform sollte mit tunlichster Be⸗
chleunigung erfolgen. Die Bekämpfung der Schundlitera⸗
uxr wird ja mit erfreulicher Energie betrieben, es bleibt aber
auuff diesem Gebiet noch viel zu tun. Die Zulassung von Kindern
u den Kinematographen-Vorstellungen sollte ebenfalls unter
Wann Gesichtspunkt revidiert werden. Gegen die Ueberhand—
tahme des literarischen Schundes, wie er sich z. B. auf den
ztraßen Berlins breit macht, müßte mit polizeilichen Maß⸗
iahmen eingeschritten werden. Die Anregung, daß jeder an⸗—
ehende Jurist aug in der Strafanstalts-Verwaltung 3
verden sollte, ist sehr en Der 8 193 des Strafgesetz⸗
uchs, die Wahrung berechtigter Interessen, sollte jedem Redak⸗
eur zugebilligt werden, der Mißstaünde aufdeckt. Die Strafaesetz⸗
jebung auf dem Gebiet der Nahrungsmittel-Verfäl—
chung muß geändert werden. Es ist Tatsache, de die Kost⸗
pieligkeit des Verfahrens den Betroffenen geschäftlich ruinieren
ann, obwohl die Bestrafung eventl. nur eine gexingfügige ist.
In dem Verfahren gegen den Abgeordneten Kölle hat die
ztaatsanwaltschaft ihre Befugnisse überschritten und, das Gesetz
erletzt; die Staatsanwälte stehen ebenso gut wie jeder andere
inter dem Gesetz, nicht über ihm. Der Dortmurnder Fall
3chulte, eine Meineid Sache die ähnlich liegt wie dex Essener
zall, hat, trotz aller Bemühungen namentlich meines Freundes
zehrens beim preußischen Justizministerium, keine Dreme
rxfahren, Wenn das Vertrauen zur Rechtspflege im Volk erbal⸗
en bleiben soll, muß der „gleiches
secht. für alle“ unverbrüchlich, hochgehalten Wwerden.
Abg. Siedeheget (Soz.); Die Signatur unserer Justiz ist
allerdings die Klassen jüstiz. Das neue Strafrecht muß
virklich modern werden, namenklich hinsichtlich des Koalitions⸗
echtsschutzes der Arbeiter. Wie mit zweierlei Maß gemessen wird,
‚eigt ein vom Vorwärts be eete Geheimerlaß des Kultus⸗
ministers, nach dem sozialdemokratisch gesinnte
Turnlehrer als sittlich minderwertig ihne werden,
denen der Erlaubnisschein zu versagen sei. Wie agen Turner
wird ic gegen Sänger vorgegangen. So ist in Solingen ein
großer, bewaͤhrter Atbeiter-Kinderchor unltersagt, wor⸗
en unter offenbarer Verletzung der Gesetze und gegen die re
prechung des Reichsgerichts. Glocke.) GBizepräsident Dr. Spahn
zittet den Redner von Erörterungen Abstand zu nehmen, die in
derartig losem Zusammenhang mit dem Thema Ich
meine, den Staatsssekretär soll die Bestrafung der Beamten herbei—
ühren, die sich in dieser Hinsicht eiehemach haben. Das
sssener Urteil, durch das brave Männer ins Zuchthaus
jeschickt wurden, fällt den Geschworenen gur Last, die geradezu
erbrecherisch ihr Votum gefällt haben. Die Fälle von Klassen⸗—
ustiz sind so zahlreich, daß ich die ganze Sißzung und, darüber
inaus von ihnen reden könnte. (Große Heiterkeif und Unruhe.)
das Vergehen der Bonner Borussen hat Dr. Varenhorst als
armlosen Budenzauber bingestellt. der im Normalzustand der
xtudenten, der Trunkenheit (Heiterkeit) verübt sei; wir sind
teinezwegs blutdurstig, wir wollen nur gleiche Milde auch oer
Arbeitern gegenüber angewendet wissen A richtig!), die meis
mit drakonischen Strafen bedacht werden. Das Begnadigunge
Mtent wollen wir nicht, wir wollen nur gleiches Recht für alle,
Weshalb wird gepen die Mörder des Arbeiters ße
manm in Mogbit nicht vorgegangen, weshalb auch nicht degen
den Polizeipräsidenten und den Minister des Innern, die die
Mörder noch lobpreisen und begünstigen? (Vizepräsfiden
Schulzz ruft den Redner zur Ordnung, Bravo rechts
Kleine Vergehen werden scharf verfolgt, gegen Mörder in Schutz
mannsuniform wird nicht vorgegangen; den Breslauer —
hacker * man noch nicht gefunden. Wir verlangen, daß der
Staatssekretär die Verfolgung dieser Mörder veranlaßt, damit
die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. (Bravol bej
den Sozialdemokraten.)
