Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

Uer Bildungsgang des englischen 
Thronfolgers. 
Im kommenden April wird der Thronfolger des britischen 
Neichs, der jugendliche Prinz von Wales, seine Studienzeit an dem 
oyal Naval Collego in Darthmouth vollendet haben, und damtt 
kommt die erste Phase des Bildungsgangs zum Abschluß, den der 
künftige Herrscher von Großbritannien durchlaufen muß. Das 
Studienprogramm der Zukunft ist unter der persönlichen Leitung 
dönig Georgs nunmehr genau ausgearbeitet, und alle Einzelheiten 
oer Kronprinzen-Erzichung sind festgesetzt. Ursprünglich bestand der 
Plan, daß der Thronfolger seine Eltern bei der großen Reise nach 
Indien begleiten sollte, die das Herrscherpaar gegen Ende dieses 
Jahres antritt. Aber diese Absicht wurde aufttzegeben, der Prinz von 
Wales wird erst später und dann gemeinsam mit seinem jiüngeren 
Bruder Albert eine, Weltreise unternehmen und dabei die Größe des 
britiichen Reiches kennen lernen. Sofort nach Abschluß seines 
Ecamens an der Marineschule wird der Prinz die Sommerferien be—⸗ 
nutzen, um sich zur Universität Oxford vorzubereiten. Dort wird er 
im Herbst mit dem Besuch der Vorlesungen beginnen; seine Unmwer— 
sitätszeit ist nicht auf die üblichen vier Jahre festaesezt: das Stu- 
dienprogramm gewährt ihm, nur zwei Jahre Zeit zum Universitäts- 
besuch. Er wird in Oxford genau dasselbe Leben führen wie die 
übrigen Studenten und der gleichen Disziplin unterstehen. Eine 
Anzahl Zimmer für ihn werden bereits eingerichtet, und ein Hof— 
meister, wird ihn begleiten, aber damit sind auch die Vergünstigungen 
erschöpft, die dem Thronsolger gewährt werden. Der König legt das 
zrößte Gewicht darauf, daß seine Söhne ihrem Range keinerlei Be— 
Aorzugung verdanken; er steht auf, dem Standpunkt, daß, nur ihr 
Jleiß und ihre Fähigkeiten über Erfolg oder, Mißerfolg ihres 
Studiums entscheiden müssen. Wenn, man auf Grund der bisheri— 
nen Neigungen des Prinzen urteilt, so wird er an der Universität 
— DD 
betätigen. Obaleich ex viel liest, zeigt er doch keine Vorliebe für tote 
Sprachen und beschäftiat sich in seinen Mußestunde mit moderner 
Beschichte und mit Werken biographischer Art, Er spricht zwar 
Französisch und Deutsch recht gut, aber seine Lieblingsbeschäftigung 
war von Anfang an die Mathematik; in diesem Fache hatte er in 
Osborne und Dartmouth auch Auszeichnungen errungen. 
