Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

desderseits übertragen wird. Die weitere Frage ist: Was 
werden England und Frankreich tun? Wenn die Ver— 
mutung richtig ist, daß beide Staaten bei der Tripolisaffäre 
ihre Hand im Spiel haben, so wäre wohl anzunehmen, daß 
sie Italien unterstützen und zu dem erwüunschten Ziele führen 
— wenn England in letzter Stunde nicht wieder abschwenkt. 
Die Entwicklung läht sich in keiner Weile vor— 
aussehen.“ 
Tripolis, Land und Leutt 
Tripolitanien bildet mit Benghasi (Barla) und Fessan 
das letzte unmittelbar türkische Besitztum in Nordafrika. Das 
Land steigt von einer flachen Küste zu einem vegetaätions—⸗ 
armen hohen Wüstenplateau auf. An der Küste, aber 
auch weiter im Innern, gibt es eine Anzahl von Oasen, 
die den Hauptwert des Landes ausmachen. In früheren 
Zeiten, in denen die Besiedelung eine wesentlich dichtere ge— 
wesen ist, waren große Streden Landes gut angebaut, und 
noch heute finden sich zahlreiche Trümmer alter Römer⸗ 
städte. Je weiter man nach dem Innern kommt, desto un— 
angenehmer wird das Klima, denn der großen Hitze am 
Tage steht nachts eine beträchtliche Kälte gegenüber. Die 
Wasserläufe sind nur Winterbäche, und die wenigsten 
erreichen das Meer. Die Fruchtbarkeit ist in der Küsten⸗ 
region nicht unbeträchtlich und in Benghasi sogar bedeutend. 
In letzterer Provinz, wo das Gebirge sehr nahe an die 
Küste heranreicht und auch das Klima recht günstig ist, 
finden sich (sogar noch Wälder. Sier gedeihen auch 
Oliven, Orangen, Zitronen, Feigen, Wein, Mandeln, Ge— 
treide und Datteln. An Vieh hat man meist Ziegen und 
Fettschwanz⸗Schafe. Als Reit- und Transport⸗Tiere dienen 
Kamele, Esel und Pferde, die — ebenso wie Ziegen und 
Schafe — auch exportiert werden. 
In Fessan ist die BSauptkultur die der Dattel⸗ 
palme, von der das Land 20—30 Millionen Bäume 
besitzen soll. Außerdem baut man Getreide, Granaten, Feigen, 
Pfirsiche, Tabak und Baumwolle. 
Die Bevölkerung des Gesamtgebiets besteht aus Ber— 
bern, Arabern, Mischlingen, Turken, Juden und im Süden 
auch Negern. Von Europäern sind meist die Malteser 
vertreten (4000), außerdem noch etwa 1000 andere Europäer 
(worwiegend Italiener). 
Einen wichtigen Ausfuhrartikel bildet neuerdings das 
Halfa-Gras (Esparto-Gras), das zur Papierfabrikation nach 
England ausgeführt wird (1904 für 2500 000 M). Weitere 
große Exportartikel Tripolitaniens sind auch Butter (allein 
von Benghasi im Jahre 1800 für 5380 000 M) und 
Schwämme (1904 von Tripolis für 1400 000 M). 
Der Karawanenverkehr mit dem Innern hat in— 
folge der unsicheren Verhältnisse seit Jahren nicht mehr 
die frühere Bedeutung. Aus diesem Grunde ist der Handel 
in Straußenfedern und Elfenbein erhebli ch zurück- 
gegangen, da die Transporte jetzt meist auf längeren, aber 
icheren Wegen durch den Sudan und Aegypten gehen. 
