Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

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Ausgabe A. Montag, den 17. Juli 1911. 
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Lübecker Volks- und Erinnerungsfest. 
SO Labed, 17. Jull. 
Der Festzug. 
Auch andere Städte haben ihr Volksfest, dem sie unter— 
chiedliche Namen geben. Die Munchener z. B. nennens Ok⸗ 
loberfest, oder schlichter und volkstümlicher: 7, De Wies'n“. 
Oder die Dresdner sagen dazu: „Vogelwiese“. Diese Feste 
ind großartiger, was die Ausdehnung des Festplatzes und 
die Menge der zusammenströmenden Menschen anbelangt, kein 
Wunder! Die Sktädte mit den berühmten Volksfesten sind ja 
auch weit größer als Lübeck. Aber das Lübecker Volksfest 
hat einen „Schlager“, den sich die anderen nicht leisten 
können, der auch nicht fur Geld und gute Worte zu beschaffen 
ist, den Bürgergemeinsinn auf die Beine bringt, das ist der 
Festzug! Freilich ist der zu Ehren des Volklsfestes veran⸗ 
staltete Umzug der Zünfte, Innungen und Gewerbe, der 
ZSchützen, Krieger und Turner nicht mehr so prächtig und 
so zahlreich an Mitwirkenden, wie in den ersten Jahren 
nach der Einsetzung des Volksfestes. Das läßt sich durch 
manche Umstände erklären. Einmal veralten in unserer 
aschlebenden Zeit alle Einrichtungen schnellser, dann ist aber 
ruch unser ganzes Leben vielgestaltiger, reicher an den mannig⸗ 
taltigsten Vergnügungen geworden. Was den stillebenden 
PBätern ein Ereignis war, läßt manche der vom Schauen 
ibersättigten Enkel kalt. Und doch — es sollte möglichst lange 
ind treu an der schönen alten Sitte festgehalten werden! 
Dder Festzug schlingt ein Band bürgerlicher Gemeinsamkeit um 
ille, die an ihm teilnehmen. Die Männer, die im Schaffen 
»es Alltags nebeneinander, manchmal gegeneinander wirken, 
im Volksfestsonntag durchziehen sie stolz in eigenartigen 
Trachten, mit Bannern und Fähnlein auf geschmüchten Wagen 
hres Berufes Stolz und Bedeutung zeigend, ihre Vaterstadt, 
n friedlichem vergnügtem Wettbewerb um die Gunst 
»er schaulustigen Mitbürger und ihres Handwerks Ehr'. 
Manche treue Festteilnehmer srüherer Jahre mußte man im 
zuge vermissen, so die Trägerkorporation und die lustigen 
dieblinge der Kinder: die Schornsteinfegerinnung. Aber was 
nan zu sehen bekam, war sehr hübsch und ansprechend. Unter 
röhlichem Zurufen und Blumenwerfen bewegte sich der Zug 
»om Markte aus durch die Breite Straße, über den Geibel— 
olatz. durch Burgstraße und Burgtor wie alljährlich der Fest— 
viese zu. Und Jupiter pluvius, der schon morgens sein 
zaupt drohend durch finstere Wolken gereckt hatte, gab sich 
venigstens solange zufrieden, bis der Festzug auf dem Platze 
ingelöngt war. Eröffnet wurde der Zug wie alliährlich durch 
ie rot kostümierten Scheibenzeiger, denen das Komitee, der 
zchützenverein und eine Reihe Gesang⸗ und Kriegervereine 
olgten. Es wurde zu weit führen, wollte man alle 42 
stummern des bunten Zuges aufzählen oder gar beschreiben. 
Man sah alte, treue Bekannte, so die Hauptwerkstatt der 
rübed-Büchener Eisenbahn mit ihrem hübschen Lokomotivmodell, 
die Güterexpedition mit zwei hochgetürmten Wagen. Besonders 
eichnefe sich auch wieder die Bäckergesellen-Bruderschaft mit 
hrem stattlichen Beritt in heller Tracht und Brezelgirlanden, 
velche zur Verteilung unter die Zuschauer bestimmt waren, 
us. Sie schleppte ferner ein riesiges Brot im Zuge mit. 
