Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

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Ausgabe * 
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Montag, den I. September 191. 
Abend⸗Blatt Ar. 460. 
Aus den Nachbargebieten. 4 
Sansestãdte. —* 
Samburg, 11. Sept. Kleine Nachrichten.) 9600 
Mark unterschlagen. Freitag wurde der Bote Max 
Schmidt der Baufirma F. H. Schmidt aus Altona nach Ham— 
—E— 
auch das Geld und ließ sich nicht mehr sehen. Das Geld be— 
stand in 6600 Mein 20.M- und 3000 Miäin 10-M-Stücden. Der 
Verschwundene ist 29 Jahre alt, 1,70m groß, von schlanker 
Etatur und hat rötlichblondes, urzgeschorenes Haar. Bekleidet 
war er mit grauem Jadettanzug, schwarzem steifen Hut, Knopf⸗ 
tiefeln sowie einem Ulster. — Eine Bluttat ereignete sich in 
der Nacht zum Sonnabend in einer Wirtschaft am Dovenfleth. 
Dort zechten mehrere Männer an einem Tisch, an dem es sehr 
laut und ausgelassen zuging. Dabei geriet der Steurer Buch— 
holz mit dem Werftarbeiter Emil Leopold in Streit. Es ent⸗ 
tand ein heftiger Wortwechsel, bei dem auf beiden Seiten un⸗ 
glaublich viel geschimpft wurde. Plötzlich sprang Leopold auf 
und stellte sich vor Buchholz hin, den er aufforderte, mit ihm 
auf die Straße zu kommen, um dort den Strauß auszufechten. 
Buchholz zog jedoch ein Messer aus der Tasche und stach damit 
auf seinen wehrlosen Gegner ein. Er versetzte ihm einen Stich 
in den Oberarm und einen zweiten in den Unterleib, so daß 
Leopold laut aufschreiend zu Boden stürzte. Der Stich in den 
Leib war so tief gedrungen, daß die Eingeweide herausdrangen. 
Der Täter versuchte zu entfliehen, er wurde aber von anderen 
Gästen festgenommen und einem herbeigeeilten Schutzmann über⸗ 
geben, der ihn zur Wache brachte. Leopold, der ins Hafen— 
drankenhaus gebracht wurde, schwebt in Lebensgefahr. 
eriee Schleswig⸗ Holftein. 
Kiel, 11. Sept. Das neue Rathaus wird am 1. Okt. 
zröffnet werden. Bis zum 16. Sept. soll der Umzug aller 
Bureaus bewerkstelligt sein. — Der Ausbau der Düstern⸗ 
brooker Straßenbahnlinie hat nunmehr endlich Aus— 
sicht, in Angriff genommen zu werden. Zwischen Vertretern 
der Kgl. Regierung, der Stadt Kiel und der Polizei haben Ver— 
handlungen stattgefunden, die zur Einigung geführt haben. Da 
inzwischen auch einige private Einsprüche zurüdgezogen sind, so 
steht der Ausführung des seit Jahren vielumstrittenen Pro— 
jekts kein Hindernis mehr im Wege. — Bei einer heim— 
lichen Ruderfahrt ertrunken. Bei einer Ruderfahrt 
auf dem Flemhuder See in einem ausrangierten Rennboot des 
Kieler Regattavereins ertranken die Söhne des Chausseewärters 
Möller in Achterwehr und des Arbeiters Ivers in Flemhude. 
Die Knaben hatten das Boot heimlich fortgenommen. 
