Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

Bi⸗M. Gossch: Bei dier jetzigen Senatsvorlage sei leider 
der erste Teil der Moislinger Allee unberüdsichtiot geblieben. Der 
Fehrdamm auf der ersten Strede dieser Strahe habe nur Teresp. 
m Breite. Eine Umpflasterung des jetzigen Fahrdammes werde 
doch noch vorgenommen werden müfssen, was ganz erhebliche 
Kosten verursachen werde. Sein Wunsch gehe dahin, den ersten 
Teil der Moislinger Allee von Baumreihe zu Baumreihe zu 
verbreitern. Dies koͤnne gelchehen ohne Ankauf von Vorgärten 
uind Gelände. Der heutige Radfahrweg auf dieser Strecke sei 
abrigens auch völlig unbrauchbar, ebenso sei der Fußgänger⸗ 
weg sehr reparaturbedürftig. Er bitte. die Vorlage des Senats 
in eine Kommission zu verweifen. 
Senator Dr. Sto oss: Der Schluß der Ausfaihrungen des 
gerrn Vorredners überrasche ihn. Selbst wenn man allen 
Brigen Ausführungen desselben zustimmen wolle, könne man 
doch nicht dahin gelangen, die ganze Senatsvorlage an eine 
Kommission zu verweilen. Er habe auch die Ueberzeugung, 
daß die fragliche Strecke verbreitert werden missũe. Daß aber 
wegen dielser Verbreiterung die jetzige Vorlage an eine Kom⸗ 
mission verwiesen werden solle, lönne er nicht verstehen. 
.M. August Pape: Er verstehe nicht den Schluß der 
Aussahrung des Herrn Gosch. wenn er im übrigen auch mit 
dem Inhait desselben einverstanden sei. Der Burgerausschuß 
beschäftige sich bereits mit ähnlichen Fragen, man solle daher 
ein Ersuchen an den Burgerausschuß richten, dort werde die 
Sache schon ins richtige Geleise kommen. Des weiteren ver⸗ 
nöge er nicht einzusehen, weshalb man um weniger hundert 
Mark willen beim Hause Moislinger Allee 64 eine Verbrei⸗ 
erung nicht vornehmen wolle. 
Senator Dr. Stooss: Der Eigentümer des letzteren 
gauses habe für 70 qm 3000 Megesordert; es sei nicht wegen der 
Preishöhe auf die Verbreiterung verzichtet, sondern des halb, 
weil der Eigentümer die Behörde gebeten habe, ihm seinen 
Garten noch zu belassen, da in der Tat die Breite der Straße 
hier immer noch genügend sei. 
B.M. Gosch: Mit voller Ueberzeugung habe er die ganze 
Vorlage an eine Kommisslon verweisen wollen. Er wundere 
sich darüber, daß die Baudeputation die jetzige Vorlage für 
hen zweiten Teil der Straße bringe und den eriten unberück- 
ichtigt lasse, er hätte es umgekehrt für richtiger gehalten. 
Nach einer kurzen Debatte über die geschäftliche Behand⸗ 
kung des Antrages Gosch. zieht B.⸗M. Golch seinen ursprüng⸗ 
lichen Antrag zurück und stellt dafür das Ersuchen zur Ab⸗ 
stimmung: „Die Buürgerschaft erfucht den Senat, ihr eine Vor⸗ 
lage entgegenzubringen, die eine Verbreiterung der Mois— 
linger Allee auf der Strecke vom Lindenplatze bis zur Meier⸗ 
traße zum Gegenstand hat.“ 
B.M. Erster Staatsanwalt Dr. Benda bittet, diesen 
Antrag nicht dem Senat, sondern dem Bürgerausschuß zu 
Werweisen. 
Die Senatsvorlage wird daraufshin angenommen und das 
Frsuchen von B.M. Gosch an den Bürgerausschuß verwielen. 
68. 
?zrweiterung der Verladerampe und des Lade— 
rleises auf dem öffentlichen Schlachthofe. 
