Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

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Ausqabe A. 
Mittwoch, den 6. September 1911. 
Abend⸗Blatt Kr. 451. 
Aus den Nachbargebieten. 
Zansestãdte. 
Samburg, 6. Sept. Die Zahl der Auswanderer 
us dem Deutschen Reiche über Hamburg betrug im Auaust 
911 526 gegen 507 im gleichen Monat des Jahres 1910. Neben 
»en deutschen Auswanderern wurden im August 1911 noch 4695 
August 18910: 6725) Auswanderer iremder Staalen über Hamburg 
efördert. 
Besichtigung des Elbetunnels. Etwa 8009 Per⸗ 
sonen haben sich zur Vorbesichtigung des Elbetunnels wegen 
Abgabe von Einlaßkarten an die Wasserbaudirektion gewendet. 
Miltwoch nachmittag werden mehrere große Vereine auf der 
St. Pauli⸗-Seite einfahren. 
Diebstähle im Stadtpark. Schon seit mehreren Tagen 
wurde von den aufsichtsührenden Perlonen, die die Arbeiten im Stadt⸗ 
park leiten und überwachen, bemerkt, daß Wagenladungen mit 
Schienen und Kippwagen vom Bauplatz entfernt wurden. Von wem 
die Trausporte ausgeführt wurden und wer die Anordnung zum 
Forischaffen der Sachen gegeben hat, ist noch nicht ermittelt. Es 
purden ein Schachtmeister und ein Schmiedegeielle als der Täterlchaft 
jerdächtig feltgenommen. Beide bestreiten jegliche Schuld. 
Erwollte nur maltelephonieren. In eine Bäckere 
im Steindamm kam ein Unbekannter und bestellte eine Torte für 
z3 M, auf die er 1 Megleich anbezauhlte. Dann bat er, das Telephon 
zenutzen zu dürfen, das sich hinter dem Laden befand. Er telepho— 
nierte eiwa 5 Minuten lang und entfernte sich dann. Nach einer 
jalben Stunde entdeckte die Inhaberin der Bäckerei, daß aus dem 
erschlossenen Geldschrank ein graues Lederportemonnaie mit 500 M 
Inhalt gestohlen war. Die Schlüssel des Geldschrankes hatten obenauf 
Jelegen, dort wurden sie auch noch vorgefunden. 
Verhaftung zweier jugendlicher Brandstifter. 
Auf dem Hauptbahnhof erregten zwei junge Burschen die Aufmerk⸗— 
amkeit eines dort postierten Kriminalbeamten. Der Beamte nahm 
die jungen Leutchen in ein Verhör und entlockte ihnen das Geständnis, 
paß sie aus Oesterreich geflohen waren, da sie dort ein mit Stroh 
gedecktes Landhaus in Brand gesteckt haben. In dem Besitz des einen 
ugendlichen Brandstisters fand man 720 Kronen. Nach seiner An⸗ 
jabe erhielt er von seinem Vater, der durch eine Frau, die Augen⸗ 
zeuge war, als er aus dem brennenden Hause floh, von der Brand⸗ 
ztiftung benachrichtigt worden war, 800 Kronen, um nach Amerika 
—III 
Vrügel erbalten haben. Die Kriminalpolizei schenkt den Angaben 
des Burschen nicht vollen Glauben, da man sicher ist, daß er von 
seinem Vater, der nur ein armer Arbeiter ist, kein Geld erhalten 
haben kann. Weitere Nachforschungen sind eingeleitet. 
Schleswig⸗Holstein. 
Altona, 6. Sept. Zum Fall Schuübert. Der Vater 
des unter dem Verdacht der Brandstiftung in Haft genommenen 
tarl Schubert hat den in Blankenese erscheinenden Nordd. Nach-⸗ 
richten einige Mitteilungen über den Lebenslauf des Sohnes 
gegeben, die das Blatt wie folgt veröffentlicht: „Nach den 
Aussagen des Vaters ist der zurzeit noch in Untersuchungshaft 
befindliche Schubert niemals in Blankenese gewesen. 