Oldesloe, 11. Sept. In der Stadtkollegien- 
sitzung wurde der neugewählte Stadtverordnete, Möbel- 
fabrikant Wex, durch Bürgermeister Stawitz eingeführt und vers 
pflichtet. Darauf erfolgte die Abnahme der Rechnung der Ober—⸗ 
realschule mit 104 478 Mäund der des Präparandeums mit 
241587 M. Beschlossen wurde der Neubau eines Schulgebäudes 
für die gehobene Mädchenschule, sowie die Anstellung einer neuen 
Lehrerin an dieser Schule. Eine dängere Verhandlung knüpfte 
sich an den Antrag der Herren H. Halbe und Junge (Itzehoe) be— 
treffend die Genehmigung zur Anlage von Straßen auf dem 
von ihnen an der Lübecker Chaussee erworbenen Gelände, auf 
dem die Erbauung von 60 Villen geplant wird. Da es sich um 
eine für die Stadt sehr wichtige Angelegenheit handelt und meh— 
tere Herren der Stadtvertretung nicht genügend informiert 
waren, wurde die Beschlußfassung über diese Sache auf die nächste 
Sitzung verschoben. Der Antrag des hiesigen Schießklubs von 
1874 auf Ueberlassung eines Terrains zur Errichtung eines neuen 
Schießstandes wurde abgelehnt, da anderenfalls einer unserer 
schönsten Spazierwege geopfert werden müßte. 
Großztherzogtum Old r burg, Fürstentum Lũbed. 
Fr. Eutin, 11. Sept. Die Frage einer elektrischen 
Versorgung Eutins beschäftigte vor einiger Zeit den 
Gemeinderat. Es handelte sich darum, ob man sich der 
Lübeder Ueberlandzentrale anschliehen oder ein eigenes 
Werk bauen wolle. Die eingesetzte Kommission stellt augen⸗ 
blicklich Ermittelungen darüber an, um, allerdings unverbindlich, 
festzustellen, wie groß der Bedarf hier ist. Die Ermittelungen 
sind jedoch noch nicht zum Abschluß gebracht. — DasEutiner 
—— 
— 
eist, das Anfang Zuln wegen der Mauls- und Klauen- 
euche nicht stattfinden durfte, hat nun Sonntag bei schönstem 
Wetter stattgefunden. Der Festzug mit seinen zahlreichen hüb⸗ 
chen, teils aktuellen Festwagen (Marokko, 100 Jahre deutsches 
tdurnen) und 5 Musikkapellen bot in seinem Gesamteindrud 
in wirklich schönes Bild. Aus der näheren und weiteren 
Amgebung war denn auch alles zusammengeströmt, um doch 
a nicht auf dem so beliebten Eutiner Volksfest zu fehlen 
Auf dem Festplatz angelangt, nahmen die Vereine beim Gaben⸗ 
empel Aufstellung. Bürgermeister Mahlstedt erinnerte in kurzer 
Rede an die Bedeutung des Tages als Volks- und Erinnerungs⸗ 
est, an die ruhmreiche Zeit von 1870/71 und ließ sie aus— 
lingen in ein Hoch auf Se. Maj. den Kaiser. Er erklärte dann 
as Fest für eröffnet und der Trubel nahm seinen Anfang. 
Luf dem Festplatze fand, wie im vorigen Jahr, außer dem 
Schießen ein Kegeln um Geldpreise jtatt. Der Platz war mit 
zuden dicht besetzt. — Die Eutina Esperanto-Grupo 
Rozurbo“ veranstaltete Sonnabend im Voßhause einen gut 
zesuchten öffentlichen Vortrag des 1. Vorsitzenden des Deutschen 
ksperanto-Bundes, Dr. Mybs aus Altona. Er sprach über 
„Was wollen wir Esperantisten?“. Im nächsten Monat wird 
vieder ein neuer Kursus beginnen. — Verhaftet wurde 
Zonnabend ein Dienstmädchen, das sich zahllose Betrügereien 
atte zuschulden kommen lassen. Sie vermietete sich auf den 
erschiedensten Stellen. Natürlich war es ihr nur um das 
zandgeld zu tun, das sie in vielen Fällen bekam. Durch 
ine fingierte Verlobungsanzeige ermöglichte sie es auch, dah 
nan ihr Glauben schenkte, als sie sich eine Aussteuer und 
zeischiedene Gold⸗ und Silbersachen bestellte. 