Nach LRoschluß der Unibersitätsgeit beginnt, in Gesellschaft des 
Prinzen Albert die Weltreise. Ihr Programm ist genau das gleiche 
wie bei der Fahrt, die König und der verstorbene Herzog von 
Clarence, der älteste Suhn König Eduards, an Bord der „VBacchante“ 
unternahm. Dagegen wird die Reisezeit erweitert und soll wenigstens 
ein Jahr umfassen. Zu der Fahrt wird ein Kreuzer, wahrscheinlich 
von der Indomitable-Klasse, bestimmt werden. Die Tradition ge— 
bietet, daß der Thronfolger in ein unmittelbares Verhältnis zum 
britischen Heere tritt. Mit seinem Abschied von Dartmouth endet 
sein direktes p in der Marine; während der jüngere 
Bruder bei der Flotte bleibt, wird der Thronfolger nach der Heim⸗ 
ehr von der Weltreise in ein Kavallerie-Regiment eintreten. Er übers 
springt dabei den sonst üblichen Vorbereitungsdienst im Royal 
Military College von Sandhurst. Auch bei der Armee wird der 
Kronprinz nach dem strengen Willen seines Vaters nicht anders leben 
als jeder andere Subalternoffizier. Er bekommt seine eigene Woh— 
nung und seinen eigenen Diener, aber keine Hofhaltung. Nach der 
Dienstzeit bei der Kavallerie wird er zur Arkillexie versetzt und 
schließlich auch beim Pionierkorps entreten. Sein Bruder dagegen 
geht nach der Weltreise als Midshipman zur Heimatflotte, voraus⸗ 
ächtlich auf das Flaggschiff des kommandierenden Generals. Der 
Wunsch der Königin ist, daß ihre Söhne so lange wie möglich Kin— 
der bleiben, Der Thronfolger wird also bis zur Großjährigkeitser— 
klärung nicht vor der Oeffentlichleit die Pflichlen und Rechte seines 
Ranges genießen. Er wird zwar bei der bevorstehenden Parlaments- 
zröffnung anwesend sein, aber als einfacher Zuschauer und ohne an 
den Zeremonien teilzunehmen. Die Grundsähe dieses Erziehungs— 
ganges sind ursprünglich von König Eduard aufgestellt worden, der 
ich von Anfang an lebhaft für die Erziehung seiner Enlelkinder 
nteressiert hat 
Aus Pariser Briefen WMihelm 
v. Humboldts an Schiller. 
Vielleicht spricht nichts stärker für Schillers ganz modernen 
Dichterblick als das leidenschaftliche Interesse, das in ihm der 
gewaltige Organismus der Weltstadt Paris erregte. Was Balzae 
und Zola später in riesigen Romanzyklen versuchten, das hat er 
in seiner Tragödie „Die Polizei“ gestalten wollen: „Paris in 
zeiner Allheit“. Wenn dieser grandiose Plan, der das verwirrend 
nielgestaltige Getriebe dieses „Zentrums der Welt“ in den Rahmen 
eines Dramas pressen wollte, wie vortier die wimmelnde Fülle der 
Wallensteiner, über die erste, hochinteressante Skizzierung des 
Stoffes nicht hinauskam, so lag das eben an der tragischen Größe 
——— 
die Macht der Phantasie beherrschen wollte. Schon früh hatten 
ich Schillers Blicke mit aller Sehnsucht nach Paris gelenkt. „Wer 
Sinn und Lust für die große Menschenwelt hat, muß sich in diesem 
weiten, großen Element gefallen: wie klein und armselia sind 
— 
Entlarvt. 
Humoresle von Käthe Helmar. 
„Mein gnädiges Fräulein ...“ 
Herr Rechtsanwalt?“ 
Sie erlauben, daß ich Sie begleite?“ 
Gern. Ich will zur Zahnradbahn.“ 
Ohne Schlitten ? 
Den hat Oberleutnant Höffler mitgenommen. Er ist schon 
zinaufgefahren.“ 
„Vein Freund wird natürlich sehr ärgerlich sein, wenn Sie zum 
Rodeln zu spät kommen.“ 
Margot Lingerton sah mit ihren strahlenden grauen Augen den 
—X— 
„Zu spät? Ich bin immer pünttlich.“ 
ünd doch werden Sie mir heute eine kleine Unterredung nicht 
ersagen können.“ 
„Wenn Sie wirklich so viel Wert darauf legen ...“ 
Das tu ich — meines Freundes wegen. Und Sie haben doch 
entetesse für Richard Höffler, nicht?“ 
„D, wenn es ihn betrifft .also?“ 
Ich darf ohne Umwege mit Ihnen reden?“ 
Hlargot runzelte undeduldias die Stirn. »Ohne lange Ein— 
seitung, bitte!“ 
Rechtsanwalt Latt räusperle fich. Es war doch nicht so leicht, 
einer jungen Dame ungugenehme Dinge sagen zu müssen; und noch 
azu einer so seschen, selbstsicheren Dame, wie Margot Lingerton es 
war. Famos sah fie aus in ihrem weißen Kostüm, mit der an— 
liegenden Jacke. Die flauschige Vütze ließ einen Kranz von braun- 
olen Haaren frei, die das frische Gesicht umrahniten. 
