Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

g8un5 102 beantragen Graf Carmex und Genossen (skon.) 
siender neuen Nofah Dem Erwerbspreis sind Aufwendungen der 
n ð10 giffer 8 bezeichneten Art auch dann vinzuzufügen, wenn sie 
dadurch — geworden sind, daß sie in der Zeit vor dem letzten 
steuerpflichtigen Rechtsvorgang vno einem Besißvorgänger unter⸗ 
jassen worden sind 
Abg. Graf Westarvp (kons.) begründet den Antrag, zieht ihn 
edoch, da sich der ümerstaatssekretͤr Kühn und die Abgg. Dr. 
Weber, Südekuin und Cuno dagegen aussprachen, für jetzt zurück. 
8102 wird hierauf in der Kommisstonsfassung angenommen. 
Um 7 Uhr wird die Fortseßzung der Beratung auf Donners— 
ag 1 Uhr vertagt 
Preubischer Landtag. 
Abgeordnetenhaus. 
3. Sitzung vom 18. Januar. 
Berlin, den 18. Januar. 
Am Ministertisch: Dr. Lentze, Frhr. v. Schorlemer, Dr. Beseber, 
„. Troit zu Solz, v. Dallwitz. 
Präsident v. Kröcher eröffnet die Sitzung um 11 Uhr 20 Min. 
mit Jolgenden Worten: Ich erinnere daran, daß heute der Ta 
herangekommen ist, an dem vor 40 Jahren das Deutsche Re 
in Konigsschloß zu Versailles gegründet worden ist. Die Ab⸗ 
ordee heben sich), Ich freug mich, daß Sie diese Er⸗ 
nnerung zuftimmend aufnehmen. Beiiall,) Dann habe ich ein 
—X due zu Ihrer Kenntnis zu bringen. Nach mir zu⸗ 
eeen Rachtichlen die noch nicht ganz sicher sind, find bei dem 
u nierseeboot, das versunken ist, doch noch ein Offizier und 
Iwel Mann lelder verunglückt; fie solien tot sein. Das Haus wird 
mit mir den Wannschaften die im Dienft des Reiches gefallen sind, 
sein Beileid bekunden. Zustimmung.) 
Auf der Tagesordnung steht die Fortsetzung der ersten Be— 
ratung des 
Eitats. 
Abg. v. Dewitz-Oldenburg (ft.): Ich kann mich den Herren 
nicht die glauben. daß das in diesem Etat vorhandene 
Defizit von 89. Millionen in Zukunft fortfallen wird. Durch eine 
ẽ rhoͤhung der Einkommenstener diesen Fehlbetrag zu beseitigen wird 
nicht angüngig sein; denn mit einer Erhöhung der Staatseinkomm-ne 
fteuer würden auch die kommunglen Zuschläge die Steuerzahler 
lärker belasten. Grade unser Arbeiterstand ist aber zurzeit in schlech⸗ 
er Lage. Eehr richtig! links.) Wohl aber würde es zu erwägen 
ein, ob die Bessteuerung der großen Vermögen eine genügende Berüd—⸗ 
ichtigung gefunden hat. Nicht etwa durch eine Erhöhung der Er⸗ 
zänzungoͤsteuer, wohl aber durch eine Zuwachssteuer auf die 
durch Spekulationerworbenen Vermögen. Was die 
erwünschte Hebung des Kurses der Staatsanleihen betrifft, 
so muß versucht werden, den Kreis der Abnehmer zu vermehren. 
Unsere Konsolpapiere können auf die Dauer in der jetzigen Form 
nicht bestehen bleiben. Einen durchgreifenden Erfolg werden wir 
nur dann erzielen können, wenn wir zu der früheren Form, wobei 
eine Auslosung der Staatspapiere stattfand, zurückkehren Zur 
Hebung des Kurses wird es auch beitragen, wenn Banken, Aktien- 
gesellschaften und öffentliche Kreditinstitute einen Teil ihrer Reserbve⸗ 
bestände in Staatspapieren anlegen. 
Finanzminister Dr. Leutze: Der Abg. v. Dewitz wünscht eine 
FEntlastung des Mittelstandes dadurch, daß die jetßzigen Steuer— 
zuschläge organisch in das Einkommensteuergesetz hineingearbeitet 
würden. Ich kann aber nicht ohne weiteres zugeben, Ii der 
Vorschlag des Vorredners die von ihm erwartete Wirkung haben 
würde. Auf die sehr weittragende Materie einer anderen Aus— 
sestauuna der Vermögenssteuer will ich heute nicht eingehen. 