Von Städten sind zu nennen: 
Tripolis ta. 50 000 Einwohner, 
Benghasi ⸗.15 000 — 
Mursuk 7000 7 
Misrata z10000 55 
Ghat 4000 
Dernga 6000 
Ghadames 53 7000 —F 
Unter den Europfern ist das Italienische die Mguugs⸗ 
sprache. Die italienische Regierung unterhält in der Stadt 
Tripolis eine Realschule, je eine Elementarschule für Knaben 
und Mädchen, einen Kindergarten und außerdem Hand— 
arbeitskurse fir Mädchen und Abend-Unterrichtskurse für Er—⸗ 
wachsene. J 
Ueber die Verteidigung des Landes welß der 
ausgezeichnete Forscher Moritz Schanz, der vor einigen 
Jahren das Tand bereist hat, in setnem Werk , Nord⸗ 
afrika“ folgendes zu berichten: „Die militärische Besatzung 
besteht aus einer selbständigen Division von 17 Bataillonen, 
10 Eskadrons Kavallerie und einem Regiment Artillerie, 
4 fahrenden und 2 Gebirgsbatterien. Etwa die Hälfte der 
Truppen ist in Tripolis untergebracht. Bis zum Jahr 1897 
zählte die bewaffnete Macht nur 5000 Mann, seitdem hat 
man sie aber auf etwa das Doppelte gebracht. Die be— 
rittenen Polizeisoldaten, etwa 500, stehen unter einem 
besonderen Chef in Tripolis.“ 1 
ú E — 
Inland und Ausland. 
Deuisches Reich. 
Die neue franzöfische Autwortnote. Der französische Bot— 
ichafter Cambon hat gestern abend den Staatssekretär von 
Kiderlen-Waechter, vermutlich zur Ueberreichung der fran— 
zösischen Antwort aufgesucht. 
Die Deutichen im Sus. Die Kölnische Zeitung erhält aus 
Marrakesch folgendes Telegramm: „Erfreulicherweise fassen 
die Deutschen im Sus immer festeren Fuß. In den letzten 
Tagen sind nicht weniger als fünf deutsche Bergwerks— 
Expeditionen auf verschiedenen Wegen über den Hohen Atlas 
nach dem Sus vorgedrungen, nachdem sie sich vorher bei den 
maßgebenden Leuten in den einzelnen Gebieten einer freund— 
lichen Aufnahme versichert hatten. Die Leiter von vier 
Exrpeditionen des Marokkominensyndikats sind: Dr. Otto 
Mannesmann, Robert Mannesmann, Dr. Bertrand und Berg— 
werksingenieur Steinwachs. Der Leiter der fünften Expe— 
dition, die von der Marrakesch-Bergwerksgesellschaft aus— 
geht, ist Dr. Bodensted. Ferner sind nach dem Sus unter—⸗ 
wegs eine landwirtschaftlich-industrielle Informations- eine 
Handels- und eine wissenschaftliche Expedition.“ 
Eine Teuernngszulage der preihzischen Beamten? Zu der 
angeblich beabsichtigten Teuerungszulage an die preußischen 
Staatsbeamten schreibt man der Korrespondenz Woth: „Es 
trifft wohl zu, daß Erwägungen über die Gewährung einer 
Teuerungszulage schweben, doch ist es noch sehr Unwahr— 
scheinlich, ob die Anregung feste Gestalt annehmen wird. 
Bei der herrschenden Teuerung wäre die Gewährung einer 
einmaligen Teuerungszulage wohl berechtigt, doch ist zu be— 
achten, daß Preußen diesen Weg nur im Einver— 
nehmen mit den verbändeten Regierungen be— 
schreiten wird, weil der Grundsatz besteht, daß bei allen 
Beamtenfragen mit finanziellem Untergrund Reich und Preußen 
usammenarbeiten, wie es auch anläßlich der letzten Be—⸗ 
ragserhöhungen geschehen war.“ 
Sie Nationalliberalen und die Düfseldorfer Stichwahl. Wie 
vereits mitgeteilt, werden die Düsseldorfer Nationalliberalen, 
vie an der Hauptwahl, so auch an der Stichwahl fir das 
rortiae Reicbstaasmandat sich nicht beteiligen. Die National— 
iberale Korrespondenz fur die Rheinprovinz faßt den ent— 
chluß in folgende Worte: „Um die notwendige Stichwahl 
vird nunmehr ein heißer Kampf entbrennen, über dessen Aus— 
jang übrigens der Hauptinteressierte, das Zentrum, kaum 
noch im Zweifel sein dürfte. Die Gründe, die seinerzeit 
»ie Liberale Vereinigung in Düsseldorf zu ihrer Sauptwahl- 
»arole zwangen, bestehen ungeschwächt auch fuͤr die Stich- 
wahl. Mag sich das Zentrum noch so beweglich an die 
nationale Gesinnung der Liberalen wenden, es kann nur die 
eine Losung geben: Fest bleiben! Die Liberale Vereinigung 
darf auch bei der Stichwahl nicht vergessen, daß die großen 
Entscheidungen im Januar des nächsten Jahres fallen. Darum 
ür jetzt die Parole: Kein Mann zur Stichwahl!“ 
Dr. Potthoff über die Stichwahlparole in Düsseldorf. In 
iner in Düsseldorf von der Sozialdemokratie einberufenen 
Wählerversammlung begründeten für die Fortschrittliche 
VBolkspartei der Reichstagsabgeordnete Dr. Potthoff, und 
ür die Demokratische Vereinigung der Düsseldorfer 
Lorsitzende dieser Vereinigung die Stichwahlparolen ihrer 
Barteien für die Sozialdemokratie. Dr. Potthoff erklärte, 
»aß die Fortschrittliche Volkspartei nicht aus 
diebe zur Sozialdemokratie, sondern aus Pflicht⸗ 
rfüllung gegen das Vaterland und aus Abneigung gegen 
as Zentrum diese Stellung in der Stichwahl einnehme. — 
der Hauptvorstand der Liberalen Vereinigung wird morgen 
iber die Stichwahlparole beschließen. 
