Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

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2 * 3 — * 5* V 8 — 9 J Y * — 9 3 30 * * 5 8 * — 
Ausgabe A. 
Abend⸗Blatt Ur. 93. 
—— — — —B 
Buntes Allerlei. 
O.X. „Meine Serren stollegen und Janoranten!“ Ein 
milsanter Fall von offenherziger Gradbeit versetzt die philosophische 
Fakultät der Unwerlität Toulouse im Erregung. Der Lehrstuhl für 
Bhysik war neu zu besetzen, und Prof. Bouasse war beauftragt, seinen 
dollegen über die Befähigung der Kandidaten Bericht zu erstatten. 
Dieser begann seine Darlegungen mit jolgenden kurzen und markigen 
Zaãtzen: „Ich werde Ihnen keinen Bericht erstatten und Ihnen auch 
agen, warum. Mit Ausnahme des Prof. Camichel sind Sie in Sachen 
er Physik völlige Ignoranten. Wenn ich daher vor Ihnen die 
zefähigung der Kandidaten erbriern wollte, würde ich meine und Ihre 
eit vergeuden. Auf der anderen Seite wäre es überflüssig, dem 
Zrof. Camichel, dem einzigen Sachverständigen. das erit vorzutragen, 
zas er ebenso gut weiß wie ich. Was Ihre Janoranz anbelangt, jo 
tbewielen, daß sie unuberwindlich ist. Wenn Sie zur Beratung 
ommen, wissen sie längst, bevor der Berichterstatter auch nur gesprochen 
at, wen sie wählen wollen. Wenn ich also meinen Bericht X 
hürde, würde diese Darstellung nichts fruchten, auch nicht bei dem 
konseil supérieur, dessen Inkempetenz die Ihre noch übertrifft· Dann 
erbreitete sich der temperamentvolle Redner über den Phyjiker 
Grof. Bouty, der durch seine miserable Lehrmethode die Phyiik her⸗ 
bgezogen habe. Inmitten der wachsenden Erregung der Kollegen 
bloß der Gelehrte mit folgenden Worten: „Die herrschenden Syst eme 
ichten ein Heer von Unfähigen und machen die französische Wissenschaft 
ind unser Instilut zum Gespött der Welt. Derselbe Vrofessor Bout 
ehauptet, daß der beite ranzösische Physiker der Gegenwart Mme. 
kurie sei, die eine Polin ist. In Wirklichkeit ist die französische 
Itademie der Wissenschaften der Zufluchtsort einer Armee von Jano— 
anten, die taum Schullehrer, Dorftierärzte oder Walserleitungsaufieher 
ein können.“ Und der Redner schloß seine im alademischen Leben 
nicht alltägliche Ansprache mit der beruhigen den Erklärung, daß seine 
dollegen über ihre eigene Ignoranz in Sachen der Phmyjik nicht zu 
rrölen brauchten, sie, die doch alle ihren Lehrsiuhl nur durch wirk- 
liches Verdienst errungen haben, ohne Proteltion; und Stützen, sie 
ie als Leuchten in ganz Europa bekannt und geehrt sind. ..“ 
C.. Das großze Beispiel. Das Phänomen des berühmten 
prechenden Hundes Don erregt auch im Auslaud so lebhaftes Inter⸗ 
sse, daß der italienische Journalist Fabiani, die Reile nach Letzlingen 
icht gescheut hat, um Don zu erblicken. Dem wißbegierigen Italiener 
jar es zwar nicht vergönnt, das Wundertier zu sehen, weil es sich 
—ED 
ber konnte der fremde Gast eine merkwürdige Erscheinung konitatieren: 
m Umlreise von 30 oder 40 km von Letzlingen ist die ganze Land⸗ 
ebölkerung von einer seltsamen Manier ergriifen, wrechende Tiere 
u züchten. Man hat eriahren, daß jür Don bereits 50000 Mugeboten 
varen, und daß dies Kaufgebot abgelehnt wurde. Wer in iener Gegend 
zur einen Hund hat, verbringt seine Tage damit, ihm Sprachunterricht 
u erteilen; wo kein Hund isi. muß die Katze herhalten, ja sogar die 
Ziege und der Esel werden nicht verschont. Dabei ist man sich darüber 
lar, daß gut Ding Weile haben will, und daß man sich mit Geduld 
vappnen muß, ehe man goldnen Lohn erwarten darf. Haben doch 
ie Belitzer von Don. dem Wunderhund, sechs Jahre gebrau ht, um 
n mühevoller täglicher Arbeit den Hund für die menschliche Sprache 
zu erobern. „In Gardelegen sitze ich friedlich in einem kleinen Gasthof. 