ünsere Staatspapiere haben leider nicht den Kurs, den 
sie mit Rücksicht auf ihre Sicherheit haben sollten. Es wird ge⸗— 
Sünscht, daß eis neuer Typ der Anleihen, daß amortisierbare An⸗ 
ieihen geschaffes werden Es ist aber sehr zweifelhaft, ob dadurch 
der Kurs wesentlick gehoben werden würde. So ist es auch 
leineswerzs sicher daf durch die Auslosung dieses Ziel erreicht 
wiürde. Wenn darau hingéewiesen wird, daß die Industrie- 
Apier der Staatsanleiben erhebliche Konkurxenz machen, so 
bog der Staat dic Verantwortung nicht übernehmen, hier ein— 
zugreifen. Die Industriepapiere, die ein Bedürfnis für Handel 
uͤnd Wandel sind müssen schonenb behandelt werden. Mit Herrn 
v. Dewitz bin ich damit einverstanden, daß der Stgat darauf be⸗ 
dacht sein musi, cinen ständigen Abnehmerkreis für seine Obli—⸗ 
gationen zu finden. Dazu werden in erster Reihe die Sparkassen 
berufen sein. Die Frage, ob die Aftiengesellsschaften 
dazu verpflichte werden sollen, einen Teil ihrer Reserven in 
Staatspapieren anzulegen, unterliegt zur Feh der eingehenden 
Erörterung und Beratung der beteiligten Ressorts. Den Vor— 
wurf des Abg. Wiemer, daß unsere Etats-Aufstellung e 
sei, halte ich niche für gerechtfertigt. Die bisherige Finanzpoliti 
war durchaus gesund und ist werde an den bisherigen Grund⸗ 
sätzen festhasten Abhg. Dr. Wiemer hat von einer Plus— 
macherei gesprochen; da wir aber immer noch ein Defizit 
haben, so, haben wir im Gegenteil eine Minusmacherei. Die 
Kirchhoffschen Pläne habe ich Leineswegs mit einer Kand— 
bewegung abgetan, wie mir Abg. Wiemer vorgeworfen hat. So— 
bald es gewünsct wird, werde ich den Kirchhoffschen Plänen 
näher treten. Nach den neusten Publikationen nähern sich diese 
Vorschläge wesentlich derjenigen Ordnung unserer Finanzen, die 
wir im vor:gen Fahre vorgenommen haben. Ebenso wenig kanu 
ich den Boꝛwurf des Abg. Dr. Wiemer als richtig anerkennen, 
daßz der Staat für Kulturzwecke zu wenig aufwendet. GBeifall.) 
Abg. Dr. Pachnicke Gopt.); Unsere Finanzen sind gefund und 
werden gesund bleiben. Die Finanzreform ist ein unrühmliches 
Werk. (Gelächter rechts und im Zentrum.) Wir müssen versuchen, 
die schürfsten Spitzen der gegenwärtigen agrarischen Wirt⸗— 
schaftspolitit abzubrechen. An Interesse für den Bauern⸗ 
tand Jassen wir uns von niemand übertreffen. Cachen rechts) 
Ab. Dr. Porsch hat gestern eine heftige Attacke gegen die Tinke 
eritten Wir wollen keinen Kulturkampf. Wir stören Ihre 
reise (zum gentrum) nicht, stören Sie auch Andersdenkende 
aicht. Der Moderin ist en eid enthält eine sehr weitgehende 
Bindung der katholischen Theologen. Wer den Modernisteneid 
eistet, hat den Auspruch auf den Titel eines unabhaͤngigen For— 
Hers verwirkt. Der Kampf gegen den Modernisteneid ist —* 
Kulturkampf, sondern der Kampf für die Freiheit der Forschung 
und der Wissenschaft. Der Minister des Innern hat der Pouße 
für ihr, Vorgehen in Moabit sein uneingeschränktes aus⸗ 
gesprochen, während die Gerichtsverhandlung ergeben hat, daß 
hlreiche Mißgriffe von der Polizei gemacht worden sind. Was 
Herr, von Dallwiß über die Politischen Beamten gesagt 
hat, das haben vorher schon b Bülow, Herr von Bethmann 
dollweg, Hohenlohe gesagt und es ist alles beim Allen geblieben. 
die Herren Landräte sagen: „MRögen die Winifter reden, was 
je wollen, wir machen, was uns beliebt. (Widerspruch rechts.) 