Deutscher Mittelttandstag. Am Sonntag fand in Dresden 
her erste deutsche Mittelstandstag im Beisein der sächsischen Mi— 
nister Dr. Bech, Graf Vitzthum v. Eckstädt und von Seyde witz, 
owie des Geheimen Oberregierungsrats Jaug vom Reichsami 
des Innern und zahlreicher Vertreter staatlicher und städtischer 
Bbehörden und der Bundesstaaten statt. Ansprachen hielten 
Aberbũrgermeister Dr. Beutler, Staatsmin'ster Graf Vitzt hum 
»on Echttädt und der Vertreter des Reichsamts des Innern. 
Alsdann wurden Resolutionen über das Submissionswefen, 
die Warenhäuser und Konsumvéreine; den Streikterrorismus 
owie über die Stellung des Haus- und Grundbesttzervere ins 
in der Mittelstandebewegung angenommen. 
Die Reichsfinanzreform von 1909 wird kurz in der Dar⸗ 
stellung beurteilt, die Professor Max von Hedel den Reĩchs⸗ 
sinanzen in der sochen erschienenen 14. Lieferung der neuen 
Auflage des „Wörterbuches der Volkswirtschaft“ (Jena, 
Gustav Fischer) widmet. Der Versasser erwähnt zunächst, dah 
vie Reform von 1909 im Zeichen des finanziellen Nieder⸗ 
janges stand, und dan nach den Berechnungen 500 Mill. M 
m neuen und dauernden Einnahmen zur Gesundung der 
Reichsfinanzen nötig waren. „Die Lösung dieser Aufgabe!!, 
ährt Professor von Hedel fort, „ist aber nur zum Teil ge⸗ 
lungen, zum Teil entschieden mißglückt; eine endgültige Ge⸗ 
undung der Reichsfinanzen ist nicht erreicht worden.“ 
vozialdemokratische Wahlrechtswünsche. 
Luͤbeck 26. September. 
Die gestrige Vollsversanumlung im Gewerkschaftshause, aber 
die wir heute früh bereits kurz berichteben, brachte wieder einmal 
deutlich zum Ausdruch. daß sich die Kämpfe um die Reichs⸗ 
aoskandidatur in Lübed aller Wahrscheinlichkeit nach zunüchst 
n TForm von Bürgerschaftswahlrechtsdebatten abspielen werden. 
Scchon seit einiger Seit werden sie mit besonderer Lebhaftigteit 
wischen den Liberalen und der Sozialdemokratie geführt. Die 
etzte Frauenstimmrechtsversammlung mit einem Referat über die 
Teuerung wurde von einem sozialdemokratischen Redner zu Agi⸗ 
ationszweden weitgehend ausgenutzt. In ihr wurde gleich⸗ 
eitig eine eiftͤge Propaganda fuür die zwci Tage darauf stalt⸗ 
indende Bürgerschaftssitzung verkündet, die das bekannte Rede— 
uell Klein-Stelling brachte. Der gestrige Abend bildete mit 
bemselben Thema abßs Diskussionsgegenstand bis zu einem ge⸗ 
wissen Grade eine Wiederholung des Rededuells mit der aller— 
dings beachtenswerten Abweichung, daß ein bürgerlicher Redner 
vider Erwarten im Lager seiner po!itischen Gegner Gelegenheit 
uchte und auch fand, die einzelnen Momente, die der einleitende 
borttag des Herrn Stelling gegen das Lübecher Wahlrecht vor⸗ 
rachte, sowie das lommentierte umfangreiche vorgebliche Sun—⸗ 
enregister der Lübedeer Liberalen in ein Nichts zu zerpflücen. 