Nach seiner Schulzeit sei er bei einer Eisengießerei in die Lehre 
getreten, bald darauf aber zur Landwirtschaft übergegangen, 
weil er nicht richtig angelernt wurde und fürchtete, nicht 
weiter zu kommen. Er hat dann in Meckenburg, in den 
Provinzen Schleswig⸗Holstein und Hannover verschiedentlich als 
Knecht gearbeitet, wurde aber, als man ihn auf der Wander—⸗ 
schaft beim Betteln ertappte, in eine Korrektionsanstalt ge— 
racht. Seine Militärzeit sollte er bei den Kolmarer Jägern 
abdienen. vVier geriet er in Konflikt mit einem Unteroffizier, 
ieß sich zu einer Gewalttätigkeit hinreißen und wurde daraufhin 
u einer Festungshaft von einem Jahr verurteilt, von der er 
eben Mongate in Rastatt abbüßte. Diese Vorkommnisse der 
etzten Jahre, vor allem aber die Festungshaft, beeinträchtigten 
ermaßen seine Willenskräfte, daß er allmählich dem Irrsinn 
ersiel und daher in die Militär-Irrenanstalt in Ahrensberg 
m Rhein überführt wurde. Als unheilbar wurde er hier 
ach mehreren Monaten entlassen, um nach der Irrenanstalt Ham⸗ 
urg⸗Friedrichsükrg gebracht zu werden. Hier hielt er sich 
ier Jahre auf und war dann noch zwei Jahre in Langen⸗ 
orn interniert. Da sich mittlerweile sein Zustand etwas 
ebessert hatte, kam der Leiter der Anstalt dem Wunsche eines 
zruders nach, der in Hamburg den Karrenhandel betrieb, und 
ntließ ihn. Schubert war nun seinem Bruder beim Handel 
ehilflich, mußte sich aber bald wieder als Knecht verdingen, 
a der Handel einging. Er fand auf verschiedenen Plätzen 
chleswig⸗Holsteins Arbeit, käm schließlich auf Wunsch seines 
weiten Bruders, der mittlerweile in Hamburg einen Karren⸗ 
andel angefangen hatte, wieder in die hiesige Gegend, war 
ann noch auf einer Fabrik in Steinwärder fätig, gab aber 
je Stellung wierder auf, weil scine Kollegen ihn fortwährend 
änselten, schikanierten und ihm sogar mit einem glühenden 
isen eine Wunde auf der Backe beibrachten. Schubert wurde 
ieder Knecht und arbeitete in der Lüneburger Gegend, wo 
ranläßlich eines Heidebrandes der Behörde in die Hände 
el. Das weitere ist bekannt. Der Vater hat seinen Sohn 
»äter im Gefängnis besucht und ihm Vorhaltungen gemacht, 
aß er solche Schande über die Familie gebracht. Da hat 
ieser ganz entschieden in Abrede gestellt, daß er 
er Brandstifter sei. Er habe nur zu allem „Ja“ 
esagt, weil ihm eine Belohnung versprochen, wenn er alles 
ingestehen würde.“ — Man wird abwarten müssen, welche 
lufklärung der Gang der weiteren Untersuchung über den 
anzen Fall und insbesondere über die letzterwähnte Be⸗ 
auptung Schuberts bringen wird. 
Kiel, 6. Sept. Die Spar- und Leihkasse teilt 
nihrem Jahresbericht für 1910/11 mit, daß der gewänschte 
zir!schaftliche Aufschwung sich noch nicht wesentlich bemerkbar 
emacht hat. Die Bautätigkeit und die Nachfrage nach 
zypytheken für neue Objelte waren gering. Der Reingewinn 
eiuz 298 000 M. Der Einlagenbestand stieg auf 64,8 Mil- 
onen Mark. — Lebensrettung. Bildhauer und Artist 
zermes, der am 22. Juli in Stein die Artistin Frl. Müller 
om Tode“‘ des Ertrinkens rettete, erhielt vom Regierungs⸗ 
räsidenten eine öffentliche Belobigung. — Seinen Ver— 
eßungen erbegen ist Lokomotivführer Shmock, der Montag 
Jei den Erdarbeiten an der neuen Kanal-Hochbrücke verunglückte. 
