Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

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Beilagen: Vaterstödtusche Blätter. — Der Familienfreund. 
Amtsblatt der freien und Hansestadt Lübeck 46l. Jahrgang Nachrichten fur das aerz- Aum Tauenburg, die 
veiblatt: Gesetze und verordnungsblatt Rtx u e ee zurstentümer Ratzeburg, Lübed und das angren⸗ 
— jende medlenburgische und holsteinische Geblet. 
ODrud und Verlas: Ge bruder B orders G. m. b. 8. in Lubed. — Selcaisaellev Abdretz haus (Koniatt. 40). Fernsprecher 8000 u. 8001. 
Suu 
Ausgabe 
(Große Ansgabe) Donnerstag, den 2. Februar 1911. Abend⸗Blatt KRr. 60. 
— ⏑————— — — 
Erstes Blatt. hierzu 2. Blatt. 
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Umfang der heutigen Nummer e⸗tæx. 
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Nichtamtlicher Teil. 
— — 7— 
Die Wertzuwachsfteuer, Wermuths 
Eritlingswerk. 
9 Lübed, 2. Febr.“ 
Die Reichszuwachssteuer, die gestern im Reichs— 
dage angenommen wurde, ist der Erstlingsentwurf des Reichs⸗ 
chatzsetretärs Wermuth. Aber ob dieses erste Kind ihm die 
erhoffte Freude machen wird, das muß in Geduld abgewartet 
werden. Noch niemals hat der Reichstag eine Steuervorlage 
genehmigt, deren Ergebnis sich so sehr einer sicheren 
Berechnung entzieht wie die Reichszuwachssteuer. Niemals ist 
much eine Steuervorlage dermaßen ausgehöhlt worden wie 
diese. Sollte doch die neue Steuer nach dem ursprünglichen 
Voranschlag für das am 1. April d. J. beginnende Rech— 
mungsiahr 13 Millionen für das Reich bringen, wovon 
3 Millionen für die neue Heeresporlage und 
3Millivnen für die Kriegspeteranen verwendet 
werden sollten. Ob nun diese Summe jetzt nach den vielen 
o o m Reichstag beschlossenen Milderungen herausspringen wird, 
ist in volles Dunkel gehüllt. Ein Abgeordneter meinte: „Wenn 
das Gesetz kulant gehandhabt wird, kaun Wermuth viel 
kriegen. Wird aber scharf zugepackt, dann kriegt er gar 
nichts oder kann lange warten, bis er etwas bekommt.“ Fragt 
mnan nun Wermuth selbst, so zuckt er die Achseln, 
iber er schmunzelt dann heimlich. 
Er scheint nicht nur Freude zu empfinden, daß das Gesetz 
überhaupt zustande gekommen ist, sondern er scheint trotz 
aAler Opfer, die er hat bringen müssen, noch auf einen 
erheblichen finanziellen Ueberschuß zu rehnen. 
zJehnu Millionen hat er bereits geopfert, indem er sich damit 
einverstanden erklärte, daß die Erhebung der Steuer nicht 
schon beginnen sollte bei Grundstücksverkäufen seit dem 
11. April 1910, sondern erst seit dem 1. Januar 1911. Das 
bedeutet eben im laufenden Rechnungsjahr für die Reichs— 
lasse einen Verlust von 10 Millionen Mark. Aber seine 
Erstlingsvorlage ist gerettet. Demnach hat er im ganzen 
erheblich mehr Glück gehabt, als Bethmann-Hollweg mit 
seiner Erstlingsvorlage, dem preußischen Landtagswahlrechts— 
entwurf. 
verloren und wäre heute nichts mehr, als eine für 
die Franzosen nicht einmal schöne Erinnerung. Beide inter⸗ 
hiewten Generäle, der Kriegsminister Brun und der Korps⸗ 
ommandeur Bonnal, haben sich mit unzweideutigen Worten 
in diesem Sinne ausgesprochen. Vesonders der letztere hat 
iine nähere historisch fundierte Begründung seiner Auf— 
tassung gegeben, die ein großes Interesse beansprucht, auch 
wenn man ihr wegen der offenbaren Irrtümer, die sie 
nnthält, nicht zustimmen kann. Denn die Ansicht des 
henerals, daß der Zweibund aus dem Gedanken der Re— 
zanche heraus entstanden sei, mag für Frankreichs politische 
zerechnung beim Abschluß des Zweibundes sicher zutreffen, 
iicht aber für die Erwägungen, die Alexander III. dabei 
eleitet haben. Auch ohne daß der Inhalt der Zwei—⸗ 
zundakte veröffentlicht worden ist, weih es die gesamte 
„olitische Welt, daß die russische Regierung ihre 
mtente cordiale mit Frankreich lediglich als Defen— 
ivbündnis aufgefaßt hat. Man weiß aber auch, daß 
Ilexander III. von der — allerdings irrigen — Ansicht 
usgegangen ist, daß dem russischen Reiche ein Angriff 
son deutscher Seite drohen könnte und daß er, um diele 
Röglichkeit zu verhindern, in ein Bündnis mit Frankreich 
ingegangen ist 
Aus Bassermanns duisburger Rede. 