Wir kennen uns, gnädiges Fräulein, nicht wahr?“ 
Fypreilich, seit vorgestern!“ Sie lächelte, ohne begreisen zu 
können, warum der Rechtsanwalt das so hervorhob. 
„Sollte es nicht schon länger her sein?“ fragte Latt, jedes Wort 
vbetonend, und sixierte Margot mit jenem scharfen Blick, der ihm bei 
den Gerichtsverhandlungen in seiner kleinen Provinzstadt geworden. 
„Ich glaubte, Sie wollten mit mir üher Herrn Oberleutnant 
döffler sprechen?“ 
„Sehr richtig. Mein Freund hat die Abficht, Sie zu heiraten, 
edncben deshalb komme ich auf unsere Art der Welanntschaft 
nrück.“ 
„Treten Sie als sein Freiwerber auf, Herr Rechtsanwalt? 
Wir sind bereits verlobt,“ sagte Biargot schari. „Im übrigen, 
ch liebe nur direkte Verhandiungen. Sagen Sie das Jurem 
Freunde.“ 
Sie drehte sich schnell um und wollte allein zur Zahnradbahn 
veitergehen, aber Rechtsanwalt Latt höolte sie gleich wieder ein. 
„Ich werde ihm das sagen, und noch mehr, mein gnädiges 
Fräülein! Er soll erfahren, daß Sie keineswegs die reiche Waise 
iind, die Sie zu sein vorgeben; daß Sie ihn heiraten wollen, weil 
die Frau eines wohlhabenden Offiziers natürlich eine bessere 
Stellung einnimmt, als die ....“ 
Ich verbitte mir Ihre Gesellschaft,“ unterbrach ihn Margot 
orusprühend. „Lassen Sie mich allein!“ 
Rechtsanwalt Latt zog mit übertriebener Höflichkeit seinen 
dut und ging zum Hotel zurxück. 
unsere bürgerlichen und volitischen Verhältnisse bagegen!“ So 
chrieb er bereits 1788. Durch eine ausgebreitete Lektüre suchte er 
iich über die Einzelheiten des Pariser Lebeuns zu orientieren; aber 
a eine eigentliche lebendige Berührung kam er mit der Sonnen⸗ 
tadt erst, als sein Freund Wilhelm v. Humboldt dort für längere 
Zeit Aufenthalt nahm und ihm seine Eindrücke von der französi—⸗ 
chen. Hauptstadt in ausführlichen Briefen mitteilte. Man dat 
zaher wohl annehmen, daß gerade diese anschaulich und schar 
malysierenden Schilderungen aus der von ihm so sehr bewunder— 
en „Sonnenmetropole“ befruchtend auf die dichterischen Pläne 
dirkten, die uns in den Aufzeichnungen zur „Polizei“ und den 
Kindern des Hauses“ erhalten sind. In der Veröffentlichung der 
ieuen Briefe Humboldts an Schiller, die uns Friedrich Clemens 
ẽbrard in der Deutschen Rundschau darbietet, werden uns nun 
uch bisher unbekannte Briefe aus Paris mitgeteilt, deren gewal— 
igen Eindruck auf Schiller man sich wohl vergegenwärtigen kanu. 
