.3 * X
8 ⸗ J *
s
90
Wöchentlich 13mal (Wochentags morgens und
abenbs, Sonntags morgens) erscheinend. Bezugs
preis für das Vierteljahr 3,80 Mark einschließlic
Vringgeld in Lübeck. Durch die Post bezogen ohn
Besleigeld 3330 Mark. Einaelnummern 10 Vig.
Anzeigenpreis (Ausgabe A und B) für die 58gesp.
zeile 20 Pfg. Kleine Anzeigen (Arbeitsmarkt usw.)
5 Pig., für Auswärtige 830 Pfg., f. Geschäftl. Mit⸗
teilungen 1Mk. d. Zeile. Tabellen⸗ u. schwieriger
Satz den Anforderungen entsprechend höher. o 0
Beilagen: Vaterstädtische Blätter. — Der Familienfreund.
Amtsblatt der freien und hansestadt Lübeck 161. Jahrgang —Ti
Beiblatt: Gesetz⸗ und Verordnungsblatt RtE wnemenvrdri dnnna ceanm dr gürstentũmer Ratz eburg. Lubeck und das angren⸗
— 8 σαααασασασασασασασασασοααο e zende medlenburgische und holsteinische Gebhiet.
Drud und Verlag: Gebrüder Borwers G. m. b. S. in Lũbed. — GSeschäftsstelle Adreß baus (Koömiastr. 46). Ferniprecher 00 u. SO0D]J. —
Ausgabe Sonnabend, den 16. September 1911. Abend⸗Blatt Nr. 470.
— Erstes Blatt X
Amfang der e
nichta
niatt.
Nauιοιιιιιιασα
V Teis.
* I
Der Anschlag gegen Stolypin.
J d. Lübed, 16. September.
Das alte Kiew, die Mutter der russischen Städte, die
lange vor Moskau die Hauptstadt des jungen russischen Reiches
war, mußte Donnerstag in seinen Mauern ein blutiges Drama
erleben, dessen tragischer Ausgang das Mitgefühl eines jeden
Kulturmenschen erwecken ird. Im Zwischenakte der Fest—
vorstellung, die den Zaren und das kaiserliche Haus mis
der Creme der russischen Gesellschaft im Theater vereint hatte
wurde ein Anschlag gegen das Leben des russischen Minister—
präsidenten verübt. Noch fehlt eine sichere Kunde, ob Peter
Arkadjewitsch Stolypin dem tödlichen Blei erliegen wird; die
Verletzung edler Organe gibt jedenfalls zu den schlimmsten
Besorgnissen Anlaß. In der Verurteilung dieses Attentats
weiß man sich eins mit der ganzen Kulturwelt. Solange eine
chrisstliche Sittenlehre besteht, wird niemand das Recht für
sich ableiten können, seinen politischen Gegner zu ermorden.
Wer trotzdem so handelt, der stellt sich außerhalb der Ge—
jetze. um dafür von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen
verdammt zu werden. Von dieser Schuld kann sich der
Anwaltgehilfe Bagrow auch durch die Aufopferung seines
eigenen Lebens nicht reinigen.
Unbekannt ist bisher auch noch geblieben, ob im
Ministerpräsidenten seine Persönlichkeit vder das
Regierungssystem, das er vertrat, getroffen werden
jollte. Wie sehr dieser Mann von der Revolution ge—
fürchtet wurde, hat schon der ecste Anschlag gegen sein Leben
bewiesen, der am 26. August 1906 erfolgte. Damals fügte
es ein glücklicher Zufall, daß der Ministerpräsident nicht zu
Hause war, als die Bombe sein Palais in seinen Grundfesten
erschütterte. Und wenn er schon vorher furchtlos seine Politik
vertreten hatte, so kämpfte er nach dem mißglückten Anschlag
nit noch größerer Härte gegen die sozialrevolutionäre Vartei.
Aus diesem Kampfe, der über zwei Jahre dauerte, ging
Stolypin als scheinbarer Sieger hervor. Der Zweikampf zwischen
»er Bombe und dem Galgen ließ den Galgen siegen. Aber
reilich wäre es auch Stolypin nicht gelungen, der Sozial—
revolutionäre Herr zu werden, wenn er es nicht verstanden
Jätte, sich heimlich ihre Führer durch Bestechung zu gewinnen.