Malente-⸗Gremsmühlen, 11. Sept. Besitz— 
vechsel. Rittergutsbesitzer Ed. Guhl hierselbst hat das etwo 
2400 Morgen umfassende Allodialrittergut Schwartow bei Boizen⸗ 
urg gekauft. 
O Süsel, 10. Sept. Die Nachmahd ist hier größten— 
eils geborgen; sie ist hier zwar nicht reichlich, aber ebenso 
vie der erste Schnitt vortrefflich unter Dach und Fach 
jebracht. — Kartoffelpreise. Eierkartoffeln werden wie 
gewöhnlich mit O—10 Mufür 200 Pfd. bezahlt. 
Großherzogtümer Medlenburg. 
Schwerin, 11. Sept. Senatorenwahl.! Der 
Magistrat wählte Stadtrat Krause-Weißenfels zum Senator. 
132 Bewerbungen waren eingegangen. 
Ludwigslust, 11. Sept. Auf dem Scheibenstande 
ungeschossen. Beim Uebungsschießen der Forstbeamten 
iesiger Gegend auf dem Scheibenstande zu Klein-Laasch er—⸗ 
ignete sich Donnerstag abend ein schwerer Unglücksfall. Ein 
u früh losgegangener Schuß eines Jägers traf den 
jor ihm im Anschlag stehenden Unterförster Kutzbach aus Kolbow 
sei Grabow in den Rücken, so daß Kutzbach sofort zu Boden 
türzte. Auf Anordnung eines schnell aus Neustadt herbei— 
zerufenen Arztes, der den ersten Verband anlegte, wurde der 
Verletzte in das Stift Bethlehem überführt. Die Kugel wurde 
woch in der Nacht entfernt. Teider soll die Kugel das Rüd—⸗ 
rrat durchbohrt haben, so daß wohl wenig Hoffnung auf 
Erhaltung des Lebens besteht. 
Grevesmühlen, 11. Sept. Kirchenrat Dr. phil. 
Theodor Krabbe gestorben. In seinem 73. Lebensiahre 
st Sonntag nachmittag Präpositus Kirchenrat Dr. phil. Krabbe 
n Hohen-Viecheln gestorben. 1839 in Hamburg als 
zohn des späteren Professors der Theologie in Rostock, Kon— 
istorialrats Krabbe, geboren, wurde der Verstorbene 1869 
Bastor in Roggendorf bei Gadebusch. 1884 Pastor in Hohen⸗ 
Viecheln, 1900 Präpositus der Synode Mecklenburg und am 
J. April 1908 zum Kirchenrat ernannt. Der Heimgegangene 
var unter anderem auch Vorsitzender der Vereinigung mecklen—⸗ 
zurgischer Geistlicher. 
Röbel. 11. Sept. Waldbrand. Ein Großfeuer ver⸗ 
nichtete Freitag in den Kussow-Retzower Tannen ungefähr 
30 Morgen Stangenholz und Schonung. Die Entstehungsursache 
des Feuers ist nicht bekannt. 
88 Grevesmühlen, 11. Sept. Die Elektrizitäts— 
venossenschaft hat an Stelle des verst. Hofrates Ihlefeld 
Bürgermeister Dr. von Leitner in den Vorstand gewählt. — 
Verhaftet hat die Gendarmerie in den Everstorfer Tannen 
das vom Amtsanwalt in Güstrow gesuchte unbekannte Schwinda 
leipaar in den Personen dies Kaufmanns Walter Diettrich aus 
Dunesden und der Kellnerin Emma Jensch aus Liegnitz und 
lieferte es ins Amtsgerichtsgefängnis ein. — Die Bauge4- 
nossenschaft hat ihr verflossenes Geschäftsijahr in Aktiva 
und Passiva mit 17686,69 Muabgeschlossen. Die Mitglieder- 
zahl betrug 14. — Ein kleiner Waldbrand entstand 
„orgestern in den Börzower Tannen, dem die Bretter- 
oude „Westphals Lust“ zum Opfer fiel. Da in der Nähe be— 
chäftigte Eisenbahnbeamte schnell zur Stelle waren, konnte das 
Feuer gelöscht werden, ehe es einen gröheren Umfang annahm. 