Humboldt berichtet am 7. Dezember 1797, wie sehr er von 
ieser Welt ergriffen sei, „die ein fo buntes Gemisch verschieden— 
irtiger Elemente, so viel Stoff für das mannigfaltigste Interesse 
n sich enthält.“ „Besonders in dem jetzigen Augenblick findet man 
lier vereinigt, was man sonst nirgends antrifft, und für mich 
‚ühlt schon bloß die Menge der Menschen aus den verschiedensten 
Begenden, die Zusammenkunft mannigfaltiger Talente in der Ge— 
ellschaft und die rege Bewegung, in der dies alles in- und durch⸗ 
einander wirkt. Sollten Sie darin vielleicht ein einseitiges 
Interesse-des Verstandes finden, so müßten Sie einmal auf einer 
der Seine-Brücken oder in den Tuilerien stehen, um durch den 
Anblick dieser Schönheit der Stadt auf einmal auch Ihre Phan— 
tasie begeistert zu fühlen. Ich habe in der Tat nie einen Punkt 
gesehen, der so viel Größe, Pracht und Schönheit auf einmal in 
sich vereint ... Ohne noch der Erinnerungen zu erwähnen, die 
sich bei diesen Orten, diesen Namen von selbst herbeidrängen, frage 
ich Sie, ob leicht irgend eine Ansicht in einer anderen Stadt die 
Linbildungskraft so zu begeistern im Stande ist? Jenseits des 
Vont Neuf nach dem Pont St. Michel zu sieht man nichts als 
chmale, schlechte, hohe Häuser mit ungeheuren Feuermauern, 
leinen und vielen Fenstern, enge dichtgedrängte Gassen, gotische 
Bauart, nach und nach an den Kais werden die Gebäude schöner 
und größer, die Straßen weiter, bis am Eude das Auge, wenn 
s den Fluß verfolgt, auf den freien Horizont und die schönen 
Lälder jener großen Spaziergänge trifft. Unwiderstehlich wirt 
er Blick durch das Interesse, das eine solche Menschenmasse 
mmer mit, sich führt, in die Mitte der Stadt hingerissen, unb 
giederum so gern und willig rettet er sich in die freie und lieb— 
iche Natur.“ 
Starke Eindrücke empfing Humboldt quch von dem Pariser 
heater, und er spricht dem Freunde gegenüber ausführlich seine 
zdeen von französischer Schauspielkunst und französischem Tanz 
Aus, die er dann später in seinem für Goethes Propyläen ge— 
chriebenen Aufsatz über das französische Theater verwertete. Da⸗ 
ei erwähnt er auch des Einflusses, den Schiller auf die französi⸗ 
che Bühne gewonnen hatte. „Von Ihnen hört man hier nicht 
elten sprechen. Ihre Räuber sind in einen Robert, chef des 
rigands, umgeformt, der zu einer gewissen nicht guten Zeit der 
devolution viel Glück gemacht hat. Mir ist diese Mißgeburt 
denn dazu ist es gewiß geworden), noch nicht zu Gesichte gekom— 
nen. Haben Sie damals das Unglück gehabt, wild und roh 
ehandelt zu werden, so droht Ihnen nun vielleicht cine noch 
chlimmere Gefahr in eine recht eigentlich französische Tragödie in 
lexandrinern und selon toutes les regles umgeschaffen zu werden. 
Fin junger Dichter, Jolly, hat sich Ihren Karsos von einem 
Deutschen meiner Bekanntschaft übersetzen lassen, und ist nun 
varan, danach ein Stück zu machen.“ 
ros all der reichen Anrxregungen und Erlebnisse, die Hum— 
joldt in Paris findet, fühlt er sich doch fremd in dieser glänzen— 
den Umwelt und kann die Sehnsucht nach der Heimat und dem 
Freunde nicht unterdrücken. „Ein sonderbares und trauriges 
Befühl gibt mir die Einsamkeit, in der ich mich mitten in Paris 
ind seitdem ich Dresden verließ, trotz aller mannigfaltigen Be— 
anntschaften befinde. Ueber gewisse und gerade die angelegensten 
Ideen nicht nur mit niemand reden zu können, sondern quch so 
jewiß zu seyn, daß niemand weit und breit ist, der nur irgend 
Sinn, nur irgend Lufst oder Fähigkeit hätte, sie zu verstehen! 