Der Verrat Gapons und Asews ließ alle sozialrevolutionären
Anschläge im letzten Augenblick scheitern, weil die vermeint—
iichen Führer der Partei sich zu Spitzeln der russischen Regie—
rung erniedrigt hatten. Als aber ihr Verrat entdeckt und
sie selbst einer gerechten Strafe durch ihre Genossen verfieten
da wußte man auch bereits im voraus, daß die Tage der
Ruhe in Rußland vorüber waren und neue Anschläge gegen
die Minister kommen würden. **
Der Attentäter Bagrow hat übrigens einen politisch Ster
benden erschossen. Daß Stolypins Tage als Minister gezählt
waren, das durfte man bereits seit Wochen als feststehend
hetrachten. War es doch fast schon ein Wunder, daß er die
Trisis des letzten Märzmonats überstanden hatte. Mit der
duma hatte er es verdorben, ohne dan ihm das besonders
zeschadet hätte. Aber den Reichsrat gegen sich aufzubringen,
den e influßreichsten Männern der konservativen Partei, wie
Durnowo und Trepow e inen unfreiwilligen Sommerurlaub
rufhalsen: das kann sich nur einer leisten, der das Vertrauen
»es Zaren immer wieder neu zu erobern versteht, solange ihm
riicht die Türen des Privatkabinetts endgültig verschlossen ge—
jalten werden. Bei Zar Niktolaus II. behält immer Recht.
ver als letzter sein Vhr gewonnen hat.
Aus diesem Grunde möchte es jetzt mit Stolypin aus sein,
ruch wenn seine schwere Wunde sich als heilbar erweisen sollte.
Mit seiner längeren Entfernung von den Geschäften muß auf
ille Fälle gerechnet werden und dieser Zeitraum dürfte den
ffenen, wie den versteckten Gegnern genügen, um das Herz
des Monarchen von dem Manne abzuwenden, der sich für ihn
geopfert hat. Denn daß ihn früher oder später die Todes⸗
Atgel treffen mußte, daran wird er selber nie gezweifelt haben.
— —
denten auf dem zweiten Wagen den Besitzer des Cafés Passage,
Morgenstern, plaziert und an dem Wagen die Inschrift an⸗
gebracht:
O du mein lieber Morgenstern, *
Du hast die Sozi gar zu gern!
Der Wagen wurde flankiert von zwei imitierten Schutzleutenz
zie über der Uniform rote Schärpen trugen. Auf dem fol⸗
genden Wagen sah man Rosa Luxemburg in rotem Schlepp⸗
gewande, mit der Palme in der Hand, als Friedensengel, an
ie gelehnt August Bebel. Auf einem weiteren Wagen hatte
Ledebour Maurenbrecher vor und keilte ihm den Kopf ein, und
war nicht zu knapp. Auch der Reichstagsabgeordnete Leber, der
in einer Rede auf dem Parteitage die Genossen ermahnt hatte—
sleißig das Volksbad zu besuchen, war auf einem Wagen ver
treten. Er zeigte sich als glücklicher Besitzer einer Badewanne,
die er unermüdlich anpries. Das schönste brachte aber der
Schluß. Da fuhr ein Dienstmann eine kleine Handkarre, die
das Ergebnis des Parteitages in kurzer aber vielsagender
Weise zusammenfaßte: einen Haufen Mist! Der Zug bewegte
sich von 1 Uhr an durch die Hauptstraßen der Stadt und war
überall der Gegenstand lebhaftesten Interesses.
Der Stand der Vorarbeiten zum neuen Straf⸗
gesetzhuch.
Auf dem zweiten deutschen Richtertage in Dresden machte
Ztaatsanwalt Dr. Klee Mitteilung über den gegenwärtigen
Stand der Vorarbeiten zum neuen Strafgesetzbuch, wobei er
vusführte: Der im Frühjahr 1011 erschéenene, von vier Straf—
echtslehrern verfaßte Gegenentwurf baut auf der Grundlage
des Vorentwurfs auf, bringt aber nach manchen Richtungen
vesentliche Verbesserung, so namentlich die Siche-
rungswahrung unverbesserlicher Verbrecher
ind die Schutzaufsicht über Strafentlassene,
Besserungen, die sich die seit einigen Monaten tagende Kom—
nission in ihren Beschlüssen zum Teil bereits angeeignet hat.
Die Arbeiten zur Reform des materiellen Strafrechtes sind
o weit vorgeschritten, dan begründete Hoffnung besteht, das
neue Strafgesetzbuch werde noch vor Abschluß der Reform des
Strafprozesses in Kraft treten, die logischerweise der Reform
des materiellen Strafrechts nicht vorauszugehen, sondern nach—
zufolgen hat. Da andererseits wohl noch mindestens
drei bis fünf Jahre bis zur varlamentarischen Beratung
des Regierungsentwurfes eines neuen Strafgesetzbuches ver—⸗
zehen werden, so ist das recht baldige Intrafttreten
der kleinen Strafgesetznovelle dringend erwünscht,
eines Notgesetzes, das namentlich die hohen Rückfallstrafen beim
kleinen Diebstahl beseitigen wil und jedenfals insoweit zur
Verabschiedung gelangen muß.