Der Senat stellt zur Mitgenehmigung der Bürgerschaft: 
dah der Verwaltungsbehörde für städtische Gemeinde⸗ 
anstalten zur Berlängerung der Laderampe des öffentlichen 
Schlachthofes um 150 m und Erweiterung des Ladegleises 
bis zum Struckbache der Betrag von 21000 M zur Ver—⸗ 
fügung gestellt und daß diese Summe auf die diesiährigen 
Verwaltungsüberschüsse der Quarantäneanstalt angewiesen 
werde, sowie, daß die Verwaltungsbehörde ermächtigt werde, 
einstweilen die Verlängerung der Laderampe um 75 m zu 
hewirken, die weitere Erweiterung aber erst bei eintretendem 
Bedürfnis vornehmen zu lassen. 
B.M. Böbs fragt an, ob das vorhandene alte Materlal 
nit zur Verwendung gelange. 
Senator Friedrich Ewers erwidert, daß solches geschehe, 
oweit es angängig sei. 2* 
B. M. Böbs weist darauf hin, daß die Bürgerschaft im 
Jahre 1899 eine propisorische Rangierslation bewilligt habe, 
die aber nur wenige Wochen gebraucht sei und jetzt völlig 
til! liege. Dieses Schienengeleise könnte bei der jetzigen Neu— 
mlage mitverwandt werden. 2* 
Senator Ewers: Die Schienen gehören der Lübed-Bu— 
hener Eisenbahngesellschaft; so ohne weiteres werde es auch 
noch nicht gehen, weil die Geleise noch gebraucht würden. 
BeM. Böbs: Die Geleise seien früher auf Rechnung 
des Staates gebaut und gehörten ihm auch heute noch. 
Senator Ewers: Seine Mitteilungen habe er vonder 
Baudeputation; im übrigen könne Herr Böbs sich darauf ver⸗ 
lafsen. daß sparsam gewirtschaftet werde. 
Der Senatsantrag wird angenommen. 
— IJ. 
Ausdehnung der Landgemeindeordnung vonm 
1. Febr. 1378 auf das Gesamtgut Weißenrode 
andAufhebungdes Artikels6bodes Unterrichts— 
gesetzes vom 17. Oklt. 18885. 
(Kommissionsbericht.) 
Die Kommission empfiehlt die Annahme der Senatsvorlage 
anker einigen Abänderungen des 8 3 des Gesetzes betr. die Aus— 
dehnung ders Landgemeindeordnung, sowie eine Abänderung 
in der Fassung des 19. Nachtrages zum Unterrichtsgesetz. 
B.⸗M. Dr. Kähler: Es sei ihm mitgeteilt worden, 
daß in den beteiligten Gemeinden die Besorgnis bestehe, daß 
die Rechte der Eingesessenen geschmälert würden. Die Kom— 
mission habe bei ihren Beratungen hauptsächlich ihr Augen⸗ 
nerl darauf gerichtet, daß die Rechte der Eingesessenen in 
ieiner Weise geschmälert würden. 
Senator Dr. Neumann: Gegen die Vorschläge der Kom⸗ 
nisffion sei von Seiten des Senats nichts einzuwenden. Auch er 
nöchte nochmals betonen, daß die Vorlage keineswegs eine 
Beschneidung der Vorrechte der Eingefessenen bezwecke. 
Die Senatsvorlage wird darauf miu den von der Kom⸗ 
mission vorgeschlagenen Aenderungen angenommen. 
8. 
Aenderungen der Bestimmungen über die Bau⸗ 
gewerkschule. 
KGommisslonsbericht.) 
Die Kommission beantragt die Annahme der Senats- 
oorlage mit einigen Aenderungen uͤbe bie Hoͤhe des Shnn- 
geldes und die Anstellung weterer Lehrer⸗ 
BM. Seinfohn: In Bohem so man zu einem an⸗ 
beren Resultat gekommen, als hier. Durch Bekanntmachung 
vom 31. August 1910 seien die Baugewerkschulen aufaehoben 
worden und man habe statt dessen diese Schulen geteilt in 
Bauschulen und Meisterschulen. Die Bauschulen leien in erster 
Linie dazu da, Technikern in den unteren Behörden Gelegen⸗ 
heit zu geben zu ihrer Ausbildung Die Meislterschulen sollen 
den Bandwerkern das vermitfeln, was in eister Linme sur ihr 
— x knotwendig sei. Wenn die Schule hier voll durch⸗ 
eine Mehrbelastung des Staates ent⸗ 
hen Auch würde der Neubau eines Schulgebäudes in Frage 
inen. Die Erhöhung des Schulgeldes könne manchen Schüler 
n Befuch der Schule abhalten. In Preußen werde der Unter⸗ 
icht von Oberlehrern erteilt, nur die einfachen Elementar⸗ 
acher vwürden von Unterlehrern gegeben. Redner bittet, den 
Smnats antrag heute abzulehnen und das Ersuchen anzunehnien, 
zah diese Vorlage der Oberschulbehorde zur nochmaligen Pru⸗ 
a nberwiesen werde. Eine große Eile habe die Vorlage 
dicht, weil bis 1911 die alten Bestinmungen Velten. 