zIn der Ecke, neben dem Ofen, hodkt eine Frau vor einer Henne uind 
obird nicht müde, dem braven Federvieh das Wort „Haben“ vorzu⸗ 
rechen. Aber das Huhn bleibt stumm. Schließlich nach einer Weile, 
träubt es ein wenig die Federn und läßt ein kurzes Gackern ertönen: 
ailig reicht ihm nun die Frau zur Belohnung einige Körner. Eine 
albe Stunde lang sehe ich mir die Sache an, bis der Wirt schließlich 
ich einmenat und der Eheliebsten kräftig zuruft: „Wann wirst du wohl 
enug haben? Siehst du nicht, daß du verblödest?“ Da erhebt sich 
»ie Hühnerpädagogin, und stolze Verachtung klingt in ihrer Stimme 
als sie ihrer ungeduldigeren Hälfte erwiderte: „Sechs Jahre haben 
sie gebraucht, bis der Don gewprochen hat; wie kannst du verlangen. 
daß meine Henne schon nach zwei Monaten „Haben“ sagen soll!“ 
Mißglũücktes Dynami!attentat auf ceinen Pulberturm. Die 
Bevölkerung des Kriegshafens von Toulon wurde in der 
Freitag⸗Nacht durch den dreisachen Knall einer Explosion 
in Aufregung versetzt. Im Laufe des Sonnabend-Vormittags 
tellte es sich heraus, daß in dem Pulvermagazin von St. 
Anne. unmittelbar hinter dem Mittelmeerbahnhof, drei 
Dynamitpattonen explodiert waren; der benachbarte Pulver⸗ 
urm, auf den es abgesehen war, blieb jedoch unversehrt. 
Baherns Bevölkerung beträgt nach dem soeben veröffent⸗ 
ichten amtlichen Ergebnis der Volkszählung 6876497 Ein⸗ 
wohner, d. i. gegen 1905 eine Zunahme von 5,4 und gegen 
1900 von 5,6 0. Die Männer haben sich um 5,3, die Frauen 
im 5 00 vermehrt. Die tatsächliche Mehrung ist hinter ihrem 
atürlichem Wachstum, wie schon seit Jahrzehnten, durch einen 
Wanderverlust zurückgeblieben, von dem nur Oberbayern, und 
«war ohne München, ausgenommen ist, und der in Niederbayern 
und in der Rheinpfalz am stärksten auftritt 
Aus den Nachbargebieten. 
Hanfesft ãd te. Man Wan 
gamburg, 20. Febr. Die Burgerfchakt hät geuh 
Antrag des Senates zum Zwede der Errichtung und des Be— 
triebes einer Säuglingsstation am Hamburger Kinderhospital 
zine einmalige Unterstützung von 100 000 M bewilligt. 
Die Teilnehmer der Studienfahrt der 
Berliner Vereinigung für staatswissenschaft⸗ 
siche Fortbildung besichtigten Sonnabend vormittag die 
Kunsthalle und das Museum für Kunst und Gewerbe. Nach⸗ 
mittagss nahmen die Herren Hagenbedcks Tierpark in Augenschein. 