Ueber die Rede, welche Abgeordneter Bassermann in 
Duisburg gehalten hat, sind in einzelnen Blättern auf 
telegraphischen Wege irreführende Mitteilungen verbreitet 
vorden. Das gilt insbesondere über denjenigen Teil der 
RKede, welcher die Stellung zur Regierung behandelt. 
Nach dem jetzt vorliegenden, in der Rhein⸗ und Ruhrztg. ver⸗ 
yffentlichten Wortlaut der Ansprache lautet diese Stelle: 
„Zwei Gedanken kreuzen sich in diesen Tagen. Einer ist 
»er Kaisergedanke. Ich habe schon bei der Beratung der 
Berfassungsfrage für Elsaß-Lothringen auf diesen Gedanken 
ingewiesen und gesagt, man solle dieses Grenzland hüten. 
Wir wollen eine starke Monarchie, eine Regierung, 
die objektiv und unparteilisch in der Leitung ihrer 
heschäfte ist. Die Regierung darf nicht zum Werkzeug 
iner Partei werden. Es wäre wohl ein Verdienst 
»es jetzigen leitenden Staatsmannes, wenn er 
en Klagen, die jüngst wieder im Abgeordnetenhau'e von unserem 
rreund Friedberg vorgetragen sind, Abhilfe schaffen wollte. 
ẽs gereicht der Regierung nicht zum Nutzen, wenn ihre 
Berwaltungsorgane sich herabwürdigen zu Werkzeugen einer 
Bartei, zu Organisatoren und Agitatoren. Wenn wir heute 
»en liberalen Gedanken hegen und pflegen und in den Vorder— 
zrund stellen, so ist er herausgewachsen aus dem Gesühl, 
daß wir nur dadurch die Radikalisierung unseres Volkes 
intanzuhalten vermögen. Wir wollen einen ehrlichen, 
jesunden Liberalismus!“ 
Diese durchaus friedliche Politik des verstorbenen Zaren 
and zugleich bei seinen Ministern neben anderen Gründen 
iuch darum die vollste Zustimmung, weil die russische Regie— 
ung den wirtschaftlichen Wert eines Bündnisses mit Frank⸗— 
eich klar erkannt hatte. Dieser wirtschaftliche Vorteil 
zat sich denn auch im Laufe der Jahre in die zehn Mil— 
iarden umgesetzt, die Frankreich Rußland geliehen. Man 
veiß auch in eingeweihten Kreisen, daß dieses Geld eine 
essere Friedensgarantie bietet, als manche andere 
olitische Abmachung und mancher Schiedsvertrag; denn nicht 
u Unrecht wird vermutet, daß während der bosnischen Krise 
iukland nur auf den dringenden Rat Frankreichs hin Frieden 
ehalten hat, und daß dieser Rat wiederum nur die Folge 
iner französischen Furcht gewesen ist, das ersparte 
ßut der französischen Bürger verlieren 3 u 
znunen. An dieser Situation hat sich durch die Potsdamer 
lbmachung weiter nichts geändert, es sei denn, daß noch 
inige unaufgeklärte französische Heißsporne dadurch erst er⸗ 
ahren haben, daß die Freundschaft mit Rußland nur dem 
uropäischen Frieden dienen solle. Die Klagen der Generale 
arum sind mühig, aber sie enthalten wenigstens das eine 
Hute, daß man aus ihnen erkennen kann, wie man in Frank⸗ 
reich noch immer nicht völlig den Tag der Revanche ver⸗ 
gessen hat. 
Inland und Ausland. 
Deutjches Noih. 
Der erste Berliner Hosball. Im Königlichen Schlosse fand 
jestern der erste große Hofball statt, dem die Prinzen und 
Brinzessinnen des königlichen Hauses, der Reichskanzler, 
ztaatssekretär v. Kiderlen-Waechter, das diplomatische Korps 
ind andere beiwohnten. 