B.M. Coleman: Seiner Meinung nach habe die Sache 
ehr große Eile; die Schule leide unter dieser zweifelhaften 
dage. Der Kommissionsbericht habe ihn sehr gefallen. die 
onnission habe seine früher vorgebrachten Grumde für die 
Jebehallung der Schule als stichhaltig anerkannt. Hiernach 
rüffe man unbedingt zu dem Schlusse kommen, daß die Schule 
orwefstehen müsse; auch die Gewerbekammer sei hier für ein⸗ 
etreten. Er bittet um Annahme der Senatsvorlage mit den 
Abänderungen der Kommilsion. 
Senator Dr. Vermehren: Das vorgelegte Zahlen⸗ 
aaterial sei wohl geeignet, die letzten Bedenken gegen die 
Zenafsvorlage zu zerstreuen. Es lei dargelegt, daß einmal 
ie Mehrkosten sehr gering seien und daß weiter bei Auf⸗ 
ebung der Schule eine Belastung entstehen würde, der kein 
zorteil gegenüberstehe. Er wundere sich, daß Herr Heinsohn 
egen die Vorlage sich ausgesprochen habe, trotzdem die Ge— 
zerbekammer dafür sei. Die Baugewerkschule habe in der Tat 
urch die herrschende Ungewißheit sehr zu leiden gehabt. Er 
hittet, diesen Drudk jetzt endlich zu heben, damit eine frische 
Weiterentwicklung eintreten könne. 
B.⸗M. Rechtsanwalt Fehling: Am lebhaltesten inter— 
ssiere man sich a uherhalb Lübecds für diese Frage; in Ecern⸗ 
förde erwarte man bestimmt, daß die Schule aufgehoben werde, 
veil dadurch die dortige Schule wieder einen Aufschwung 
zehmen werde. 
B.M. Mslhler bittet um Ablehnung des Antrages Hein⸗ 
ohn. Es müsse heute wohl ein jeder wirsen, wie er zu der 
Sache stände. Im Interessfe der Schule müsse er allerdings 
zitten. von einer Erhöhung des Schulgeldes Abstand zu 
ehmen. ij 
B.M. von Schack: Er habe in der Kommission gegen die 
Borlage gestimmt. Mit den Tabellen könne er sich sicher 
nicht einverstanden erklären. Wenn der Fortbestand der Schule 
auf Jahre hinaus gesichert sei, würde nach seiner Berechnung 
hei seiner Berechnung bei richtiger Ansetzung der Gehälter 
ar die Lehrer eine Belastung des Staates von 45 000 M 
ährlich erforderlich sein. Nur zehn Lübecker Schüler besuch— 
en die hiesige Schule bis Izun Schluß, man lollte doch er— 
varten, dah wenn Lübeck so große Opfer bringe, diese auch 
jewürdigt würden. Er werde auch heute gegen die Vorlage 
timmen. ⸗ 
BieM. Heinsohn: Er habe nicht Ablehnung der Se— 
tatsvorlage beantragt, sondern nur die Ablehnung der neuen 
dehrer. Er frage an, ob, wenn später nur Oberlehrer ange— 
ellt würden, man die jetzt neu anzustellenden Baugewerk⸗ 
chullehrer auch wieder los werden könne. Er habe keine Pro— 
aganda für ein eauswärtige Schule gemacht, hätte er solches 
zetan, würde er pflichtvergessen gehandelt haben. 