Derselbe Redner vertrat die Ansicht, daß der Gesichtspunkt
der im allgemeinen zu der Forderung der Abschaffung der
Prüqdelstrafe führe nicht zutreffe auf die von der Kom—
— —— — —
Brief spricht eine Welt von Gefühl. Vielleicht haben Sie sie
nicht erkannt, und sie hat bei aller äußeren Indolenz ein
eiches Innenleben geführt. Oder, wie sie selbst sagt, sie
ist nun erst „aufgewacht“. Ob zu ihrem Glüch? — Was
sagt Ihr Vater?“
Ingeborg hob die Schultern und machte ein verlegenes
Gesicht.
„Leider sagt er gar nichts und wird tun, was Groß—
mutter befiehlt. Es ist mir so unverständlich. Früher war
Papa ganz anders, energisch, und wußte, was er wollte.
Seit ihn die pekuniären Sorgen drüden, gängelt ihn Groß—
mutter vollständig mit ihren paar Kröten. Die stete Angst,
daß sie ihre Hand von ihm ziehen könnte! Es ist
rurchtbar!?“
„Ja, es ist furchtbar,“ wiederholte Josa schwer. „O,
Ingeborg, wie ist es nur möglich, daß Sie alle so sorglos
dahinleben? Sie könnten so viel tun, um Ihrem Vater die
Sorgenlast zu erleichtern!“
„Wie sollten wir das wohl?“ Das blonde Mädchen machte
eine heftige Bewegung unwilligen Staunens, daß der weiße
Sand wie ein Silberwölkchen um sie her stob. „Ach so —,
Sie sagten es neulich schon einmal. Sparen! — Kinschränken
— — puh! scheußliche Worte sind das. Und es geht einfach
nicht. Es liegt nicht in uns. Nie lag es in den Eggelows.
Werfen Sie nur einen Blich in die Familiengeschichte. Ein
steter Kampf mit dem Mammon. Wir müssen uns eben
rechtzeitig retten. Wenn Papa dann ein paar wohlhabende
Schwiegersöhne hat ... freilich, bürgerlich dürfen sie nicht
ein! Schließlich übernimmt Hans, dessen Mutter eine Eggelow
ist. mal das Gut, und wir nennen uns RohnEggelow,
Dann setzen wir Vater auf ein gemütliches Altenteil. Wenn
ich nur wüßte, auf was Hans noch mit seiner Erklärung
wartet. Es ist greulich. Jedesmal, wenn ich mit ihm allein
bin, denke ich, er schießt los! Schließlich muß ich es noch tun!“
Aufs peinlichste berührt, wandte Josa die Augen von
der offenherzigen Sprecherin. Aber sie bemerkte es gar nicht.
„Was übrigens fein ist — nun gibt uns Vater morgen
sicher die vier Pferde. Er wird froh sein, wenn wir alle
aus dem Hause sind.“
„Aber Ingeborg! Mie ist es möalich. daß Sie angesichts
Der sozialdemokratische Parteitag und Jenager
sStudentenulk.
Die am Schluß der gestrigen Vormittaassitzung des sozial—
»emokratischen Parteitages von Bebel und Leber angekündigte
tudentische Gegendemonstratison fand bereits un—
nittelbar nach der Sttzung statt, wodurch die Genossen voll—
zändig überrascht wurden. Der anwesende Teil der Je—
jenser Studentenschaft hat sich eine Anzahl Möbelwagen be—
orgt, die mit lauter amüsanten, auf d'e Verhandlungen be—
üglichen Inschriften bedeckt waren. Auf dem ersten Wagen be—
and sich eine Musikkapelle, der jedoch das Spielen untersagt
oar. Mit Rücksicht auf das vom Bezirksdirektor in Apolda bis
ur Stadtverwaltung von Jena den Sozialdemokraten gegen—
ber bewiesene Entgegenkommen war die ganze Veranstaltung
ls eine Verulkung dieses Entgegenkommens gedacht. So
atte der Bezirksdirektor von Apolda die Beschwerde des
Weinstubenbesitzers Paul Göhre abgelehnt, wonach dieser den
ßenossen das Recht abstreiten wollte, den Platz vor seinem
Lokal mit Tischen und Stühlen zu besetzen. Ferner hatte
—A——
erenden Kapelle untersagt, während des Parteitages das Lied
Deutschland, Deutschland über alles“ aus Rücksicht auf die Ge—
ofsen zu spielen. Schließlich wurde auch auf Seiten der
5chutzmannschaft ein sehr libera'ses Verhalten gegenüber dem
ßarteitage bemiesen Nus diesen sCründen hatten die Gtu
Der Liebe Götterstrahl.
Roman von Marga Ranle.
(25. Fortsetzung.) Machdruck verboten.)