sur selten haͤben die Arbeiter eine Gelegenheit, die Hetztaktit 
n eigenen Lager so sachlich und pachend widerlegt zu hören, 
aber wenn sie sich ihnen einmal bietet, wie gestern, so wird 
doch mancher wenigstens momentan stutzig und zum Nachdenken 
angeregt. Herr Stelling hat trotz des lebhaften Beifalls, der 
hm nach seinem Schlußwort bekundet wurde, ebenso wie sein 
Parteifreund Schwartz eigentlich recht schlecht abgeschnitten. Die 
Entgegnungen, die auf die Kleinschen Ausfuührungen folgten, 
varen nicht geeignet, die ürsprünglichen tendenziösen und schlag⸗ 
vortartigen, zum Teil sehr entstellten Behauptungen zu stützen. 
Dazu reichten selbst die Kenntnisse der Lübecker Ge— 
chichte, die Herr Reichstagsabgeordneter Schwartz be— 
undete, nicht aus, zumal es sich herausstellte, da er die 
zeiten, wo der Großwvater die Großmutter nahm, viel besser 
annte, als die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Oder 
vollte er absichtlich auf die Schuldfrage, die Herr Klein so 
narkant hervorhob, nicht eingehen? Ein Reichstagsabgeord⸗ 
rdnetre, der bei einer so wichtigen Sache wie einem Wahl— 
echtsantrage gerne klöhnt und viel aus dem eignen Leben er— 
ähzit, vermag auf die Dauer 'ich höchstens zu erhalten, wenn 
nan den Personenkultus und die Tradition höher siellt als 
ie politische Routine. Dagegen hat Herr Mehrlein, der offen— 
ar in der Rednerschule gut gelernt hat, mit Schlagwörtern 
ind Redensarten momentan zu wirken, vielleicht mehr Aussicht, 
eine Ideen und Bestrebungen in die Massen zu tragen. Er darf 
abei aber nach dreijährigem Aufenthalt am Platze 
licht so grobe Lücken in der Kenntnis hiesiger po— 
itischetr Verhältnisse aufweisen, wie sie ihm von Herrn Aug. 
bare nachgewiesen werden konnten. Dadurch verliert auch er 
atürlich an Vertrauen. Erst um 12 Uhr wurde die an Zwischen⸗ 
ällen reiche Versammlung geschlossen, die für den weiteren Ver— 
auf der Wahlkämpfe in Lübeck von nicht au unferschätzender Be⸗ 
eutung sein dürfte. 
Wir lassen nunmehr einen eingehenden Bericht über die 
Bersommlung selbst folgen. Gegenstand der Verhandlung war, 
vie schon mitgeteilt, das Wahlrecht zur Bürgerschaft. 