Itzehoe, 6. Sert. Mehrere tödliche Unfälle er— 
igneten sich dieser Tage an der Stör. Bei Beidenfleth fiel der 
necht des Schiffers Jürgen Kröger über Vord umd ertranb. In 
ztördorf geriet ein Dreschmaschinenarbeiter beim Vaden in der Stör 
neine Umiefe und ertrank ebenfalls. »Schließlich fiel das zwei— 
ährige Kind des Schiffers Nikolaus Warnede in Heiligenstedten ins 
Wasser und fand' dabei den T—od. 
»Westerland, 6. Sept. Der dreißigtausendste 
ZTurgast, Fabrikbesitzer Luhr, Varmen, ist hier Montag ein— 
jetroffen. Er wurde durch-die Kurkapelle an der Dampfer⸗ 
ilegestelle Mummarsch empfangen. Badekommissar Korvetten⸗ 
apitän Dieperbroick-Grueter begrühßte ihn auf dem Bahnhof 
Vesterland und überreichte ihm eine Ehrenkarte. Ein Wagen, 
‚er mit der aus Blumen gefertigten Zahl 30000 geschmückt 
war. brachte ihn in sein Hotel 
Großhero rum Lubed. 
Fr. Eutin, 6. Sept Das Kreisturnfest des IV. Turn⸗ 
kreises (Rorden) im Jabre 1912, dessen Statifinden wegen 
es einzigen in Frage kommenden Platzes noch fraglich war, ist nun 
‚och gesichert. Die endgültige Entscheidung liegt beim Kreisausschuß. 
Hiese fällt Anfang September aber ohne Frage zugunsten Eutins 
us — da vom Kreisausschuß gewünscht wird, daß das Felt hier abge⸗ 
alten wird. Der Fesiplatz an der Oldenburger Chaussee, eben außerhalb 
er Stadt, am großen Eutiner See, muß als äußerst günstig gelegen 
ezeichnet werden. Es ist der Platz. wo beim Sitafettenflug Kiel⸗ 
zutin die Landung geschah. Bei der Lage des Festortes wird man 
uf eine Beteiligung von vielleicht 2500 bis 3000 Turnern rechnen 
zunen — Verkauft hat Wwe. Tadey-Malente ihre Villa Linden⸗ 
llee an Galtwirt Haß daselbst. — Privatmann Eggers⸗Hamburg hal 
as ca. 216 To. große Gut Pehmen bei Bosau an seinen Sohn. 
andwirt Fritz Eggers, übertragen. — Verhaftet wurde 
Nontag nachmiltag ein fremder Arbeiter, der sich einer Körper⸗ 
erletzung schuldia gemacht hatte. 
Euslin, 6. Sert. Eine Schändung des Bismard⸗ 
latzes bai am Morgen des Sedantages nach 5 Uhr stattgesunden. 
die unbekannien Täter, auf deren Ergreisung sofort ene Belohnung 
usgesekt worden ist, haben die Anlagen des Bismarckdenkmals völlig 
ernichtet, die eiserne Einfriedigung der Friedenseiche keilweile her⸗ 
ausgerissen u. a. m. 
Grozher ogmmer WMañlenburg. 
Penzhin, 6 Sept. Schhwerer Unglüchsfall. Von 
inem Bagagewagen der Artillerie gingen die Pferde durch. Der 
rührer wurde herabgeschleudert und erlitt einen Beinbruch. Die 
uhrerlosen Pferde rasten mit dem schwer beladenen Wagen durch 
aehrere Strahen und überfuhren ein junges Mädchen von 16 Jahren, 
as schwere innere Verletzungen erlitt. Beide Verunglückte mußten 
n das Krankenhaus gebracht werden. 
Vermischtes. 
nge. 95. Ceburtstag der teßen europinchen Prinzessin. 