Umfangreiche Diebstähle im Staatslabora— 
korium in der Jungtusstraße sind in den letzten drei Jahren 
iederholt vorgekommen, jedoch war es nicht möglich, die 
Täter zu entdecken. Unter den gestohlenen Sachen befanden 
sich chemische und photographische Apparate, Kupferdraht, 
Marmorplatten, Blitzableiter und viele andere mehr oder 
weniger wertvolle Gegenstände, die zusammen etwa 10 000 M 
Wert besitzen. Jetzt hat die Polizei die beiden 20 und 16 
Jahre alten Sohne des Hauswarts unter dem Verdacht der 
Diebstähle verhaftet. Der altere Bruder hat schon in einer 
früheren Stellung zahlreiche Diebstaäͤhle ausgeführt. Der Vater 
des edlen Paares ist gleichzeitig wegen Hehleret verhaftet 
worden, mußte aber wieder freigelassen werden. da ihm keine 
Schuld beizumessen ist. 
Das Filchnersche Expeditionsschiff „Deutsch⸗ 
land“ ist unter der Führung des Kapitäns Vahsel Sonntag 
morgen nach einer sehr stürmischen Reise von Sandefiord hier 
eingetroffen. Es wurde an der Werft von Blohm & Voh 
festgelegt, die noch einige neue Anlagen auf dem Schiff 
ausführen wird 
— 
Sarau wurde Lehrer Plage, Hochdonn, zum 1. April über⸗ 
tragen. 
R Timmendorfer Strand, 20. Febt. Gekauft 
zat S. Wehde zur Parzelllerung die 70 To. grobe Landstelle 
es Zufners Grimm, Semmelsdorf, und die Schnackhche Wirt⸗ 
chaft; die Wirtschaft wird Grimm Übernehmen. 
Lauenburg. 
S Rabeburg, 20. Febr. Dex nationalliberale 
gerein des RKreises Laue nburg war Somtag nach- 
nitiag zu einer Generalversammlung im Hotel „Stadt Ham⸗ 
urg! zusammengetreten, um über das Vorgehen und Verhalten 
er Nationalliberalen bei der kommenden Reichstagswahl zu 
eraten. Für diie Parteifreunde war es aber von Bedeutung, 
ak vor Eintritt in die Besprechung Generalsekretär v. Trotha, 
liel, von der nationalliberalen Partei Schleswig-Holsteins einen 
urzen, aber klaren Ueberblick aber die politischen Verhältnisse 
m Reiche, Staate und der Provinz gab, um im Anschluß hieran 
ie Lage im Herzogtum Lauenburg einer besonderen Betrachtung 
u unterziehen. Ganz besonderen Wert aber legte der Redner 
arauf, festzustellen, dah dieses alte Herzogtum lange Jahre 
indurch der Besitz der nationalliberalen Partei gewesen ist — 
zammachers Kreis — und erst durch das Abschwenken eines 
rüheren nationalliberalen Vertreters in das fortschrittliche Lager 
inen größeren Teil der Wähler irre gemacht, leider mit in 
vas linksliberale Lager zog. Zum lebhaften Bedauern eines 
rohßen Teiles der Parteifreunde war dann lange Jahre ver—⸗ 
alinismäßig wenig Arbeit von der nationalliberalen Partei 
ereistet worden und so ist es nunmehr von den Parteifreunden 
nit Freuden begrüht worden, daß endlich wieder die Arbeit 
mergisch aufgenommen wurde. Den Auftakt hierzu gab die 
zut besuchte Versammlung im Herbst in Ratzeburg, die von dem 
damaligen Vorsitzenden, Herrn Professor Harries, geleitet 
wurde und in der Herr Dr. Schisferer, Hohenwarte, der Vor⸗ 
itzende der nationalliberalen Partei der Provinz Schles wig⸗ 
ʒolstein, in einem ausgezeichneten Vortrage die Parteifreunde 
in die Arbeit rief. Im Anschluß an die Darlegungen des Herrn 
Trotha forderte sodann der munmehrige Vorsitzende Herr Gym⸗ 
afialdirektor Bottermann die anwesenden Herren auf, in freier 
lussprache ihre Meinung zu sagen und teilte bei dieser Ge— 
egenheit nunmehr den versammelten Varteifreunden mit, daß 
s3 der Parteileitung des Herzogtums gelungen sei, den früheren 
gorsitzenden und allseitig bekannten und beliebten Herrn Prof. 