Staatssekretär Dr. Lisco: Nachdem der Präsident den Vor—⸗
redner schon mit einem Ordnungsruf belegt hat für die Ausfuüͤh—
eungen, die er über hohe ede Beamte gemacht hat, kann ich
sagen, ich habe zu der Angelegenheit nichts mehr zu sagen. (Un
ruhe.) Die Worte Stadthagens richten sich selbst. GBeifall rehn
Lärmi bei den Sozialdemokraten. Abg. Ledebour ruft!
Drückebergerei! Glocke.)
Vizepräsident Schultz: Herr Ledehour, ich ruse Sie zur
DOrdnung. Ruf bei den Sozialdemokraten: Hat recht!)
Abg. Seyda⸗-Wreschen (Pole): Der Anerkennung unserer
Rechtspflege vermag ich mich leider nicht anzuschließen. Sie wird
zielfach zur Dienerin der Politik gemacht.“ Vor allen Dingen
ollten die Richter die Sprache der Bevölkerung kennen, über die
ie zu Gericht sitzen sollen. Zu den Negern und Chinesen —*
nan Richter, die die Suaheli- und chinesische Sprache beherrschen,
anders aber bei den Polen. Zum mindesten sollten eingeborenèe
pvolnische Dolmetscher verwandt werden und den Rich—
xern die hakatistische Betätigung verboten werden.
Staatssekretär Dr. Lisco; Unrichtig daß das Reichs
rericht stets zugunsten der Polizei urteilt. Zurückweisen muß
ch den Vorwurf, als ob das Reichsgericht absichtlich so urteile.
Abg. Dr. Müller-Meiningen (F. V.): Auch wir begrüßen die
Erweiterung und Vereinheitlichung der internationalen Rtechts-
eziehungen und bedauern sehr, daß England noch immer einer
nternativnalen Regelung des Wechselrechts Schwierigkeiten
nmacht. Den Staatssekretär möchte ich aufmerksam machen auf
die Unzuträglichkeiten, welche aus der Eintragung von Kon—
umacial⸗-Urteilen von Schweizer und italienischen Fer gen für
deutsche Staatsbürger entstehen. Den Beschwerden über un⸗—
weckmäßige Leitung von Monstre-Prozessen stehen gerichtliche
Blanzleistungen auf diesem Gebiete gegenüber, sodaß wir diese
Beschwerden, nicht gegen den deutschen Richterstand verallge⸗—
neinern dürfen. Tatsächlich gehen manche Gerichte nicht den
Veg, den sie , müßten, um den Anschein zu vermeiden, daß
ie in das politische Paͤrteigetriebe sich hineinziehen lassen. Es
vird ein Strafverfahren erhoben gegen Arbeiter, welche am
Zonnabend ein Flugblatt verbreitet haben; der politische Geg⸗
ier hatte seine Flugblater zu Wagen und zu Fahrrad ver⸗
reitet, die Verfolgung seines Reates wurde aber vom Gericht
ibgelehnt, weil darin eine mit Anstrengung verknüpfte Tätigkeit
nicht gefunden wurde., Das heißt doch tatsächlich mit zweier—
lei Maß messen.“ Gehr richtig links.) Politisch merkwür—
dig ist unzweilhaft auch die Verurteilung wegen groben Unfugs
uinter Anwendung des dolus eventualis wegen der Hochrufe auf
das Reichswahlrecht; das sieht doch so aus, als wenn
die Gerichte auch mit Politik treiben wollten. Ebenso
merkwürdig ist die allerneueste Nachricht, wonach als un⸗
volitischer Verein heim Amtsgericht Berlin-Mitte der
Bund der Landwirte eingetragen worden ist
Ver sieht den Bund der Landwirte und seinen Direktor Diederich
Sahn nicht als Politiker an? Wie streng sind doch sonst die Ge⸗
ichte bezüglich der Requisiten der sozialpolitischen oder politischen
Gereinszwecke! Die Gewähr für eine gute Justiz liegt gewiß in
einer Gewähr für die Persönlichkeit des Richters; aber das ist
auch eine Frage der Erziehung. Die neue Bewegung verlangt,
daß die zukünstigen Richter als Gegenwartsiuristen ausgebildet
werden, als praktische Männer mit gesundem Blick fürs Leben,
ohne bloße Attengelehrsamkeit. Da heißt es aber, schon auf dem
Bymnasium mit der Reform beginnen und auf der Universität
üchtig damit fortfahren. Die ganze Uusbildung der Ju-—
risten muß geändert werden, wenn wir der neuen, von
Jena ausgehenden Bewegung gerecht werden wollen. Die An—
ellungsverhältnisse der deutschen Richter werden immer schlechter;
im allerschlechtesten sind sie in Württemberg. Wenn der Staat
nicht bald mit Reformen vorgeht, so werden unsere Juristen
dahin gehen, wo sie besser fortkommen, in die Verwaltung oder
n den Privatdienst. Wir müssen dem Richterideal näher kommen
vie es Adickes vorschwebt. Die Ausmerzung der Hilfsrichter muß
zurchneführt werden. Die Ursache der Unzufriedenheit
mitder heutigen Rechtspflege, die große Verstimmung
zwischen Volk und Recht liegt zum Teil in der mangelnden Auf⸗
lärung über Fehlsprüche einzelner Gerichte, zum Teil auch in
der Schwierigkeit, den durch die Rechtsprechung verletzten Indi—
hidualismus aufzuklären. Oft ist es auch totes und nicht lebendi—
ges Recht, das die Richter angewendet haben. Endlich aber tritt
hinzuu das Odium einer in Deutschland unglaublich zu—
rückgebliebenen Polizei-Strafgesetzgebung.