Am nächssen Donnerstag, 7. Sept, feiert die Freifrau Charlotte 
lmal!e von Jud, geborene Prinzessin von Schwarzburg⸗Son⸗ 
ershausen, ihren 95. Geburtstag. Sie ist das älteste Mit— 
sied aller europäischen Fürstenhäuser, noch um fünf Johre 
ilier als der greise Regent des Königreichs Bayern. Am 
. Sest. 1816 wurde sie zu Arnstadt als Tochter des Prinzen 
zohann Karl Günther von Schwarzburg-Sondershaufen, der 
842 als hannorerscher Genesalleutnant starb, geboren; ihre 
Nuttec, die Prinzessin Güntherine von Schwarzburg⸗Sonders⸗ 
au'sen war eine Kusine ihres Vaters. Vor mehr als fünfz'g 
zahren erregte der Herzensroman der Prinzessin Charlotte 
smoalie in den fürstlichen Familien Deutschlands a:herodent⸗ 
iches Aufsehen. Sie schentte ihre Neigung und ihre Hand 
em einfachen bürgerlichen Schweizer Hans Heinrich Jud, der 
uus dem Eichho'z in der Gemeinde Egg des Kantons Zůürich 
edbürtig und neun Jahrd jünger war als sie. Der Zufall einer 
zIdweizer Reise hatte die Prindessin mit ihm bekannt ge—⸗ 
nacht. Hans Heinrich Jud war dama's Artillerieinstrukteur 
neder schweizerischen Armee. Fürst Günther zu Schwar?burg⸗ 
Zondershausen verlieh ihm am 1. Februar 1856 den Adel und 
en Freiherrnstand und kurz darauf, am 26. Februar 1836. 
zurde er mit der Prindessin im Glockenthal bei Thun ge— 
raut. Er stiez dann vis zum Hauptmann im e'dgenössischen 
ßeneralstabe und tarb am 13. Januar 1854, ohne daß seiner 
zte Kinder entsprossen wären. Seine Gemahlin, die ihre 
Wahl niemals bereut haben soll, blieb auch noch als Witwe 
hrer Seimat fern. Sie lebt in Bern. Ihr Eigentum,. das 
FFlodenthal. den einstigen Schauplatz ihres kurzen Eheglücks, 
hat sie seit vielen Jahren nicht mieder betreten. 
——⸗ 
Buntes Allerlei. 
Die Marlketender⸗Liese des Regiments Bremen, die auch in 
iesem Jahre mit ihrem Truppenteil ins Manörer ausgerückt 
st, kann mit Fug und Rehht als eine einzigartige Erscheinung 
nater deutschen Armee angesehen werden. Wenn auch der 
Martetender gemeinhin nur in einem losen Zusammenhange 
nait dem Heeresverbande steht, so sind doch die Bande. die 
iese Frau mit der Geschichte des deutschen Heeres verknüpfen, 
o starle und unlös iche, daßz niemand es unternehmen wird, 
ie Zugehörigkeit dieser braven Marketenderin zum Heere zu 
e;weifeln. Seit über 47 Jahren hat sie, die das ganze Re— 
went Bremen nur mit dem Ehrennamen die „alte Liese“ 
enennt, Freud Und Leid mit den Fünfundsiebzigern geteilt 
ind ist igen auf alle Kriegsschauplätze des letzten halben 
ezenniums mit ihrem Marketenderwagen gefolgt. Im dã⸗ 
ischen Feldzuge 1864 labte sie die vom Kampfe erschöpften 
Truppen. war Augenzeugin der Erstürmung der Düppeler 
zchanten und folgte dem 75. Reziment auf die Schlachtfelder 
on Böhmen und Frankreich 1886 und 1870. Mit Stolz trägt 
ie „alte Liese“ die Kriegsdenkmünzen, die ihr in Anerkennung 
hret Bravour verliehen wurden, auf der Brust und ebenso 
in Kreuz; auf dem die Namen der fünf oder sechs Schlachtorte 
erzeichnet sind, bei denen sie während des Kampfes bei ihren 
liebten Fünfundsiebzigern treu standrehalten hat. 76 Lenze 
sat die Alte mit dem militärfrommen Herzen erlebt, und 
soch immer läht es ihr keine Ruhe. Alle, Jahre zieht sie 
diedet aufs neue mit dem 1. Bataillon des 75. Regiments 
rufs Manövecfeld hinaus. Gegenwärtig weilt das Regiment 
in Krakow. Auch mit Güstrow hat d'ie „alte Liese“, so schreibt 
die Güstrower Zeitung, langjährige gute Beziehungen. da sie 
mmer, wenn ihr Beruf sie in unsere Gegend führt,. ihren 
ßedarf an Backwaren bii Herrn Bädcermei“er Kacff hierselbst 
im Pferdemarkt zu decen pflegt. Die „alte Liese“ ist trotz 
hrer Kriegsiahre immer ledig geblieben, und jetzt. wo das 
Alter naht. ist eine junge Anverwandte ihr als Stütze zur Seite. 