Senctor Dr. Vermehren: Lübed habe mit den Bau— 
jewerkichullehrern ausgezeichnete Erfahrungen gemacht und es sei 
nicht beabsichtigt, in dieser Beziehung eine Aenderung vorzu— 
iehmen. Die Oberschulbehörde fürchte nicht, daß etwa Preußen 
uas irgend einem Grunde Bedenken herleiten sollte, da die bis⸗ 
nerigen Ergebnisse unserer Schule völlige Anerkennung gefunden 
jätten. Das Bedenken des Herrn Heinsohn scheine ihm nicht 
tichhaltig zu sein. J 
B.M. Dr. Kähler begründet arz den Standpunkt der 
Mehrheit der Kommission. 
BeMBuchwald: Die Baugewerkichule sei früher leines⸗ 
vegs nur deswegen gegründet worden, damit nur Lübeder diese 
Schule besuchen sollten, sondern damals war di,e Absicht vor— 
handen. dak die Schule Handel und Wandel in der Stadt 
beleben sellte. Würde die Schule aufgehoben, so würden die 
dosten fast ebenso hoch sein wie jetzt. Redner bittet um An—⸗ 
iakme der Vorlage. 
B.M. Herm. Behn: Er finde nicht, daß die Kommission 
die von ihm früher bezweifelte Notwendigkeit der Schule nach⸗ 
Jewiesen habe. Er habe schon früher gesagt, daß die preußischen 
Baugewerkschulen jäͤhrlich 80 000 M Zuschuß erforderten, auf 
iese Summe käme man hier auch fast, wenn man die Er— 
yöhung der Gehälter und den weiteren Ausbau der Schule 
mitberechnet. Er glaube, daß die Frequenz der Schule durch 
die Erhöhung des Schulgeldes zurüdgehen werde. Wolle man 
die Schule fortbestehen lassen, so solle man das Schulgeld 
aicht erhöhen. Er werde gegen die Senatsvorlage stimmen. 
BeM. Heinsohn: Er möchte bezweifeln, daß Preußen 
inser Abgangszeugnis für alle Zukunft anerkennen würde. Man 
olle den Lehrplan so einrichten, daß jeder. was er als Meister 
iotwendig brauche, sich in den drei unteren Klassen aneignen 
önne. Werde diese Frage noch lHargeftellt, werde man zu einem 
zefriedigenden Resultat kommen. 
Senator Dr. Vermehren: Der Lehrplan unserer Schule 
verde sich dem preußischen Lehrplan anschliehen. Er bezweifle 
zaher, dakß Preußen unser Abgangszeugnis beanstanden werde. 
Das erhöhte Schulgeld könne vielleicht im Anfang einen ge— 
vissen Cinfluß ausüben, es würde aber besser werden, sobald 
bie Schüler merkten, daß die Logisverhältnisse hier in Lübech 
XDD 
B.Mo. Heinrich Dhiel erwidert Herrn Behn, daß seiner 
Ansicht nach eine absolute Notwendigkeit für die Schule nicht 
bestehe, diese sei auch bei der Gründung schon nicht vorhanden 
gewesen, aber man habe damals die Gründung vorgenommen, 
im das allgemeine Staatswesen Lübeds zu fördern. Er werde 
ur die Senatsvorlage stimmen. 
BeM. Coleman: Die Bedenken des Herrn Behn wegen 
⸗er Erhöhung des Schulgeldes teile er nicht. An den meiften 
uswärtigen Schulen sei das Schulgeldes teile er nicht. An 
den meisten auswärtigen Schulen sei das Schulgeld 100 M 
ahrlich. Herr von Schach habe nach seiner Meinung zu schwarz 
esehen. b c 
B.⸗M. Rechtsanwalt Fehling: Es habe ihm nichts ferner 
zelegen, als Herrn Heinsohn den Vorwurf zu machen, daß er 
ur eine auswärtige Schule Propaganda mache. 
E⸗M. Heinsohn: Er könne über das Bedenken nicht 
jinweg, daß jetzt Lehrer angestellt würden, die später vielleicht 
iberflüssig seien. EVD——— 
B.e M. Lippert: Er wolle eine Auslassung im Kom— 
nissionsbericht nicht unwidersprochen lassen. Die Kommission habe 
Zerechnung aufgestellt über den Kostenzuschutz und hierbei auch 
Wartegeld für die Lehrer mit eingestellt. Die Kommission habe 
n laͤngeren Ausführungen dargelegt. daß die Lehrer nicht ver⸗ 
fichtet Jeien, ein anderes Amt zu übernehmen, die Kommilliion 
rre sich in dieser Beziehung. Viele Entscheidungen in Streit⸗ 
allen sprächen für das Gegenteil. Sollte alfso hier eine Aende⸗ 
wung in der Lehrkörperbesetzung vorgenommen werden, so seien 
zie Lehrer sehr wohl verpflichtet, ein anderes Amt anzunehmen. 