dennoch glaube ich, würde ich den Mangel dieses geistigen Ge— 
iusses nur wenig fühlen, der Reichtum an Stoff zu Reflexionen 
vürde mich leicht vergessen lassen, daß es an Mitteln, die ge⸗— 
nachten mitzuteilen, fehlt, wenn sich nicht bei mir mit diesem 
Zefühl zugleich das Entbehren der Freundschaft verbände. Allein 
die sehr ich Sie vermisse, lieber theurer Freuud, vermag ich 
zhnen nicht zu sagen. Ich denke unendlich oft an die Zeiten, die 
vir miteinander verlebten, jeder gehaltvollere Gedanke in mir 
rinnert mich so lebhaft daran: aber fast noch öfter fühle ich die 
zreude vorher, die ich empfinden werde, wenn ich zum ersten Mal 
zieder zu Ihnen zurückkomme und wir uns nach einer langen 
rennung wieder vereinigt scehen . . In der That rechne ich 
8 zu den Vorzügen meines hiesigen Aufenthaltes, daß mir die 
deütsche Natur in ihrem Adel und ihrer Vortreiflichkeit erst hier 
cht kzlar werhon ν 
—DDDD 
Höffler, als er sie endlich, nach halbstündigem Warten aus dem 
Zuge steigen sah. 
Ich traf Deinen Freund Latt. Wir sind, wohl zu langsam 
segangen. Die Bahn fuhr gerade ab, als ich hinkam“ 
„Aber wo ist erꝰ“ 
„Er blieb unten.“ 
Sonderbar. Er wollte doch mit uns rodeln. Na, komm nur 
etzt, die Bahn ist heute herrlich.“ 
Er faßte sie unter den Arm, und nun machten sich beide zu 
er Fahrt bereit. Im Galopp ging es die abschüssige Bahn hiu⸗ 
inter ins Tal, durch den Wald mit schneebedeckten Bäumen, die 
u der Sonne glitzerten, immer weiter, bis der Weg ebener wurde. 
ind der Schlitten allmaͤhlich laugsamer dahin glitt. 
„Herrlich, Margot! Das machen wir gleich noch mal.“ 
Rein, nein, heute nicht mehr. Ich möchte ins Hotel zurück.“ 
Du bist verstimmt, nicht?“ Er blickte zärtlich zu ihr hin. 
Wie er diese feinen Züge liebte, die in der scharfen Luft so frische 
Farben bekamen, diese ehrlichen grauen Augen und den roten 
Humd mit den gesunden weißen Zähnen . „Was fehlt Dire“ 
Nichard, wir dennen uns erst seit vier Wochen. Eigentlich — 
ine Reisebekanutschaft! Ist das richtia aemesen, daß wir uns gleich 
erlobten? 
d mal, Margot, das klingt beinahe ... als ob Dir's leid 
äte!“ Freilich, das Leben einer Offiziersfrau — noch dazu meine 
evorstehende Uebersiedlung nach Afrika, —“ 
Sein hübsches, freimütiges Gesicht sah so anglücnch aus, daß 
Margot ihre Worle bereute. Sie faßte seine Hand, zog sie an die 
rippen und ging dann nachdenklich neben ihm her. 
„Na, schon zurück?“ 
Sie halten beide nicht bemerkt, daß Rechtsanwalt Latt ihnen 
enutgegengekommen war. J 
„Margot hatte keine rechte Lust zum Rodeln.“ 
Ah, ich verstehe!“ 
wWas verstehst Du denn?“ fuhr Höffler ihn an. „Was soll denn 
das heißen?“ 
Er sah seinen Freund und seine Braut abwechselnd an. 
Beide Ippiegen 
„Ihr habt Euch vorhin getroffen. Margot kam zu spät zum 
Rodelu. Dann war sie verstimmt. Ja, was bedeutet denn das? Möch- 
et Ihr mir nicht erklären? Ihr muüßt Euch wohl sehr git unterhahten 
jaben“, fügte er gereizt hinzu. 