zarries, jetzt in Kiel wohnend, als Kandidaten für die na— 
ionalliberale Partei des Kreises 10, Herzogtum Lauenburg, 
u gewinnen. Die Frage dieser Kandidatur stellte Herr Gym⸗ 
asialdirektor Bottermann sodann zur Besprechung, und nach 
jer nunmehr anschließenden Aussprache wurde unter lebhaftester 
JZustimmung Herr Professor Tr. Harries, Kiel, als Kandidat 
instimmig von der nationalliberalen Partei aufgestellt. Herr 
ßrofessor Harries hat diese Kandidatur dankend angenommen. 
die ganze Versammlung und die Aufstellung des Kandidaten 
eigt auch hier wieder, daß die ntionalliberale Partei, wenn 
ie nur rüstig an Nie Arbeit geht, überall wieder ihre Mannen 
ur Arbeit aufrafft und daß ihr Programm noch die alte Zug⸗ 
raft besitzt. Mit Worten des Tankes an die Versammelten 
ind an den Redner schlok Herr Gnumnasialdirektor Bottermann 
die Sitzung. 
Rs. Büchen-Bahnhof, 20. Febr. Ueberschwem⸗ 
nung. Durch den seit drei Tagen herrschenden starken. mit 
Zturm verbundenen Regen ist die Steinau in ihrem unteren 
daufe weit über ihre Ufer getreten und hat die anliegenden 
Wiesen und Felder überschwemmt. — Verunglücdt ist 
n der Nacht zum Sonntag der Rangiermeister Owe dadurch, 
zahß er unter die Räder eines Güterzuges geriet, wodurch 
hm ein Bein ganz und das andere zum Teil abgefahren 
wurde. Der Tod trat alsbald ein. Er hinterläßt eine Frau 
und mehrere unerwachsene Kinder. 
D. Sandesneben, 20. Febr. In den Ruhestand 
retreten ist der Postbote Witten, der fast 32 Jahre ununter⸗ 
zrochen zu Fuß den hiesigen Landbestellbezirk besorgte. Dem 
yFflichtgetreuen Beamten ist das Allgemeine Ehrenzeichen ver⸗ 
iehen worden, außerdem ist er im Besitz von anderen Orden, 
zie er 1870/71 als Teilnehmer verschiedener Schlachten er⸗ 
jalten hat. Interessant ist es, wenn man berechnet, wie 
roß wohl die Strede ist, die er in den 32 Jahren ge— 
wandert ist, da kommt man zu dem ganz erstaunlichen Resultat, 
daß Witten etwas über siebenmal den Umfanq unserer Erde 
u Fuh zuruckgelegt hat. 
Großherzogtũmer Medlenbura. 
88 Grevesmühlen, 20. Febt. Der Gewerbe— 
»erein veranstaltete im „Deutschen Hause“ eine öffentliche 
zersammlung, in welcher Malermeister Prohaska, Schwerin, 
iber die Weltausstellung in Brüssel einen Vortrag mit Licht⸗ 
hildern hiest 
Schles wig⸗ Holtein. 
Flensburg, 20. Febr. Die Winkerversamm⸗- 
lung des Zentral⸗Fischereivereins für Schleswig⸗ 
Holstein fand Freitag unter Vorsitz des Hofbesitzers Conze, 
Sarlhusen statt. Außer den zahlreich anwesenden Mitgliedern 
waren auch Behörden aus« der Provinz. der Stadt Flensburg, 
der Stadt Altona, sowie die Hansestädte Hamburg und Lübed 
vertreten. Auch die Landwirtschaftslammer hatte einen Ver— 
treter entsandt. Die abgeänderten Statuten fanden in der 
neuen Fassung Genehmigung. Neueintretende Mitglieder haben 
in Zukunft ein Eintrittsgeld zu zahlen. Der Geschäftsführer 
Nanz soll mit einjähriger Küundigung und nach füunf Jahren 
nmif Lebenszeit angestellt werden. Der Vorstand soll durch 
wei Vertreter aus dem Furstentum und der Stadt Labeck 
rgänzt werden. Beschlossen wurde die Aufhebung der bisher 
rhobenen Vermittelungsgebühr für Marktware und Ersatzware. 