Sehr reizvoll waren auch die beiden Wagen der Gärtner 
don St. Jürgen und St. Lorenz, mit prächtigen Proben des 
Hartenbaues beladen und mit grabenden und pflanzenden 
Härtnern. Der Geflügelzuchtverein führte wie immer sein 
zübsches, lustig bevölkertes Vogelbauer mit, und der Männer⸗ 
kurnverein brachte eine erhebende Jahngruppe. Großes Auf—⸗ 
ehen erregte der Wagen mit dem Eindecker, von Soldaten 
»es Luftschifferbataillons eskortiert und von Offizieren im 
Auto verfolgt. Ob die beiden schmuclen, berittenen Kusaren, 
in blauer und ein roter, ihn ebenfalls abfangen sollten, weiß ich 
ucht, jedenfalls sprengten sie nach Susarenart lustig hin 
und her. Eine überaus fidele Gesellschaft bildete der Medel⸗ 
hörger plattdütsche Vereen auf seinem Wagen, den er sich 
uur Abhaltung eines Erntebieres erkoren hatte. Man konnte 
hier so recht sehen, auf wie kleinem Raume genügsame Men— 
chen lustig sein können. Weithin hörte man das Jauchzen 
er tanzenden Paare, welche ihre Musikkapelle mit sich führten. 
Die Eröffnung des Volklsfestes. 
Ein kalter Wind fegte über den weiten Festplatz, leich— 
ten Sprühregen mit sich führend, als der Zug mit seinen 
dielen Musikkapellen an der Tribüne anlangte, vorbei an 
»en in der Allee Kopf an Kopf gedrängten Menschenmassen, 
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Abend⸗Blatt NRr. 356. 
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in Beruf und Familie, sondern mit geschärftem nationalen 
Gewissen taͤglich seine Kräfte einsetzt für Kaiser und Reich. 
So wollen auch wir das heutige Fest, das 64. in der 
langen Relhe seiner Vorgänger, mit dem ernsten Gelöbnis 
begehen. alle Zeit so zu handeln. Vorwärts! sei unsere 
Losung und wir rufen mit unserem heimischen Dichter: 
Vorwärts darum am eigenen Herd, 
Daß Jenas Schmach sich nicht erneue, T, 
Vorwärts! Und wenns der Tag begehrt, * 
Dann blitz in jeder Hand ein Schwert E 
Und Gott mit uns und deutsche Treue! k 
Einstimmig schalle über das weite Blachfeld der jubelndeé 
Treugruß zu unserem Kaiser: 
Unser geliebter Kaiser Wilhelm II. Hurra! 
Nach dem Kaiserhoch erklang der vielhundertstimmige 
Gesang des: „Heil Dir im Siegerkranz“, von der Tribüne 
herab von schmetternden Trompeten begleitet. 
Der Festplatz. 
Sobald der Festzug die Allee verlassen hatte, drängte 
ein dichter Haufen schaulustige Männer, Frauen und 
Kinder die langsam zurückgehende Schutzmannskette zurück, 
die bis dahin, wenn auch nicht mit feurigem Schwerte, 
den Eingang zum Paradies bewacht hatte. Von oben wars 
ein farbenfreudiges Bild: die leuchtenden Farbenflecke der her— 
indringenden Masse und davor der schlichtblaue Streifen der 
Irdnungshüter. Noch während der Festrede setzte das 
ieblich Gedudel der unzähligen Drehorgeln und son— 
tigen Musikinstrumente von allen Seiten ein, das ebenso 
vie das gellende Geschrei oder heisere Gebrüll der Ausrufer 
ind der unsagbare Duft von Staub, Wiener Würstchen, Waffeln 
ind vielen Menschen von Jahrmärkten unzertrennlich ist. Im 
jzrohen und ganzen zeigt der Platz natürlich ungefähr das— 
elbe Bild wie alle Jahre. Eine besondere zeitgemäße Attrak— 
ijon bilden diesmal die Luftschifs- und Flugmaschinen-Karussells, 
zie natürlich sofort gestürmt wurden, ebenso wie die Berg— 
ind Talbahnen und Tunnelkarussells. Kühnere Naturen er— 
seigen auf dem chemin roulant den luftigen Aussichtsturm, 
»on wo sie auf einem vielgewundenen Pfade sitzend wieder 
n die Tiefe sausen. Dasselbe Vergnügen kann man haben, 
venn man sich der Rodelbahn anvertraut, nur, hier geht's 
eradeaus und man hat einen Schlitten unter sich. Aus 
»er Teufelsmühle ertönt Quietschen und Angltgeschrei. Böse 
Renschen sind hier unter dem Vorwande des Vergnügens 
ortwährend bemüht, ihren dahlenden Gästen die Beine unter 
em Leibe fortzuziehen. Einige Unternehmungen scheinen sich 
ie ideale Aufgabe gestellt zu haben, die Menschen seekrank 
u machen oder doch wenigstens in möglichst lächerliche Situa— 
tionen zu versetzen. Dagegen ist das große Hippodrom noch 
—DV 
Spott geweiht sind, lausen nur einen wohlerzogenen Trab. 