Richard!“, Margot ließ seinen Arm los. 
Du brauchst wirklich vn eifersüchtig zu sein“, versuchte Latt 
zu scherzen. „Wenn Fräulein Margot nichts dagegen hat, erzähle ich 
dir den Inhalt unserer eee 
Bitte sehr!“ Das junge Mädchen lachte verächtlich, während 
döffler sie verwundert ansah. 
Also“, begann Rechtsanwalt Latt und faßte an seine Krawaite, 
vährend er hüstelte. 
Benimm Dich doch nicht, als ob Du hier eine Rede vor Gericht 
halten wolltest!“ unterbrach der Oberleutnant. 
3 bin nur Verteidiger vor Gericht, während ich heute ganz im 
Begenteil ... 
„Soll ich Ihnen helfenkẽ Also: J'accuse!“ 
Jawohl: J'accuse Als ich vorgestern hier im Hotel 
vutkaur'und Du mir Deine Braut vorstelltest da wußtest Du natuͤrlich 
nicht, daß wir uns bereits kannten“ 
Ihr kanntet Euchꝰ?“ 
In der hochschule der Rellner 
Oer Kulturkritiker, der zum ersten Mal behauptete, daß 
5eifenverbrauch einer Nation der, beste Gradniesser für die Zibii 
ation eines Volkes sei, hat bei seinenm scheinbat scherzhafien Aus 
oruch ein zweites Merkmal vergessen, das dem kundigen iund aufmen 
amen Beobachter nicht weniger berlaßliche Aufschlüsse gewährt ͤß 
ie Vollendung, zu der eine Nation ihre, Lebensformen —8B 
at: die Art, wie in den Restaurants die Keltner ihres Amtes wat 
en. Der echte Gourmiet, der in einer raffinierten Kunst der duͤc 
o gern das Spiegelbild vollendeter Lebenskunnst und veredellten 
chmacks sieht, wird vor dem köstlichsten Leckerbissen schmerzlich zu 
ammenzucken, wenn der Kellner ihn mit einer plumpen Bewegun 
zor den Gast schiebt, ein gutes Diner verliert durch ein ungeschlekie 
zervieren seine besten Reize, ja ein vollendeter Kellner vermag se 
jar durch die vollkommene Beherrschung seiner Kunst einem mitte— 
näßigen Gericht eine Art Würze zu verleihen und dem Feip 
chmecker durch seine Art des Servierens, durch sein Auftrelen un 
ie, ruhige Würde seines Benehmens eine Art Ersatz für die Kuns 
ehler des Kochs zu bieten. Nach einem aee guten Kellner wer 
en die Leiter der Dn Hotels Jagd machen; nur selten de 
inen sich in einem Menschen alle die Eigenschaften, die aus eine 
ewöhnlichen Speisezuträger einen echten Kellner machen und dere 
in berühmter Meister des Servierens d als die wichtigsten au 
ählt: die Geduld eines Hiob, die Weisheit Salomons, den Geit 
ines Diplomaten, die Geschicklichkeit eines Künstlers und das Aus 
reten eines Fürstene In London besteht eine Hochschule, in de 
I3 wird, den jungen Anwärtern de das Amt eines Ganhymel 
ꝛiese seltene Vereinigung kostbarer Eigenschaften auzuerziehen. au 
ẽdwards hat einer Vorlesung in dieser hohen Schule des Kellnet 
Rrufs beigewohnt und gibt im Strand Magazine eine amüsage 
Zchilderung seiner Beobachlungen. 