Diese Einnahmen waren bisher nur minimal. Auf Anregung 
des Vorstandes soll ein Fonds in Höhe von 7000 M 
ingesammelt werden, um bei dem verunglückten Transport 
erbeigeholter Ersatzware aus Schlesien herangezogen zu werden. 
Bei dieser Beratung kam es zu scharfen Auseinandersetzungen, 
da die dem Verein angeschlossenen Fischkaufleute die Ansicht 
vertreten, der Verein solle nicht als Kaufmann, sondern nur 
als Vermittler auftreten. Er bedeute in gewisser Weise eine 
Konkurrenz. Die Verlegung der Geschäftsstelle mit der Brut⸗ 
anstalt von Nortorf nach Plön wurde verschoben, bis dem 
Verein Klarheit gegeben ist über die zu erwartende Unter⸗ 
stützung des Kreises und der Stadt Plön. Die praktische 
Zusammenarbeit der biologischen Station mit der Fischbrut⸗ 
anstalt wurde als wohl erwünscht bezeichnet. Die Kosten⸗ 
anschläge bezifferten sich auf 20. bis 30 000 M. 
Neustadt, 20. Febr. Tragisches Geschick In 
Vadersdorf beabsichtigte das Ehepaar Heinrich Hofeldt und 
Frau das Fest der goldenen Hochzeit zu feiern, alle Vor—⸗ 
bereitungen waren getroffen, als in der Nacht vorher der 
Jubelbräutigam plötzlich starß. — Ein Walfisch wird 
chon seit mehreren Tagen in der Neustädter Bucht beobachtet. 
Am Freitag erschien er nahe bet Scharbeutz. Es ist ein 
großes Tier. 
Großherzogtum Oldenburg, Fürstentum Lübed. 
X. Ahrensbök, 20. Febr. Den Achtuhr-⸗Laden⸗ 
chluß beabsichtigen die hiesigen Ladeninhaber einzuführen. 
Wie man hört, sind es nur drei Stimmen, die sich dagegen 
erklärt haben. Man will das gesammelte Material der Regie— 
rung unterbreiten, damit die das weitere veranlaßt. — Der 
Schulverband und die Schulkommission beschlossen, 
jetzt in Holstendorf ein Schulhaus zu bauen, ähnlich wie das 
vor einigen Jahren erbaute Schulhaus in Schwochel. Bau⸗ 
unternehmer R. Wittern hier wurde beauftragt, einen Riß 
zu entwerfen. Das Ahrensböker Schulhaus soll einen Stein⸗ 
vorbau erhalten, der ungefähr 1280 Mäkosten wird. — Die 
Stelle eines zweiten Lebrers an der Schule ve 
— 
wie entsteht der Stil? J 
Von K. G. Osthaus. 
Was schafft den Stil? Ist es die Form, die der Künstler 
in seiner Phantasie erdenkt, für die er dann das entsprechende 
Material oder die entsprechende Vechnik sucht? Oder sind es 
die technischen Erfindungen, die Materialien, die dem Künstler 
geboten werden und die ihn dann veranlassen, seine Phantasie 
mit den Materialien spielen zu lassen? 
Es ist das Aüberheupt wohl die Kandinalfrage der neuen 
Kunstbewegung. Und wenn irgendwo, so habe ich heute be— 
stätigt gefunden, dah Material und Technik der formalen Gestal⸗ 
tung vorausgehen und daß die künstlerische Gestaltung eine 
Anwendung geistiger Gesetze cuß das vorhandene Material. 
auf die vorhandene Technik ist. 