Wir bedautern lebhaft, daß uns keine Wahlrechtsvortage 
emacht worden ist. Wenn man uns micht fagen wollte, wamnn 
die Vorlage kommt, fo hälte man uns wenigstens sagen sollen, 
daß sie kommt. Wenn man uns eine Vorlage ohne das geheime 
und direkte Wahlrecht machen wollte, so wurde sie nicht den 
Namen, einer Reform verdienen. Die Konservativen stellen es 
häufig so dar, als ob wir mit den Sozialdemotraten sympothisien 
en. Wir sind aber und bleiben Gegner der Sozialdemotraten, 
Wir sind monarchisch gefinnt ünd versagen auch icht die Rintci 
ür die Landesverteidigung. Wir lehuen aber Ausnmaheme— 
deetze gegen die Spzialdempotratie, wodurch die 
Hegensätze nicht beseitigt, e—r verschärft werden, mit Ent— 
schiedenheit ab. Ich hoffe, daß alle Liberalen fest zusammen hal⸗ 
en, damit dem Bunde der Rechten und des Zeutrums die ge⸗ 
chlossene Kraft des freiheitlichen Bürgermmis egenubertreten 
tann. Geifall links.) 
Instizminister Dr. Beseler: Den von der Regierun st⸗ 
zehaltenen und von diesem Haufe durchaus 8 —E 
in schwebende Prozessenicht hineinzureßene werre 
h durchaus beachten wenn ich über die oabiter Vorgänee srucche 
In schwebende Prozesse redet man hinein und sucht Einfluß vaten 
zu üben, wenn man die Schuldfrage oder die Strafabmeffungsfrage 
oehandeit; dneen he es aber vieles, was besprochen werden fann, 
e auf die Entscheidung des Gerichts einzuwirfen. Nus diesem 
Gedanken ist ja auch in diesem Hause wie im Reichstage über vieles 
Vsprochen worden, was andere, die nicht angeklagt waren, betraf. 
)ie Besprechungen über die Tätigkeit der Polizeibehörden belrafen 
nicht die Schusdfrage und auch nicet die Strafabsretuna sie bntt 
eute, gegen die ein Anklageverfahren überhaupt nicht schwebt 
uneg * bei dcp Besprechungen, im Reichstag, wie in diesem Hause 
Fwesen, mit einer Ausnahme, die ich später exwähnen werde. D 
ig Wiemer hai bemerkt, es wäre zu wünschen gewesen, daß anch 
ee e d ene von dem Grundfatz sich in, Prozesse 
cht nzumschen, nicht abgewichen wäre; der Ministervräsident. hat 
aber kein Wort über die Schuld der Angeklagten. kein Wort über 
die Sitafabmesfung aesprochen, er hat sich eben so verhalten wie eine 
zroße Zablder Redner in diesem Hause. Ich verstehe also nicht. wie 
Zerr Wiemer besonen konnte, daßz der Ministerpräsident ienen 
Frundsat nicht beachtet habe. Die Ausnahme bildete Herr 
Sue mer bei seiner Besprechung des Prozesses in Greifz 
vad. Ich habe mit Reiner Ertlärung bis heute gewartet, weil ich 
bie AÄeußerungen des Aba. Wiemer nicht verstanden habe und mir 
erst Sicherhein schaffen wollte, was ex gesagt hat. Der Aba. Wiemer 
agte „Sowen können wir auf den Prozeß eingehen, als es sich um 
estgestelie Tatsochen handelt, an denen die Repision, die sich nur noch 
mit dem Strafmaß beschäftigt, nichts mehr ändern kann. und, da 
muß ich mich über die unerhört harte Strafe aussprechen. Ich kann 
nur meinen, daß hier eine aewisse Einseitigkeit, wenn nicht Vorein⸗ 
genommenheit gegen den Angeklagten obgewaltet.“ Diese Erklärung 
hes Abg Wiemer ift gerade ein Eingriff in einen schwebenden Pro—- 
zeß. Sehr richtig! rechts.) Er befindet sich in einem fundamen-⸗ 
jalen Irrfum, wenn er meint, es könne sich bei der Reyision nur um 
das Strafmaß handeln. Hebt das Reichsgericht das Urteil auf, so 
unterliegen alle die Tatsachen und auch das Strafmaß von neuem 
er Entscheidung des Gerichts. und gerade auf diesen Punkt will der 
ba. Wiemer einwirken, indem er das Strafmaß bedauerlich findet 
Das ist es gerade, was der bisherigen Uebung dieses Hauses nicht 
ntspricht. Auch die Bemerkung daß eine Einseitigkeit, wenn nicht 
Boreingenommenheit. gegen den Angeklagten obgewaltet habe, ist eine 
Finwirkung. und, zwar eine. die den ent edensten, Widerspruch 
inden muh. sSehr richtial, rechts. Wie kann der Aba. Wiemer 
den Verdacht aussprechen. daß die Richter voreingenommen geurteilt 
hätten. Das ist nur so erklärlich, daß er hat sagen wollen, sie hätten 
ich unbewußt beeinflussen lassen; aber der Wortlaut läßt gauch ene 
andere Deutung au, und im Interesse der Rechtspflege 
muß ich dagegen Verwahrung einlegen. GBeifall rechts.) 