Zensationslüsternen Geistern empfehle ich den sprechenden Hund. 
en weißen Indianer und die Geheimnisse der schwarzen Berge, 
velche friedlich beieinander in einer Bude hausen. Wer in ver—⸗ 
chiedenen Museen vor blutrünstigen Bildern tiefsinnig geworden 
st. der lache sich vor den Zerrspiegenn wieder gesund. Seh 
inbequem, besonders für Gewohnhe'tsverbrecher, muß es sein, 
ie Größe und Dicke des Herrn Egon Cannon zu besitzen. 
Dem Manne soll es wohl schwer salten, unerkannt unter der 
Menge zu weilen. Mit jeder Minute wächst der Andrang der 
yerbeigeströmten Völkerscharen. und besonders der Kinder. Man 
nuß die Beine schon vorsichtig brauchen, um keine von ihnen 
u beschädigen. Der eben erwähnte Riese würde jetzt fürchter— 
iche Verwüstungen anrichten. Die Händler mit Luftballons 
ind Radauinstrumenten machen blendende Geschäfte, ebenso 
inden die verschiedenen sinnigen Juxartikel reißenden Absatz, 
welche, wie z. B. die hervorgeschneilten Zungen, dazu dienen, 
»en Verkehr der beiden Geschlechter zwanglos anzubahnen, 
vährend eine förmliche Vorstellung oft lästig fällt. Zum ersten 
ztelldichein- Platz wählt man dann zwedkmäßig die Gondel 
ines Karussells, wo die Schwungkraft der Maschine Seelen 
ind Körper einander in die Arme wirft. Beschauliche Geister 
iber, welche die Freuden heißblütiger Jugend hinter sich haben, 
uchen eins der vielen, vielen Erfrischungszelte auf und schauen 
dem wilden Treiben vom sicheren Vort aus schmunzelnd zu. 
Leider erklärte der Regen sich gestern bald in Permanenz, 
schien aber die Lebens- und Jahrmarktsfreude der Lübecker 
nicht ersticken zu können. 
Theater, Kunst und Wissenschaft. 
Lübeck, 17. Juli. 
Stadthallen⸗Theater. 
Im weißen Nößl“ und „AAls ich wiederkam.“ 
Lustspiele von O. Blumenthal und G. Kadelburg. 
Berge und Alpenseen, Schnadahüpferl und Treuherzigkeit, 
chnodderiger Berliner Witz und verliebte Zärtlichkeit, so⸗ 
wie Skeptizismus, das sind so die Ingredienzien dieses 
Stückes. Dazu wird durch einen ganz natürlichen Platzregen 
auf kindliche Seelen spekuliert, und dieses Mittel versagt nie, 
zjestern wurde der Regenguß regelrecht applaudiert. Aber be— 
onders das erste Stüch enthält eine Fülle geschikter Szenen 
ind liebenswürdiger Figuren, und da gestern wieder ganz 
reizend gespielt wurde, so konnte man sich des Behagens 
und der guten Laune, welche das Doppelstüch ausstrahlte, 
wirklich erfreuen. Einige Kürzungen wären noch zu empfehlen, 
damit das Stück noch etwas mehr im Rahmen eines Durch- 
chnittsabends bleibt. Die Stimmung des Publikums flaute 
um Schluß ab. 
Gespielt wurde, wie gesagt, flott und charakteristisch. Es 
am der Aufführung zu statten, daß ein Teil der Künstler 
ind Künstlerinnen den österreichischen Dialekt beherrscht, da⸗ 
»urch kamen auch manche Nebenrollen sehr hübsch zur Geltung. 