Ich möchte ein Beispiel vorführen. Ich machte vor Jahren 
eine Reise nach Nordafrika durch Aigerien in die Sahara hin⸗ 
unter. Zunächst durchfuhr die Eisenbahn das fruchtbare Tal, 
das zwischen dem Meere und dem Allas sich ausbreitet und wo 
alle möglichen Halmfrüchte Uppig gedeihen. Zwischen den Fel⸗ 
dern sah man die Hütten der Immgeborenen aufragen, und alle 
diese Hutten waren aus geflochtenen Halmen hergestellt, Hölzer in 
de Erde gerammt und an ihnen das Flechtwerk befestigt. Die 
Lisenbahn näherte sich dem Atlas und erklomm die steinigen 
döhen. Es war kein Holz da, um Häuser zu bauen. Es lagen 
iur die Steine umher. Die Folge war, daß die Kabylen, die 
tergbewohner, sich ihre Hütten aus Stein errichtet hatten. 
diese Steinbauten glichen aufs Haar denen, die wir auch 
m europäischen Gebirgen antreffen. Dann fuhr die Eisenbahn 
hinunter zur Sahara und dort sah man die Beduinenwohnun⸗ 
gen; es waren Zeltdecken aus Ziegenwolle und Kamelhaar, 
über ein leichtes Gestänge ausgespannt. Die Woh—⸗ 
rungen hatten wieder die Form ngenommen. die das Material 
hnen vorschrieb. 
So sehen wir, wie drei Materialien von verschiedenem 
Lhatakter bei ganz nahe beieinander wohnenden und ver⸗ 
wandten Völkern zu drei Baustilen von sehr unterschiedlichem 
ßepräge geführt haben. Wir brauchen aber gar nicht nach 
Afrila zu gehen, wir brauchen nur an unsere deutsche Vor⸗ 
seit zu denken, und wir machen dieselbe Erfahrung. Wir 
vissen, daß neben den eigentlichen Steinstilen, daß neben 
»em romanischen Stile, dem gotischen, neben der Renaissance 
uu allen Zeiten ein Holzbaustil bestanden hat, der mit den Stein- 
austilen nur daas Detail, das Ornament teilte, der aber in 
einen Konstruktionen von den Steingebäͤuden der Zeit durchaus 
bwich. Und wenn wir die Steingebäude unter sich vergleichen, 
oa lehen wir wieder. dah der Santtein Suddeutschlands 
— ——— 
ne ganz andere Gotik wie der Baustein Norddeutschlands her⸗ 
nn der ganzen Auffassung der Massen und des Körperlichen, 
daß die Sandsteingotik Süddeutschlands der Meißelkunst günstig 
var, daß diese Meißelkunst mit eleganten Profilen gearbeitet 
hat, während der Backstein die Phantasie anregte, mit farbig 
giasierten Ziegeln Flächenmuster zu schaffen. J 
Wir sehen also, wie Semper zu seinem Satze kommen 
sonnte: Stil ist, was dem Material entspricht. Wir wissen aber 
auch, daß gerade dieser Satz von neueren Naturforschern und 
nodernen Künstlern starken Widerspruch erfahren hat, und 
janz gewiß nicht ohne Veranlassung. Man hat nur eines über⸗ 
ehen. Man hat üÜbersehen, daß Stil und Kunst zweierlei sind 
ind daß das Vorhandensein eines Stils noch lange nicht das Vor⸗ 
handensein einer Kunst bedeutet, dah innerhalb eines bestimmten 
oensein einer Kunst bedeutet, daß innerhalb eines bestimmten 
Stiles Kunstwerke und auch Bauten geschaffen werden können, 
die mit Kunst absolut nichts zu tun haben und dah ein 
Kunstwerk schaffen noch lange nicht gleichbedeutend ist mit 
einen Stil haben. Ich glaube, dab es sehr wichtig ist, daß 
wir uns das klar machen und da' auch unsere Kunstgeschichte 
nn dieser Beziehung eine Aenderung ihrer Methode eintreten 
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