Resultate des gestrigen Reichztages. Im Reichstage wurde 
estern das Zuwachssteuergesetz, dessen Ertrag auf 
ßrund der jetzigen Fassung auf 40 Millionen M, davon 
O Millionen für das Reich, geschätzt wird, in dritter 
desung endgültig verabschiedet. Sodann wurde die 
zesprechung der Petition betr. Revision des Impfge— 
etzes fortgesetzt. Konservative, Volkspartei, Zentrum 
ind Sozialdemokraten besürworteten die Einsetzung einer 
dommission behuss Prüfung des aus dem Jahre 1874 
datierenden Gesetzes. Gegenüber den Gegnerm des Impf⸗ 
wanges vertraten Geheimrat v. Zedlitz und Medizinalrat 
dr. Kirchner den Standpunkt des bestehenden Gesetzes. 
Refultate des gestrigen preußischen Landtages. Das Ab— 
jeordnetenhaus verwies zunächst die Vorlage be— 
treffend Einrichtung Königlicher Polizei— 
Der zerfallene Zweibuno. 
Wenn man den gestern im Paris Journal veröffentlich— 
ken Aussprüchen zweier französischer Generäle glauben sollte, 
so hätte der Zweibund nach der Kaiserbegeg— 
nung in Potsdam jede politische Bedeutung 
Die Rebelfrau. 
Roman von Anny Wothe. F 
(24. Fortsetzung.) Machdrud verboten) 
„Du kommst spät in dieses Haus, Marnars Tochter,“ be⸗ 
zrühte sie Ekke Thornsen, die Augen unbewegt auf die junge 
Frau gerichtet, die etwas scheu, wie in Furcht, zu der Grei⸗ 
sengestalt im weißen Haar herüberblickte. 
„Achte nicht auf den Grootvader,“ flüsterte Dorret. „Er 
hat heute seinen schlimmen Tag.“ 
Undine trat lächelnd auf Timm zu und sprach, ihm die 
vand reichen:: 174 
„Dorret wird mir ja böse sein, aber ich möchte Sie dennoch 
auf den Gorlingshof entführen.“ 
Timm schüttelte abwehrend das Haupt. 
„Sie sollen mich nicht quälen, Undine. Wenn mich Dorret 
noch ein Weilchen behalten will, so bleibe ich gern noch, bis 
ich erst ein wenig kräftiger geworden, in der Wiedingharde.“ 
„Ihr Bruder wünscht‘ es so sehr, daß sie jetzt unser 
Gast werden. Warum erzürnen Sie ihn, Timm? Es erschwert 
doch nur das Leben.“ 000 
Timm lachte bitter. . 8 
„So? Haben Sie das auch schon empfunden? Quält er 
Sie auch, wie er mich gequält hat?“ — — 
Timm ballte die abgemagerten Hände und sieberhaft 
Nänzten seine Augen. 
Undine legte ihre Hand beruhigend auf Timms brennende 
Ztirn. 
„Wer wird denn so ungebärdig sein? 
. Ich will nicht, daß er Ihr Leben so elend macht, wie er 
das meine gemacht hat. Ich will es nicht,“ kam es gepreßt 
aus Timms Munde. 1 —V 
„Verscherzte Jugend ist ein Schmerz —538 
Und einer ew'gen Sehnsucht Hort. 
Nach seinem Lenze sucht das Herßg 
In einem sort, in einem fort!“ —WMW 
Jang es feierlich vom Herd herüber. 1 
Wie ein Prophet stand Ekke Thornsen. weit den Arm 
ausgestredtt, in den blauen Augen ein seltsames Leuchten und 
Funkeln. 
Ein Schauer ging durch die Seelen der drei jungen Men— 
chenkinder, die scheu und furchtsam des Alten Tun verfolgten. 
„Sie dürfen hier nicht bleiben, Timm,“ flüsterte Undine. 
Hören Sie doch. Dorret braucht Sie auch nicht zu missen. 
Sie wird jeden Tag zu uns auf den Gorlingshof kommen, den 
ie jetzt meidet, nicht wahr, Liebling?“ 
Ein dunkler Blich aus Dorrets Augen flog zu Undine. 
kin großes, erstauntes Fragen und ein hoffnungsloses Er⸗ 
chrecden, dann aber lächelten Torrets Lippen mühsam, als 
ie leise antwortete: 
„Wenn Graf Reimar nicht daheim, bin ich gern bei dir, 
Undine.“ 3 
Undine schüttelte leise, wie unwillig, den feinen Kopf 
mit der roten Haarwucht, die sich so goldflimmernd um die 
weiße Stirn bäumte. 