Entstehung unbekannt; böswillige Brandstiftung wird vermutet. 
ad.ecn ate im Cheater. 
Zum Sutverbotdes Herrun v. Jagow. 
Margarete v. Suttner cigreift zu diesem Hutverbot 
im Berliner Tageblatt wie folgt das Wort: 
Man erzählt sich, Herrn v. Jagow wäre das uniforme 
Bild, das die „unbehuteten“ Damen in den Londoner Whe— 
atern bieten, als etwas Besonderes sehr sympathisch auf- 
jefallen. Jede elegante Frau wird sich darüber wundern. 
Sie weißß, wenn sie nur etwas gereist ist und gewohnheits- 
näßig in den Theatern Logenplätze einnimmt, daß sich ihr 
n allen Metropolen dasselbe Bild bietet. Keine Tame in 
Jaris, Wien, Brüssel, Mailand, Rom trägt in ganz be— 
timmten Theatern während der „Saison“, die außer in London 
nit dem Winter zugleich einsetzt und bis zum Frühling dauert, 
n der Loge einen Hut. In allen Opernhäusern, im Burg⸗ 
cheater, der Comédie Francaise, der Scala, im Thoééatre de la 
Monnaie in Brüssel erscheint das Logenpublikum in stillschwei— 
zjendem Einverständnis in Soiree- oder Balltoilette, und zu 
»ieser gehört niemals ein Hut. Sobald „die Saison“ 
zworbei ist, erscheint man auch in diesen Theatern in 
Demitoilette“ — also nicht dekolletiert — und mit Hut. 
Die Zusammenstellung von dekolletierter Toilette und Hut ist 
ine Modelaune. Niemals jedoch ist dieser Anzug das, was 
man unter „offiziellem Anzug“ versteht. Er ist eine Mode— 
laune, die den Weg über das „Brettl“ nahm, ron wo sie 
zuerss ins Tingeltangel gelangte, dann in die geschlosse— 
nen „Baignoires“, in die Spielsäle, die Hotels 
und in alle jenen Theater, die zum Unterschied von den „offi⸗— 
ziellen Theatern“ die „nicht offiziellen“ genannt werden könnten. 
Fine Modelaune, die übecall am Platz ist, wo ein gewisses 
„Sans⸗Gene“ herrscht, eine gewisse Pikanterie in der Mischung 
zon Publikum und Programm. 
In jenen Theatern, die der Wiener als Vorstadttheater 
jezeichnet, worunter er nicht etwa , Schmieren“ versteht, ist 
ein nicht offizieller Anzug am Platze. Jeder trägt dort, 
vas ihm beliebt, und uns Frauen sür diese Theater bezüglich 
»er Toilette Vorschriften zu machen, muß als eine Beschrän— 
kung der persönlichen Freiheit angesehen werden, 
»ie vor allem von allen Fremden als äußerst lästig empfunden 
werden wird. Sobald wir eine dekolletierte Toiletté 
hagen. können wir den Hut sehr gut missen, auch im Theater. 
da sie bedeutend dekorativer ist als die geschlossene. Wir 
zrauchen den Hut auch nach dem Theater, wenn ein Souper in 
zrage kommt, nicht, denn es bommen in diesem Falle nur 
Restaurants ganz großen Stils in Betracht, vor allem die 
hotels, in denen eine Dame ohne Hut nicht auffällt, um 
o mehr, als das Tragen des Hutes selbst im Badeort durchaus 
icht mehr so allgemein ist, ols vor einigen Jahren. Es 
ibt heute Hotels, in denen das RDagen des Hutes am Abend 
uicht mehr Stil ist, Hotels, in Lenen man nicht in z.Interims⸗— 
oilette“, sondern in großer Abendtoilette erscheint. Im all⸗ 
Jemeinen hält man es aber ebenso wie in der ganzen Welt 
im Theater: zur großen Toilette lein Hut, zur kleinen 
Doilette der Hut. 