ks handle sich hier um die Frage, ob eine bestehende Einrichtung 
veiter ausgebildet werden solle, und in dieser Beziehnug sei ihm 
zie Vorlage noch nicht genügend geklärt. Auch die Frage, ob 
zie Baugewerkschule nach preußischem Muster weiter ausgestal⸗ 
et werden müsse, bedürfe noch der Prüsfung. Unter den ob⸗ 
valtenden Umständen könne er dem Antrage der Konrmission 
niicht folgen. 
Senator Dr. Vermehren: Die Institution der Bau— 
zewerkschullehrer habe lich außerordentlich bewährt, deshalb 
vpoꝛle man sie aufrecht erhalten. Es gäbe nicht nur in Preußen 
sondern auch in anderen deutschen Staaten Baugewerkschuren, 
ie nicht nach preußischem Muster aufgezogen seien. Vreußen 
habe gar kein Interesse daran, auf eine Gleichmäßigkeit hin— 
uuwirken, wenn nur die Leistungen an den Schulen der ver⸗ 
schiedenen Staaten dasselbe Ziel erreichten. 
BeM. Buchwald: Die Kommission war der Auffassung, 
daß unser Staat zu klein sei, und zu wenig freie Stellen für 
Beamten habe, deshalb sei der Posten für das Wartegeld mit 
eingesetzt. 
Die Senatsvorlage wird dann mit den Abänderungen der 
Kommisfion angenommen. 
(Schluß folgt.) 
Aus der Geschichte der Grisette. 
Die fröhliche kicine Parsser Pukmacherin, die trotz kärglichen 
Perdienstes und schwerer Arbeit immer heitere und lebenslustige 
Näherin, ist als Grisette berühmt geworden; in schönen Gedichten 
ind lustigen Versen haben die Tichter ihre Lebenskunst be— 
ungen; Lafontaine nennt sie einen Schatz“, und Alfred de 
Musset widmet ihr eine poetische Ehrenrettung, mit der sie zu— 
rieden sein konnte. Aber es au lange gedauert, ehe die Gri⸗ 
ette wenigstens in der Dichtung zu Ruhm und Ehren aufstieg; 
krneste Desprez erzählt allerlei Interessantes von den Leiden 
ind den kleinen Freuden der Grisette im Wandel der Zahr⸗ 
zunderte und belehrt den Laien darüber, daß die vielbesun⸗ 
gene kleine Pariser Näherin, die ihren berühmten Namen dem 
chlichten Grisettstoff verdantt. mnit dem sie sich uröprünglich 
leidete, ihre lange und wechselvolle Geschichte hat. 
Ludwig XIV. war der erste, der den sleißigen Näh— 
nädchen ein deutliches Zeichen seines Wohlwollens gab; ein 
tditst vem 30. März 1675 gewährt den Grisetten das Recht, 
ich zu einer Zunst zusammenzuschtichen und Meisterinnen zu 
rnennen. Bis zu jener Zeit war das Schneiderhandwerk 
„en Frauen offiziell verwehrt, und jenes Dekret des Sonnen⸗ 
önigs ist damit die erste öffenteiiche Anerkennung der Grisette. 