Wir dürfen nur an den bekannten Fall der galizischen
Dienstmangd Ciaston erinnern, die 8S Monate wegen einer an⸗
geblichen Uebertretung in Haft saß. Die Sache ist auch noch nicht
bollständig aufgeklärt. Der preußische Minister des Innern haf
die ganze Schuld auf die ihm untergeordneten Behörden ge—
schoben; ich verstehe das nicht. Aus den Akten, die mir zur Ver
fügung gestellt find, geht hervor, daß der Rechtsanwalt, der die
Sache geführt hat, das Ministerium bereits am 5. Juli darauf
uifmerksam machte, daß die Dienstmagd schon ein halbes Jahr in
daft sei, und daß er vom Minister des Innern überhaupt keine
Antwort erhalten hat. (Hört, hört! links) Hier tut Aufklärung
)ringend not. Erst am 28. Oktober 1910, also nach 11 Monaten, ist
ine offizielle Kundgebung erfolgt. Man findet kein Wort der
Entschuldigung für diese Verletzung des Rechtsempfindens nicht
allein des deutschen Volkes, sondern, wie aus den Verhandlungen
der österreichischen Delegation hervorgeht, ganz Europas. Die
Lresse hat in letzter Zeit gezeigt, daß dieser Fall nicht vereinzelt
st. Aus Holstein sind ganz ähnlich gelagerte Fälle gemeldet.
Unser ganzes Rechtsleben leidet darunter. Wir müssen dringend
derlangen, daß die Reichsgesetzgebung gründlich Remedur schafft
durch Aufräumung mit diesem ganzen Wust von Polizei⸗-Straf⸗
gesetzbestimmungen. Ein weiteres beschämendes Kapitel ist die
tendenziöse Behandlung der Zeugen und Ange
NLagten, wie sie im Schönebeck-Prozeß zutage getreten ist
Der Fall Schönebeck ist ebenso wie der Fall Osterröht auf die
nangelhafte deutsche Irren⸗-Gesetzgebung zurückzuführen
Man muß unbedingt an eine Reform derselben herantreten
Ich erinnere daran, daß einer unserer Reichstagskollegen ebenso
vie sein Sohn von einem erklarten Narren mit Schmähbriefen
verfolgt und bedroht wird und daß, wie wir hören, dieser Narr
ietzt guch täglich das Reichstagspräsidium mit Schmähbriefen be⸗
rästigt. Da muß man wirklich sagen, ist denn unsere Irren⸗
gesezgebung außerstande, das Publikum gegen Narren zu
zu schützen? In Prozeß Becker haben alle Parteien das
Augeheuerliche des Strafmaßes anerkannt. Was kann sich sonst
semand für ein Jahr Gefäugnis leisten? Nach einer Statistik
iäber die Tätigkeit einer Strafkainmer sind folgende Strafen
verhängt: Urkundenfülschung und Betrug 3 Monate, Diebstahl
im Rückfall 3 Monagte, Sittlid teitsverbrechen 7 Monate, Kuppelei
und Entführung 3 Monate, Zuhälterei j0 Monate usw. Also
der Zuhälter, der, Auswurf der menschlichen Gesellschaft, kommt
mit 10 Mougten Gefängnis davon; der rückgradfeste Mann, der
nur aus politischer Ueberzeugung in einen ihm aufgedrängten
dampf Leingetreten ist, erhält Jahr Gefängnis, weil er sich gegen
Zeine Maiestät den Preußischen Landrat aufgelehnt hat.“ Die
Lrozeßführung war geradezu unbegreiflich. Jedesmal, wenn die
Zache für den Landrat heikel wird, spriat Jofort der Regie—
ungspräsident Blomeyer mit dem Amtsgeheimnis dazwischen,
der es wird dafür gesorgt, daß die Frage von seiten des Gerichté
uriickgewiesen wird. Das stärktste Stück in dem Prozeß erblicke
h in der Vorenthaltung der Akten über den liberalen Verein
Zustimmung links.) Merkwürdig war auch die Drohnng, daß
venn eine Erklärung des Rechtsanwalts Schücking aufrecht er
alten würde, das Gericht seine Schlüsse aus dieser Llufrechterhal
ung ziehen miisse. Alles, was zur Entlastung des Angeklagten
Aienen konnte, wurde bei der Beweisfiührung abgeschnitten. Er
onnte und wollte beweisen, daß er vom Irhru. v Maltzahn auf—