„Was macht ihr mir beide das Leben so schwer,“ seufzte 
iie. „Sie, Timm, mit Ihrer Härte, und du, Dorret, mit 
deinem Starrsinn. Der ewige Kampf macht so müde, so tod⸗ 
nüde.“ a BcG 
Timm griff voll Reue nach Undines Hand und führte sie 
an seine heihßen Lippen. 61 
In demselben Augenblid erschien eine dunkle Männergestalt 
m Rahmen der Tür. 
„Guten Abend,“ tönte eine herrische Stimme, und Graf 
seimar Randolt trat in den Kreis. „Ei, das irifft sich ja 
zut, daß ich euch alle beieinander finde.“ 
Undine sah voll Besorgnis die Zornesfalie auf der braunen 
Ztirn ihres Gatten, der da so plötzlich in der Stube stand. 
Errötend entzog sie Timm ihre Hand, die er noch immer 
in der seinen hielt. B 
„Verzeiht mein Eindringen in dieses Haus,“ wandte sich 
ßraf Reimar an Dorret — seit jener Sturmnacht, wo sie 
usammen hinausgezogen waren, den Bruder zu retten, hatte 
r sie nicht mehr, wie es landesüblich, „ du“ genannt — 
„aber ich hörte, daß meine Frau zu Euch gegangen. Da kam 
ch auch.“ J 
„Ekle Thornsens Haus steht Euch offen,“ tönte die Stimme 
zes Alten. „Aber hütet Euch. Herr. Nur, wer als Freund 
tommt, dem wird es zum Segen, wer als Feind ommt, 
dem wird es zum Fluch.“ 
Betreten wich Graf Reimar einen Schritt zurück. 
Undines Augen waren voll Unwillen auf ihn gerichtet. 
Sie glaubte wohl, daß er ihr nachspüre? 
Graf Reimar wurde ganz rot bei diesem Gedanken. 
„Wie geht es dir, Timm?“ fragte er rasch, zu dem Bruder 
retend und ihm herzlich die Hand reichend. „Ich sehe, 
Schön-⸗Dorret hat dich brav gepflegt, aber ich hoffe, du 
rfüllst nun unser aller Wunsch und kommst zu uns in den 
ßorlingshof.“ 
„Nein,“ gab Timm zurück. „Niemals. Laß das, Reimar. 
Warum wollen wir die alten Geschichten aufrühren? Unsere 
Wege führen abseits voneinander.“ 
Undine war zu dem Kranken getreten, als müsse sie ihn 
por den Zornesblicken ihres Gatten schützen, die slammend 
iber ihn hinloderten. 
Ihre Hände umklammerten Timms Rechte. 
Dao aber geschah etwas Unerwartetes. Graf Reimar stürzte 
nuf die beiden zu. Drohend höb er die Hand, und hart 
ind zornig klang seine Stimme, als er keuchend sprach: 
„Ich will nicht, daß du den Trotigen bittest. Laß ihn, 
venn er nicht will. Und jetzt komm nach Hause.“ 
Undine sah ihren Mann groß an. Eisesstarre breitete sich 
üͤber ihr junges Gesicht. 
„Du vergißt, daß ich gewohnt bin, meinen eigenen Weg 
zu gehen.“ 
„Aber ich wünsche diese Besuche in der Wiedingharde nicht,“ 
sab Reimar mühsam beherrscht zurück. „Wenn Timm unser 
zaus meidet, so schickt es sich wohl, dah meine Gattin we— 
nigstens die äußerliche Rüchsicht nimmt, nicht ohne meinen Willen 
sier einen fremden Mann zu besuchen, der sich selbst von allen 
zerwandtschaftlichen Rüchsichten losgelöst hat.“ 
Timm machte eine Bewegung, als wollte er aufspringen, 
iber schon stand Dorret an seiner Seite und drückte ihn 
nergisch in den Sessel zurück. 
„Nicht doch, Herr,“ verwies sie ihn herb. „Was Graf 
Randolt spricht, kann weder Euch, noch Undine kränken. Er iit 
ben gewohnt, unbedingt zu herrschen. Und wo er Widerstand 
indet, wird er zornia und maßlos. Verzeiht, Herr.“ wandte
	        
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