Den Hut im Theater abzulegen, ohne Spiegel wieder auf— 
zustülpen und ihn überdies — beschädigen zu lassen, hat einen 
so unweiblichen, kobetterielosen Beigeschmack daß 
es den Theaterbesuch versalzt. Es gibt eben auch noch Menschen, 
die das Theater nicht als eine Art Kirche betrachten möchten. 
in der man im Finstern in Andacht versunken lauschen muß. 
sondern als einen Ort der Belustigung, der Luxusentfaltung, 
wo man sich Komödie vorspielen läßt 
ñHeppelin in Berlin. 
Vonunserer Berliner Feuilleton-Redaktion. 
„Wird sie erscheinen? Aus Tau und Morgen?“, so fragt 
dor sich hinstarrend der Königssohn in Humperdincks, Königs⸗ 
tindern“, der inmitten der freudig erregten Menge steht. Es 
ist zwölf Uhr, und die Mittagsglocken läuten in der Hellastadt, 
die eine Königin erwartet und sich an einer Gänsemagd ver— 
sündigt. 
Dieselbe Frage schwebte auch auf den Lippen derer, die 
in der Reichshauptstadt wohnen, als es am Sonnabend gegen 
die Mittagsstunde ging. Wird sie erscheinen? Aus Tau und 
Morgen? Werden wir sie erleben, die „Schwaben“? Ja, 
nauch wir haben sie wieder erlebt. Zwar läuteten diesmal 
nicht die Glocken, wie es noch im vorigen Jahre in einigen 
Städten geschah, sobald das gewaltige Luftschiff erschien. Der 
Reiz der allerersten, unerhörten Neuheit ist schon dahin, und 
man hat sich ein wenig auch schon an diesen Aublid gewöhnt, 
den ganz kluge Leute vor vier und fünf Jahren als lustiges 
Hirngespinst erklärten. Aber die große Welle patriotischer 
Begeisterung, die hinter dem Zeppelinschiff herzieht, wo immer 
es auch erscheinen mag, dieser breite, kräftige Strom des 
Enthusiasmus hat auch wieder des Reiches Hauptstadt um— 
brandet. Wenn das Luftschiff in seinem ruhigen, sicheren 
Flug an uns vorüberzieht, so haben wir unwillkürlich die 
Empfindung: Das ist deutsche Arbeit! Das ist unser 
Werk! Und es ist nur natäürlich, daß uns für Augenblicke 
iener Stolz beseligt, der nur der Ausfluß eines starken Gefühls 
oer Zusammengehörigkeit ist. Gewitz nötigen uns auch die 
Flugmaschinen Bewunderung ab. Aber sie ist von anderer 
Art. Beim Anblick eines Fliegers staunen wir über die Wag—⸗ 
halsigkeit und Abenteuerlichleit des Menschen, der da mitten 
in einem Käfig von Gestängen, Drähten und Flächen einge—⸗ 
schlopgen scheint. Ver Gedante an Zerbrech chkeit komme 1 
sofort, und ist er erst einmal da, so kommen wir nicht mehr 
don ihm los. Wir wissen, daß auch dem Luftschiff, das so 
ichet und majestätisch dahinzieht, Gefahren drohen und daß 
heute noch jede Minute eine Ueberraschung bringen kann, die 
zwischen Leben und Tod entscheidet. Aber sonderbar: Daran 
denken wir gar nicht, wenn wir den Riesenkörper fliegen sehen. 