Jeider mußte gerade der Oberleutnant einem Norddeutschen 
invertraut werden, der ihn natürlich nur andeutungsweise 
ur Darstellung bringen konnte. Diese Figur ist eben ohne den 
dialeklt nicht denkbar. Das „Weiße-Röhl“⸗Paar Josepha und 
eopold waren bei Ckara Bracco und Kleinoschega 
n sehr guten Händen, wie denn auch Blanda Hoffmann 
und Falk als Bettler und singende Nichte prächtig in die 
lpenlandschaft paßten. Die reizend gesungenen Verse der 
nesi brachten die lustige Stimmung ins Publikum, welche sich 
ald in fröhlichem Beifall entlud. Julius Seidlers zwerch 
ellerschütternder Giesecke ist ja schon von der vergangenen 
Zommerspielzeit in bester Erinnerung, ebenso der Hinzelmann 
ZJichons. Diese alten Schulkameraden und denkbar größten 
zegensätze wurden beide in ihrer Art gleich vorzüglich ver— 
ozͤrpert. Mehner war ein sehr sympathischer Rechtsanwalt, 
mur wäre es gut, wenn seine Arme, überhaupt seine Be— 
zegungen, noch lebendiger würden, er steht manchmal wie 
ingepflanzt a uf der Bühne. Die Ottilie ist von den Ver—⸗ 
assern reichlich konwentionell gehalten, sie hätte wohl etwas 
nehr nach ihrem köstlichen Papa arten können. Anna 
ztettner schuf aber eine sehr uebenswürdige, temperament⸗ 
olle junge Dame daraus. 
Tie von Herrn Pichon in bewährter Art geleitete Vor⸗ 
lellung klappte sehr guk, es war fröhliches Leben auf der 
zühne und alle Mitwirkenden erwarben sich redlichen Anteil 
in Beifall und Anerkennung der Hörer. Der Regen, nämlich 
er außerhalb des Theaters, der den Volksfestschwärmern sehr 
ingelegen kam, schien Herrn Fesdhusen wohl zu wollen, 
ꝛr hatte eine leidliche Besetzung des Saales zuwege gebracht. 
8.O. B. 
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im Zuge besinden, und 500 davon zu Pferde sitzen; 2000 
Mann Fußvolk — darunter nalürlich auch Frauen und Lager— 
roß — und 500 Reiter vermögen schon ein recht anschnlies 
triegsbild hin ustellen. Zur Aufsührung gelangt Fren; Ditt—- 
mers neues Volksschauspiel „Juf der Kaiserburg“, 
das heißt auf der Kaiserburg zu Eger, wohin der Autotr 
die Handlung verlegt hat. Diese spielt im Jahre 1632, 
und behandelt den Einzug der Truppen des Friedländers 
in Eger. Dr. Heinrich Schmidt hat zu dem Schauspiel 
eine stimmungsvolle Musik geschrieben. Das Festspiel wird 
sich so entwickeln, daß am ersten Spieltage (29.) der Einzug 
»er Holkschen Truppen erfolgt und die Wallensteiner am 
nächsten Tage sich in imposanten Zuge dem Zuschauer präsen— 
ieren. An beiden Festspieltagen kommt das Dittwe sche Werk 
ur Aufführung. Es wird mit historischen Turnieren sowie 
Darstellung von Szenen aus dem miitelalterlichen Zunft— 
eben, Huldigungszügen der Bürgermädchen lünstlerisch-histo— 
risch ergänzt. Regisseur Karl Grube vom Lübeder 
Stadttheater leitet das Ganze. 
Wiener Musikwoche. In Wien hat sich ein Komitee 
gebildet, um in der letzten Juniwoche kommenden Jahres 
im Anschluß an die Schlußvorstellung der Hofoper eine Wiene r 
Musikwocheée zu veranstalten. Es sollen vier philharmonische 
stonzerte unter Leitung Dr. v. Weingartners zur Vorfüh⸗ 
ung älterer und neuer Tonwerke stattfinden. Die Mitwirkung 
des Wiener Männergesangvereins und des Wiener Singver« 
ins oist bereitz gelichert. 
Ein neues Wallenstern⸗Drama. Aus Eger wird ge— 
chrieben: Die diesjährigen Wallenstein⸗-Festspiel« 
verden in den beiden Tagen des 29. und 30. Jull in einem 
egen früher bedeutend erweiterten Rahmen und unter Auf⸗ 
ietung bedeutend grdßerer Teilnehmergruppen in Szene gehen. 
sicht weniger als 2800 kostüumierte Teitnebmer sollen id
	        
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