In einem langen Saal, an desen einem Ende ein mächtige 
Zpiegel die ganze Wand verdeckt, stehen die „Studenten“ an lange 
Tischen und, lauschen den Darlegungen des Lehrers, denen bal 
raktische Uebungen folgen werden. „Das erste, was Ihnen unum 
tößliche Lebensregel werden muß, isft eine musterhafte Reinlichkei 
as zweite Schnelligkeit und Geistesgegenwart, das dritte Gtazi 
ind Annmut. Sie en nicht den Apollo von Belvedere zu kopiere 
uchen, auch nicht die Gebärden eines Tanzmeisters, aber jeder Be 
vegung, Ihres Körpers und Ihrer Glieder müssen Sie klare mm 
armonische Schönheit abzugewinnen suchen. Und dann vor allem— 
rziehen Sie Ihr Gedächtnis. Nichts muß einen Gast mehr er 
ittern als das Wort „Vergessen“ aus dem Munde eines Kellners 
Venn eine solche Katastrophe eingetreten ist, dann muß sie verhüll 
verden. Sie sagen: Ich komme, mein Herr“, oder „Einen Augen 
blick, mein Herr“. Und dabei verbeugte sich der Lehrer, um den 
Zchülern die Bewegungen zu veranschäulichen, die diese Worle be 
leiten müssen.“ Nach kurzen Erläuterungen geht man zur Praxis 
ber. Man hat erfahren, daß es eine ganze Reihe von verschiedenen 
diners gibt, von denen ein jedes sein besonderes Zerenoniell und 
ine deeint Formen des Servierens hat, das Familiendiner, 
as Klubdiner, das öffentliche Bankett, und das Diner im Restau 
ant. Zuerst wird das Diner im Restaurant geübt. Der künftig 
dellner muß lernen, mit welcher Bewegung er dem Gast entgegen 
ritt, ihm Hut und Mantel abhnimmt, ihm mit der rechten Hand der 
5tuhl zuschiebt und die Speisekarte reicht. „Während er das Meni. 
udiert, hängen Sie Hut und Mantel auf; dann kehren Sie zurüd 
ind nehmen zu seiner Rechten Aufstellung — beachten Sie, meine 
derren, zut Rechten, — etwa so! Und dabei zeigt der Lehrer die 
hebärden, „Die Slellung und Haltung, die je nach der Zeit und 
en Umständen wechselt, sst nicht in einein Tage zu lernen, ja micht 
n einem Jahr. Sie stehen also so .. die eine Hand vorn, di 
indere diskret auf den Rücken gelegt, Der Kopf wird leicht noch 
vorn geneigt, die ugenauen hochgezogen, die ganze Gebärde 
rückt aus: „Ich bin bereit'. Wird Table d'hôte serviert, so folgt 
iach den Hors d'oeuvres wegen der Suppe die Frage: „Klar oder 
zick, mein Herr?“ Versuchen Sie nie, originell zu sein. Unser 
Beruf hat keinen Raum für Originglität. Ich kannte einst einen 
dellner, der die Frage mit solcher Betonung sprach, daß der Gast 
tets auffuhr. Es war ein miserabler Kellner“ 
Dann folgt das Zutragen der Speisen. „Beim Zutragen muß 
vie Platte hochgehalten werden, wie ein köstliches Gefäß, das gibt 
Vürde und Ausehen; wo die Würde fehlt, fehlt der Stil, und ein 
utes Diner ohne Stil ist nur ein halbes.“ Die Größe der pr 
ie Menge der Speisen hat keinen Einfluß auf die Art des Tragens, 
Meine Herren, Sie müssen glauben, daß Sie ohne Daumen ge—— 
oren sind. Ein Teller mit Suppe, bei dem man während des Ser— 
dierens den Daumen des Kellners auf dem oberen Tellerrand sieht 
ist ein zerstörtes Gedicht“ Und nun das Abservieren. Schnell 
geräuschlos, aber nirgends darf die Gebärde Hast verraten, eine 
zleichsam „unsichtbare“? Schuelligkeit muß es sein. Nie darf der Arm 
abei vor die Brust des Gastes kommen. „Ich erinnere mich, wie 
dies einst in einem Hotel bei einem alten indischen Oberst geschah 
der stach dem Kellner mit der Gabel in die Hand. Der Kellner be 
schwerte sich beim Hotelier, und er bekam die einzig kotrekte Un 
wort: „Seien Sie froh, daß er sie nicht getötet hat“ * 
Margot zuckte die Achseln. „Ich weiß von nichts.“ 
„So? Haben Sie nicht im Herbst sich in Neustadt aufae 
balten?“ 
„Allerdings.“ 
„Und zwar waren Sie als Empfaugsdame bei einem Zabn 
arzt rätig.“ 
„Stimmt. Vorübergehend,“ bestätigte Margot lächelnd. 