Wir stehen vielmehr ganz im Banne seiner Dimensionen und 
ind viel eher geneigt, dieser schwebenden Zigarre Widerstands⸗ 
raft und Zuverlässigkeit zuzutrauen, als den durchsichtigen, 
uftigen Flugapparaten. Ein wenig spricht dabei wohl auch 
in Vorurteil mit, das sich auf Gewohnheit gründet: der 
zasgefüllte Ballon ist uns eben von Kindheit an vertraut; 
daß ein solcher Ballon ungefährdet schweben kann, wissen wir 
rus Erfahrung, und diese Erfahrung übertragen wir unwill—⸗ 
ütlich auf das Zeppelinluftschiff, das ja aus einer Reihe von 
Ballons besteht. Die Aengstlichkeit, mit der wir einen Flug— 
pparat noch immer betrachten, leitet sich vor allem her von 
der Unsicherheit unseres Urteils und dem bisherigen Mangel 
an konkreter Anschauung. 
Merkwürdig, wie schnell das Volk, sobald es einmal einen 
Hedanken durchdacht und. liebgewonnen, auch sprachlich mit 
hm zu Rande zu kommen weiß. Der Berliner legt ja auf 
zürze und Prägnanz besonders viel Wert, und von jeher hat 
r Erkleckliches in der Fixieruag kurzer und bestimmter Be— 
eichnungen geleistet. So wie kein Mensch mehr von einem 
Kinematographentheater“ spricht, sondern kurzweg vom, Kino“ 
loder in den unteren Volkskreisen vom „Kientopp'), so will 
hm auch die Bezeichnung „Luftschiff“ oder „Luftkreuzer“ nicht 
ꝛecht aus dem Munde. Man kann schon jetzt beobachten, daßj 
ich für Luftschiffe jeder Gattung der Ausdruck „Zeppelin“ 
inbüngert. „Zeppelin kommt!“ „Haben Sie den „Zeppelin“ 
jesehen?“ Das kann man alle Augenblicke auf der Straße 
hören. Das Wort „Luftschiff“ fällt kaum. So setzt das 
— 
Bolt, unbetümmert um theoretische Bedenken, instinktiv den 
Erfinder an die Stelle der Erfindung und trifft damit unbe— 
wußt den Nagel auf den Kopf. 
Viele Menschen in Berlin, besonders solche, die in engen 
Straßen wohnen, haben die „Schwaben“ nicht gesehen, aber 
ie haben sie gehört. Es scheint fast, als ob das Brummen 
und Knattern in der Luft untrennbar mit dem Fliegen ver—⸗ 
hunden sei, und doch wird es sicher eines Tages gelingen, 
diese lästigen Geräusche zu vermindern. Alte Leute wissen 
uns noch von den früheren Eisenbahnen zu erzählen, von 
dem Schütteln und Rattern der Wagen, von der Umständlichkeit 
ind Schwerfälligkeit des Betriebes. Die jüngere Generation 
ennt diese alten Vehikel nur noch vom Sörensagen. Wie 
zequem und mit wie wenig Geräusch fahren die großen Wagen 
unserer D-Züge, wie leicht und angenehm ist ihre Federung, 
und wie sicher gleiten sie auf den Gleisen hin! Wir stehen 
immer noch im Anfang der Erfindung und dürfen zuversichtlich 
damit rechnen, daß ebenso, wie man bei der „Schwaben“ be⸗ 
teits die vorderen Höhensteuer weggelassen hat, quch Mittel 
und Wege gefunden werden, das überstarke Geräusch der 
Motoren zu verringern. J 
Und noch eins durfen wir hoffen: daß eines Tages die 
Passagierfahrt im „Zeppelin“ zu annehmbaren Vreisen möglich 
wird. Denn Preise von 200 bis 500 Meäfür eine Fahrl 
»on zwei bis drei Stunden sind für die meisten Menschen 
imannehmbar. Freilich, man kann es den Veranstaltern von 
Passagierfahrten nicht verdenken, wenn sie die gegenwärtigl 
dochkonjunktur auszunutzen suchen und die Neugier besteuerm 
vegenũüber den paar Leuten, die da oben im „Zeppelin“ mit⸗ 
ahren, sind wir, die wir unten auf der alten Erde stehen, 
ꝛigentlich misera plebs. Aber von den ersten, die im Luft 
chiff fuhren, darf man getrost sagen: sie werden nicht di 
ekten sein. 4.
	        
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