Zie ist noch recht rüstig, nur die Beine versehen ihre Dienste 
richt ganz zur Zufriedenheit der „alten Liese“, doch wenn sie 
iuf ihrem Marketenderwagen thront, entbehrt sie nicht der 
ilisen Beweglichkeit. Bezeichnend sür ihr Wesen ist eine Aeußze- 
ung, die sie in Krakow Herrn Bäckermeifter Karff gegenuber, 
ꝛer sie besuchte, machte: „Wenn die Beene so wollten, wie 
Kopf und Arme, denn würd' id noch een paar Feld üge mit⸗ 
machen!“ Möge die Brave noch manches Jahr hindurch ihrem 
Bataillon ins Mansöver folgen können und ihr ein leichter 
AMhensabend beschieden sein, den sie in Ehren verdient hat. 
Wilhelm Raabe und herbsts Weinstube.“) 
Gegen 1410 Uhr traf Wilhelm Raabe allabendlich in 
derbsts Weinstube ein, wo seine vertraute Ecke ihm natürlich 
reserviert war. Darüber hing ein olter Braunschweiger Herzog 
in Wallensteiner Tracht mit nichtssagend brutalem Gesicht, an 
der Seitenwand ein Raabe-Bildnis. Auf dem Paneelbrett 
teht unter anderen Denkwürdigkeiten die Schale eines von 
einem Weltreisenden gestifteten Kasuareis, deren Inhalt einst 
ron der lustigen Eche als Rührei verzehrt worden ist. Ge— 
vöhnlich wurde der Gast schon von seinem gleichalterigen 
Freund, dem ehemaligen Weinhändler Otto Telgmann, voll 
Ungeduld erwartet. Das Musterbild eines kernhaften, lebens⸗ 
rohen Greifes, dessen frisches, gerötetes Gesicht mit den 
wasserblauen Aeuglein und dem lurzen, dichten weißen Haar 
die herzerfreulichste Trilolore von der Welt bildeten. Und 
wie er mit naiver Bedächtigkeit zu erzählen wußte von den 
aAlten, den guten Zeiten Braunschweigs! 
Dem hörte man gern zu und schied nie ohne kulturgeschicht⸗ 
liche Bereicherung. Raabe saß sinnend in sich zusammengestaucht. 
Ihm war seine halbe Beychevelle vorgesetzt, aus der er zu— 
weilen kleine Schlüche ins Glas zu gießen und sofort aus— 
zutrinken pflegte. Dazu zündete er eine Zigarre an der 
anderen an, unbekümmert um daos, was die Naturheilkunde 
dagegen zu sagen weiß. Gegen 11 Uhr kam gar noch ein 
Hlas dampfenden Grogs, den er mit den Resten seines Rot— 
veins zu verstärken pflegte.“ Es feblte ihm etwas, wenn er 
nicht zum Wein gehen konnte. Er hatte sich dies Bedürfnis 
in der Stuttgarter Zeit angewöhnt. Im zweiten Jahr seiner 
FEhe. Im ersten war er noch viel von der Kumpanei seiner 
iterarischen Genossen geneckt worden, daß er sich dem süd— 
deutschen Brauch gar nicht fügen wolite, sondern liebet seiner 
sungen Frau vorlas. „Als aber das erste Kind kam, da hatte 
ie keine Zeit mehr für mich. Da ging ich denn auch dahin, 
vo ich die anderen fand.“ 
Um die beiden Alten gruppierten sich dann im Laufe 
des Abends Freunde und Bekannte, denen nach einem ver— 
traulichen Plausch gelüstete. Allmählich besetzten sich auch die 
Rebentische mit mancherlei Leuten, die gekommen waren, sich 
2) Wir entnehmen dies leine Stimmungsbild aus des 
Dichters Leben dem soeben erschienenen Büchlein: Wilhelm 
Raabe. Wie er war und wie er dachte. Gedanlken 
ind Erinnerungen von Fritz Hartmann. Adolf Spon— 
dolhtz Verlag G. m. b. H., Hannover, 1910. Preis broschiert 
1,20 M. gebunden 1,60 M. 