ßenosse Stelling führte in seinem einleitenden Vortrage aus, 
ie lübeckische Staatsverfassung entbehre jeglichen freiheitlichen, 
enokratischen Geist, und in der Republik Lübeck wäre man 
veit davon entfernt, den Willen des Volkes als das höchste 
ßesetz anzuerkennen. Demgemäß sei auch das Wahlrecht zur 
zürgerschaft. Darum müsse es völlig geändert werden und 
ille wirklich Liberalen hierbei mit der Sozialdemokratie Hand 
n Hand arbeiten. Eine Volksvertretung, die sich auf be— 
timmie Bevölkerungsschichten stütze und nicht auf Grund eines 
lerechten Wahlsystems gewählt fei, nrüfse innerlich verfaulf 
ein. Die Bürgerschaft vertrete darum auch nicht die Intereien 
der Allgemeinheit, das zeige die Aufhebung der demokratisch— 
reiheitlichen Freischulen, die Aufhebung der Freibadeamtalten 
durch Einführung einer Bezahlung für die Benutzung der 
Kabinen. die Abspeisung der Arbefitslosen mit 
»inicen Bettelgroschen (türmischer Beifall) und die 
blehnung der Arbeitslosenversicherung, die großen Ausgaben 
ür das Theater, ohne Schaffung hinreichender Plätze für die 
ninderbemittelten Bevölkerungsklassen, die Beraubung der 
?trahßenbahner um ihr Koalitionsrecht, das mangelnde Wohl— 
vollen gegenüber den unteren Beamten bei der Neuregelung 
es Beamtenbesoldungsetats, die Ablehnung aller sozialpolitischen 
Anträge der Sozialdemokraten, die Fernhaltung der Sozial- 
»emolraten aus allen wichtigeren Bürgerausschuße und Bürger— 
chafts⸗Kommissionen und die höhnische und spöttische Ablehnung 
des sozialdemokratischen Antrages auf Aenderung des Wahl— 
echfes usw. Die Bürgerschaft sei die satte Bourgeoisie, die 
nicht das mindeste Verständnis für die Interessen der Arbeiter⸗ 
chaft habe. Die Beschlüsse der Bürgerschaft ließen 
daher auch jeden höheren Geist und jede höhere 
sinsicht vermissen. Sie sei einen Kaffeekränzchen 
dergleichbar, das wohl hin und wieder einmal in einer An— 
wandlung von Mut dem Senat opponiere, dann aber auch 
chleunigst wieder umklappt wie ein Taschenmesser. Allem Hohn⸗ 
ächeln, Spott, faulen Redensarten und Mätzchen zum Trotz 
vurden die Sozialdemokraten aber immer wieder mit ihrem 
Wahlrechtsantrag kommen; ob das den Kaffeeschwestern ir 
»er Bürgerschaft recht sei oder nicht, sei den Sozialdemokraten 
oöllig gleichgültig. Herr Klein und seine Freunde seien eben— 
olche Feinde eines sozialdemokratischen Wahlrechts, wie alle 
inderen Mitglieder der Bürgerschaft. Die bevorstehenden 
Wahlen zur Bürgerschaft mühten mehr als sonst im Zeichen 
des Wahlrechtskampfes stehen. 
Hierauf wurde die bereits im Morgenblatt kurz skizzierte 
Resolution beantragt. 
Nach Herrn Stelling erhielt das Wort Herr Reichs⸗ 
agslandidat J. Klein, der sofort mit Oho!-Rufen empfan— 
jen wurde, die aber verstummten, als der Vorsitzende die Ver— 
ammlung ersuchte, auch dem Gegner Redefreiheit zu gewähren. 
derr Klein begann seine Ausführungen dann damit, daß 
er kundgab, daß ihm von der sozialdemokratischen Partei— 
leitung auch brieflich die Redefreiheit garantiert worden sei, 
ind fuhr dann fort: Den Beifall, den Sie soeben Herrn 
Stelling gezollt haben, werden Sie mir nach Beendigung 
neiner Ausführungen ganz gewiß nicht spenden. Deshalb vin 
ch auch nicht hierher gekommen, auch nicht, um mich zu ver⸗ 
teidigen. Bei den fanatischen Anhängern der sozialdentokra⸗ 
tischen Partei würde das doch nichts nützen, denn Fanatiker 
überzeugt man überhaupt nicht, sie sind sachlichen Gründen 
niicht zugänglich. Aber ich nehme an, daß ich nicht nur Fana— 
iker vor mir habe, und denen möchte ich kurz auseinandersetzen, 
wie ich zu meiner Stellungnahme in der Bürgerschaft gekommen 
bdin. Mir ist nicht recht, daß unser Wahlrecht schlechter ist 
als früher, aber ich muß bekennen. daß die sozialdemokratische 
Partei einen großen Teil Schuld daran hat. Wie lag denn 
»ie Sache? Im Jahre 1875 hatten wir das allgemeine, 
leiche, geheime und direkte Wahlrecht. Ich nehme dieses 
zahr, weil sich hierauf das am Sonntag morgen verteilte 
orialdemokratische Flugblatt bezieht. Dieses Wahlrecht. für 
desfen Erwerbung man freilich damals ein Bürgergeid von 
6 Mebezahlen mußte, bestand his zum Tezember 1902. Die 
Abänderung bestand darin, daß man einerseits das Bürgergeld 
allen ließ, und andererseits die Zensuswahl von 1200 M 
inführte. Die Einführung dieses Zensus geschah deshalb, weil 
man dem immer stärkeren Anwachsen der sozialdemokratischen 
ztimmen, nicht etwa der Stimmen der Arbeiterschaft, bitte, 
alten Sie das auseinander, denn nicht jeder Arbeiter ist So— 
ialdemokrat, einen gewissen Halt gebieten wollte. Und als 
iun die nächsten Wahlen ergaben, daß man auch durch die 
kinführung des Zensus von 1200 Musich auf die Dauer nicht 
jegen die Gefahr einer sozialdemokratischen Mehrheitshert— 
chaft schützen konnte, führte man das jetzt bestehende Wahl— 
echt ein. Das ist kurz der geschichtliche Hergang. Die Be— 
chränkung des Wahlrechts ist also, um es nochmals hervor—⸗ 
uheben, erfolgt, weil man nicht wollte, daß das Erfurter 
ßrogramm in Lübech zuerst in die Tat umge— 
etzt wurde. In dem sozialdemokratischen Pro— 
„zramm, das die bestehende Geseillschaftsordnung vollständig 
imkrempeln will, Liegt also die Ursache, daß das hier 
estandene Wahlrecht immer mehr beschränkt worden ist. 