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts zählte man in Paris kaum 
20 Schneiderinnen, die als Meisterinnen selbständig eine Näh— 
tube führen durften. Die Heine Grisette, die sich bis zu 
ieser Stellung emporgearbeitet und emporgehungert hat, braucht 
ie Not zwar nicht zu fürchten, ober ein sorgloses Leben des 
Maßigganges winkt ihr nicht. Von morgens früh, wenn das 
Tdageslicht seine ersten Strahlen sendet, bis zum Dunkel der 
sacht sührt sie eifrig Nadel und Schere, und nur am Sonntag 
odarf die Arbeit ruhen. — 
Das Gesetz legte ihr fur jede mißglückte oder nachlässige 
Arbeit schwere Strafen auf: wehe der Grisette, die in jenen 
zeiten eine Naht nicht mit aller Sorgfalt fest und sicher 
usammenheftete! Zu gleicher Zeit entwickelt sich ein neuer 
Stand, eine neue Zunft: die der Modistinnen, der Putz-— 
nacherinnen. Das waren die direlten Abkommen jener Putz⸗ 
sjändlerinnen, die zur Zeit Ludwigs XIII. in den Galerien des 
zchlosses ihre Waren feilhielten und den Passanten nicht 
venig zusetzten. Erst hundert Jahre später als die echten 
ßrisetten, im Jahre 1776, erhalten die Modistinnen ihre gesetz- 
iche Anerkennung. Sie verfertigten mit mehr oder minder 
wtem Geschmack Hüte und Kopfbededungen, und noch im 
'8. Jahrhundert hielten sie die Spaziergänger auf und lenkten 
ie Blide der Menge auf sich, indem sie ihre neuesten Kreatlonen 
uf der Straße zur Schau stellten und umhertrugen. Am 
Sonntag aber, wenn der Woche Arbeit überwunden war, 
ogen sie im leichten Mufselinkleid mit bunten Schleifen hinaus 
in die Tanzsäle. 
Bis zur Zeit des Bürgerkönigs Louis Philippe pflegten 
»ie Inhaberinnen von Schneiderateliers und Modewerkstätten 
hre Näherinnen, die kleinen Grisetten, in Kost und Logis zu 
ehmen. Die Mädchen schliefen dann gewöhnlich in einem 
emeinsamen Schlaffaal, der nichts weniger als anheimelnd 
nöbliert war. Doch mit den dreißiger Jahren des ver— 
angenen Jahrhunderts schwand diese Sitte immer mehr, die 
zrisette zog aus und gründete lich ihr eigenes kleines Heim, 
ndem sie irgendwo ein Zimmerchen mietete, meist ein Dach— 
fübchen, dessen schmales Fensterbrett dann mit Blumen ge— 
chmückt und dessen Wände mit bunten Bildern aus Mode— 
eitschriften dekoriert wurden. Das war die Zeit, da die 
Isychologie der wirklichen Grisette sich bildete, die Zeit, da 
Mimi Pinson entstand. Das Arbeitsfeld erweitert sich, nicht 
nur Kleider, Mützen und Hüte gehen aus den fleißigen leinen 
zdänden hervor, auch künstliche Blumen und Spitzen werden 
ergestellt. alles gegen ein mehr als bescheidenes Entgelt. 
Aber wie hart das Leben auch der Grisette gegenüber tritt. 
hre Lebensfreudigkeit, ihr Humor und ihre Heiterkeit sind 
ücht zu erschüttern und reizt die Dichter immer wieder, zur 
Leier zu greisen zum Pretise und Ruhm der fleißigen kleinen 
Mädchen, denen kein Mißgeschid die frohe Laune verdirbt. 
— X. C. 
Bücher⸗ und Schriftenschau. 
„März“. Als Wochenaerijt erscheint vom 1. Januar 1911 
ab der von Ludwig Thoma und Hermann Hesse herausgegebene 
Marz“ (Verlag von Albert Langen in München, Abonnements— 
reis pro Quartal, 13 Hefte, 6 My, der sich in feiner kisherigen 
kErscheinungsform als Halbmonatsschrift einen ausgedehnten treuen 
deserkreis erworben hat. Der „Marz“ verdankt sein großes 
Ansehen seinem weiten geistigen Horizont, seiner von jeder Schul— 
meisterei freien Sachlichkeit, seiner unerlschrockenen, vor— 
nehmen Ausdrudsweise. Von keiner Partei beeinflußt, hat sich 
der „März“ immer als zuverlässiger Führer in der Beurteilung 
der bewegenden Fragen der Zeit bewiesen. Seine Herausgeber 
und sein Mitarbeiterstab bürgen dafür, daß er seinen wichtigen 
Aufgaben auch als Wochenschrift weiter gerecht wird. Der 
Pflege der schönen Literatur wird in ausgewählten guten Erzãh⸗ 
lungen und Novellen, wie bisher ein größerer Raum gewidmet 
verden. Dagegen sollen längere Romane nicht mehr im „März“ 
ischeinen. Aus tattung und Format bleiben unverändert, und 
eibehalten wird auch die ganz besonders gut lesbare Textschrift, 
ge sich der „März“ auch äußerlich vorteilhaft aus—
	        
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