„Sie haben auch damals dem Kindeé mit der Zahnfistel den 
Kopf gehalten und von der Mutter drei Mark Trinkgeld b 
ommien, weil Sie der Kleinen so gut auredetfenꝰ“ 
„Stimmt!“ 
Jetzt verzog sich guch Höfflers Gesicht zum Lachen. 
Trinkgeld hast Du bekommen,“ platzie er heraus. „Daß 
Du mir aber so was noch nicht gebeichtet hast!“ 
„Margot hielt ihren Muff vors Gesicht, aber ihre Auge— 
zlinkten lustig drüber weg. 
„Ja, wenn ich nicht zufällig auch im Wartezimmer gewesen 
väre,“ begann Latt wieder. 
„Ach so ... Sie sind aus Neustadt?“ 
Das nicht, aber ich hatte da eine Verteidigung, bekam Zahn⸗ 
weh und hatte dadurch das Glück, Sie kennen zu lernen.“ 
Margot lachte jetzt hell auf. „Nun versteh ich Ihre Angst 
un Richards Wohl! Sie sind aber auch au komisch. Entschuldigen 
Sie!“ 
Der Rechtsanwalt bemerkte, daß auch sein Freund sich vor 
dachen schüttelte. „Sie ist eine Empfangsdame, Mensch!“ schri 
x. „Sie nimmt Trinkgelder! Und Du, ein Oifizier. Du will“ 
ie heiraten?“ 
„Ja, ich will sie heiraten!“ rief der Dherleutnant, während ihm 
vor Vachen die Traänen übers Gesicht liefen. „Sie ist nämlich — 
„Eine Hochstapserin! Nimm doch Vernunst au! Jest ist ü⸗— 
entlarvt!“ 
„Eine Hochstaplerin! eutlarvt! Margot, halt' mich jest 
ch kann nicht mehr ... Erzähl' Du's ihm!“ 
„Ja, ich hab' doch aber alles eingestanden“, fagte sie und be 
nühte sich, ernsthaft zu werden. „Ich war tatsächlich Empfaugs 
ame beim Zahnarzt Scheller in Ncustadt. Seine Frau ist meint 
Freundin. Wahrend ich dort zu Besuch war, wurde die Assistentin 
hon Scheller krank. Da man in dem Lrest natürlich nicht so leichl 
eine Vertretung findet, hab' ich mich dazu erboten. Meine Freun— 
din hatte mit der Wirischaft und den Kindern genug zu tun. Viel 
u verdienen war aber nicht dabei“, versicherte sie wieder lachend 
soviel ich weiß. habe ich von Ihnen kein Trinkgeld bekommen 
Zonst hatt' ich mir wahrscheinlich Ihr Gesicht, Herr Rechtsanwalt 
besfer gemerkt und nicht so erstaunt getan, als Sie bebanpteten 
daß wir alte Bekaunte wären.“ 
Latt war starr. 
„Einen juristischen Scharfblick hast Du!“ spottete Höjiser. 
Taisachlich Detektivaugen! Beneidenswert! Was machen wi 
denn * mit ihm, Margot?“ 
Setizt mich oben in den Rodelschlitten und laßt mich das Ge 
nick brechen!“ rief der Rechtsanwalt verzweifelt. 
„Nein, wir rächen uns besser. Sie miüssen unser Trau 
euge sein!“ 
Und Margot reichte ihm versöhnt die Haud, in die er beschäten 
inschlug.
	        
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