„Na also, auch gut,“ sagte Ingeborg zufrieden, räusperte
sich, und ohne noch einmal abzusetzen, las sie den Brief
in einem Zuge herunter; &
„Hamburg, den 9. Juni 19..
Mein teurer, verehrter Vater!
Mit Zagen ergreife ich die Feder, um Dir zu schreiben,
denn ich weiß, daß ich Dir einen großen Schmerz zufügen
muß. Ich habe den kindlichen Gehorsam, den ich Dir schuldig
bin, gebrochen, weil ich nicht einsehen konnte, was Großmutter
jür ein Recht dazu hat, meine Zukunft zu vernichten.
So habe ich denn mein Leben selbst in die Hand genommen.
Ein Zufall — oder war es Gottes Fügung — führte mich auf
der Rückreise von Addys Hochzeit im Zuge mit Herrn Ermeler—
Ermelershof zusammen. Und gerade wegen' der früher mit
Euch dieses Mannes halbber bestandenen Kämpfe sah ich mii
klaten Augen. Meine Vernunft überdachte noch einmal alles,
was Ihr mir zum Nachteil dieser Verbindung gesagt hattet.
Aber meine Liebe siegte ohne einen Gedanken an Kampf. So
nuß es wohl die wahre, echte Liebe sein.
Mein teurer Vater, nun kommt aber erst die Hauptsache!
Großmutter würde mir jedenfalls diese Liebe — wenn auch
als ihr unbegreiflichen Luxus — so doch achselzuckend ge—
statten. Indessen habe ich mich entschlossen, mich nicht dabei
zu bescheiden. Ich bin aufgewacht aus dem farb⸗ und taten—
losen Dahinleben, das ich, meinen Anlagen nach, bequem fand,
und in das ich bei der Prinzeß ganz und gar versank. Der
eiserne Kopf der Eggelows hat sich bei mir durchgearheitet
und ich habe energisch gehandelt.
Ich habe mir bei der alten Turchlaucht in Familienange⸗
legenheiten Urlaub genommen und bin nun hier in Hamburg
bei der verheirateten Schwester Ermelers.
Ich möchte ihn nicht wiedersehen, bis Du, mein teurer
Vater, ihm Dein Haus öffnest. Meine Dankbarkeit würde
keine Grenzen kennen. mein geliebter Vater! Nie solltelt Du
GHelegenheit haben, zu bereuen, daß Du Deine Einwilligunqg
jabst, das schwöre ich Dir.
Im anderen Falle — es ist furchtbar zu denken und noch
urchtbarer auszusprechen —, ich bin mündig, mein teurer Vater!
Ich müßte Dich bitten, mir meine Papiere zu senden und würde
mich vom Hause seiner Schwester aus mit Herrn Ermeler ver—
eitaten.
Mein teurer, mein geliebter Vater! Verstoße mich nicht!
Laßt mich doch glücklich werden! I Es küßt Dir die Hand
Deine gehorsame Tochter Irma.“
„Gehorsame Tochter!“ wiederhoite Ingeborg, den Brief
usammenfaltend, „das, schreibt sie noch aus alter, guter Ge—
wohnheit. Na, ich kann nur sagen: Allerhand Achtung! Das
Frauenzimmer zwingt mir glühende Bewunderung ab. Wer
vätte das in Irma gesucht? Ich bitte ibhr alles B
Famos, nicht?“
Sie war aufgesprungen und ein paarmal in rasendem
Tempo auf und ab gelaufen. Irgendwie mußte die ange—
ammelte Begeisterung sich doch betätigen. Dann kehrte sie
an den verlassenen Platz zurück. Josa sollte die Bewunderung
mit ihr teilen. Erwartungsvoll wendete sie sich der Freun—
din zu.
Doch sie erschrak.
Josas wunderschönes Angesicht war voller Schmerz, und die
nachsschwarzen Augen, die sie jetzt zu Ingeborg aufschlug,
glänzten in Tränen.
„Aber Herzenskind, Sie weinen?!“
„Verstehen Sie das nicht?“ sprach Josa mit dunkel um—
chleierter Stimme, „greift es Ihnen nicht ans Herz? Können
Sie sich nicht vorstellen, was für bittere Stunden voll Qual
Ihre arme Schwester wohl durchgemacht hat, ehe sie sich zu
diesem Entschluß durchrang? Sie rerliert die Heimat, das
Elternhaus. Und nicht nur den Vater gibt sie auf — jede
einzelne der Schwestern, an denen sie doch sicher mit Zärt—⸗
ichleit hängt. ...“
„Sie überschätzen Irma,“ murmelte Ingeborg, die betroffen
zugehört hatte. „Sie beurteilen sie nach sich. Wir sind aber
von anderem Schlage — wir ühlen nicht so tief.“
Josa lächelte traurig.
Ich alaube es nicht.“ saate die lanasam. .Aus diesem