— 
»inmal den berühmten Mann aus der Nähe zu beäugen. 
Ans anderen ist dies Glotzen und Herüberhorchen oft lästig 
ewesen. Raabe selber aber merkte nichts, er tat wenigstens, 
ls merke er nichts. Ein vom Wirt angebotenes Sonderzimmer 
ehnte er ab: „Er wolle Menschen sehen.“ Wenn freilich 
ie Neugier sich in Zudringlichkeit wandelte, wenn Hinz oder 
dunz einfach an den Tisch rüchen zu können meinte, dann 
onnte der gute Alte genau ebenso grob werden, wie dies 
„on Adolf Menzel oder Gottfried Keller in gleicher Lage be— 
ichtet wird. 
Pünktlich stellte sich allabendlich eine kolportierende Heils- 
oldatin ein. Da war Raabe jedesmal der erste, der den 
sicel zückte, und wer's nicht verderben wollte, mußte des« 
leichen tun. Ich scherzte über das strahlende Gesicht, mit der 
ie Josephine ihn immer grüßte. „Ja, die hat auch allen 
zrund. Sehen Sie — er schlug den „Kriegsruf“ auf — 
ier steht's: 160 Exemplare hat verkauft in letzter Woche: 
zetgeantin Ahrens in Braunschweig. Tiese lobende Erwähnung, 
ie verdankt sie mir.“ 
Etwa ein Viertel nach Mitternacht brach Raabe puünktlich 
uf. Gern begleitete ich ihn durch die nächtlich stillen Straßen 
er sittsamen Stadt zum Magnitor hinaus nach seinem Beim, 
a auf diesem Wege noch manch sinniges Wort fiel. Er ge— 
örte zur Schar derer, deren Redelust wächst mit der sinkenden 
»oörerzahl. Man mußte aber zu seiner Rechten gehen, da das 
nke Ohr schwerhörig war. Selbst vor seinem Hause gab's 
ann wohl noch ein kleines Schlußständchen. Freilich nie lange. 
Meine Frau nickt da droben im Sessel, bis sie mich kommen 
ört. Die treue Seele würde nie zu Bett gehen, bevor ich 
a bin.“ Auch er legte sich nicht sofort, pflegte vielmehr 
rst noch zwei Sandwiches und einige Aepfel zu verzehren. 
kinmal ließ er sich bei Herbst drei Soleier zum Mitnehmen ein- 
»icleln. „Essen Sie die auch noch zur Nacht?“ „Aber sehr,“ 
ntwortete der unhygienischite Greis der Welfenresidenz mit 
iner Lieblingsphrase. „Wenigstens eins. Die anderen sind 
ür Frau und Tochter.“ 
Die Stunden bei Herbsjt, waren ihm die gemütlichsten des 
Tages. und er selber gab sich da am umgänglichsten. Voll 
iefer Wehmut dachte er daran, daß auch einmal der Tag 
ommen werde, da er auf diese harmlose Lebensfreude werde 
erzichten müssen. „Gute Nacht, meine Herren,“ sagte er einst- 
nals vor seiner Gartenpforte. „Wieder ein Abend hin. Und 
s war ein schöner Abend. Aber wie lange noch? Wie 
inge noch?“ Darauf wandte er lich rasch und schloß die 
Aaustur auf.
	        
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