Zuruf: Beweisen Sie, was Sie eben behauptet haben!) Herr 
Tlein (ortfahrend)?: Ihr Zuruf beweist mir, daß Sie meine 
lusführungen überhaupt nicht begriffen haben, sonst fönnten 
Sie einen solchen Zuruf gar nicht machen. Mit vollem Recht 
age ich, die Sozialdemokratie ist daran schuld, daß die 
Arbeiterschaft in Lübech jetzt geringere politische Rechte als 
rüher besitzt. Der Wahlverein der Liberalen, zu dem ich 
»amals gehörte, und auch die freisinnige Volkspartei haben 
ie Abänderung des Wahlreqhts, ebenso wie die 
Sozialdemokratie, nicht gebilligt. (Zuruf: Sie 
jaben aber doch dafür gestimmt.) Herr Klein UEGortfahrend): 
Vas soll man nun zu einem solchen Zwischenruf sagen? Ich 
var ja damals noch gar nicht in der Bürgerschaft! Wir 
aben damals die Verhältniswahl ohne Klassenabgrenzung 
efordert, freilich nicht vom 20. Lebensjahre ab, wie Sie, 
ondern vom 285. Unserer Meinung haben wir in einer Reso— 
ulion, die die glatte Ablehnung der damaligen 
borlage forderte, Ausdruck çcegeben. Nun habe ich in 
neinen Ausführungen in der Bürgerschaft am vorigen Montag 
etont, daß die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unserer 
zeit in manchen modernen Staaten eine freiere Gestal⸗ 
ung des Wahlrechts erfordert. Das beziehe ich auch 
iuf Lübeck. und ich bin gern bereit, wenn Sie A nträge 
m Rahmen des Erreichbaren siellen, hierbei 
nitzuwirken. Ihr jetziger Antrag liegt aber nicht inner—⸗ 
jalb dieses Rahmens. Ihr Antrag ist einfach nicht diskutabel. 
Bebel hat einmal gesagt: „Was wir erstreben, ist nicht 
von heute auf morgen durchsetzbar. Wir marschieren in 
Etappen.“ Mit Ihrem Antrag aber marschieren Sie nicht in 
Etabppen. Sie wollen diesen Punkt des Erfurter Programms 
nit einem Male durchsetzen, dafür ist die heutige Zeit noch 
iicht reif. Was später einmal werden kann, darüber brauchen 
vit uns jetzt nicht zu unterhalten. Sorgen Sie dafür, daß 
vie jetzige Generation auch etwas erreicht, und arbeiten Sie 
nicht bloß für die künftige. Ich wiederhole: Ihr heutiger 
Unttag ist für mich nicht diskuiabel. Und wenn Sie ihn 
wiederbringen, wie Sie verheißen, werde ich jedesmal dagegen 
timmen. In früherer Zeit gab es heilige Zahlen, Ihnen 
cheint die Zahl 20 heilig zu sein. Ja, sogar dem „Vorwärts“ 
st diese Zahl heilig, denn er schreibt in seiner Rummer 220 
om 20. September, daß die Lübeger Bürgerschaft den Antrag 
er Sozialdemofraten. allen Staatsangehöcianen beiderlei Ge-—
	        
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