Das Ergebnis der langen de handluten im Moabiter 
Vrozeß kann nur das sein, daß sich in jedem zuhig denkenden 
Mann die Ueberzeugung gebildet hat: die Poli de hat 
einen —A— — Aufruhr zu bekämpfen geg 
Jabit, sie ist sehr schwer beschimpft und angegriffen worden mit 
zeführdung ihrer eigenen Person; sie hat diese Aninnbe gelöst 
Hiler gang bedeutenden koörperüchen Anstrengungen hei ihrer 
zflichterfüllung, aber ohne große, im Verhältnis zur Sache wer 
entliche, an sich gewiß beklagenswerte, aber für das Ganze nicht 
ehr bedeutende ee der Eiuzelnen an Leben und Ge⸗ 
undheit. Ghst ung rechts.) Jeder ruhig denkende Mann 
wird der Polizei für diesen Erfolg volle Anerkennung 
zollen müssen. Geifau rechts) Der Abg. Friedbera sagte, viele 
Juristen hätten es nicht für opportun gehalten, daß die Staats- 
znwaltschaft ale diese Anklagefälle vereinzagt 
habe. Die Staatsanwaltschaft hat mir gesagt, daß dieses Vor⸗ 
gehen notwendig gewesen sei, denn nach der ganzen Art, wie der 
Aufruhr sich abgespielt habe, habe sie mit Sicherkeit vorausge— 
sehen, daß ein großes Beweismaterial beigebracht werden würde, 
und daß es dann notwendig gewesen wäre, in allen Einzelpro— 
zessen diese Beweisaufnahme zu machen, während sie jetzt mit 
inem Mal gemacht werden konnte. Wie hätte sich das wohl ge⸗ 
staltet? Es sind 87 Angeklagte gewesen, davon mögen einige 
ausscheiden, deren Taten nicht mik Aufruhr zusammenhängen und 
zinfach erledigt werden konnten, aber immerhin war in etwa 20 
Füällen die umscngreiche Beweisausnahme vorauszusehen; wenn 
jeder einzelne Fall auch niht die Lange des gemeinsamen RPro⸗ 
zesses gehabt hätte, sondern nur etwa zwei bis drei Wochen, so 
mären im ganzen vielleicht 530 Bbochen herausgekommen, wöh⸗ 
end welcher das Landgericht damit ganz in Anspruch genommen 
jewesen wäre, und da vielfach dieselben Zeugen nötig waren, 
vären lauter Komplikationen möglich gewesen, es wäre eine 
eigentümliche Justiz geworden. Ich will noch der Legende 
ntgegentreten, als bätte sich die Staatsanwaltschaft für. diesen 
Prozeßz eine besondere Strafkäammer ausgesucht. 
Der Präsident des Landgerichts ist diesem Gedanken schon ent⸗ 
jegengetreten. Kein Stratsanwalt denkt daran, sich eine Kam⸗ 
mer auszusuchen. Die Staatsanwaltschaft hat den ersten fertig 
orbereiteten Fall an die zuständige Kammer gebracht, und dann 
die anderen Faͤlle damit vereinigt. Alle Präsidenten der Kam— 
mern haben zugestimmt. Jene Ansicht ist also haltlos. Ich will 
noch betonen, daß das Gericht mit großer Gedurd ge⸗ 
arbeitet hat. Es ist keine leichte Arbeit, wochenlang zu ver⸗ 
handeln. Nach der Gesetzgebung muß das Gericht den Beweis⸗ 
anträgen stattgeben; seine Befugnisse, Beweisanträge abzuleö— 
nen, sind gering. Bei der Resorm der Strasprozeßordnung muß 
die Regierung dahin wirken, daß die Befugnissedes Ge⸗ 
richts zur Ablehnung überflüssiger Anträge 
I —— werden. Geifall rechts.) Die große Mehrheit des 
dauses wird mir zustimmen, daß das der richtige Gedanke ist; 
das kann geschehen, ohne daß jemandem zu nahe getreten wird. 
Ich exsuche auch die Hexxren in diesem Hause, mit den Fraktionen 
des Reichstages dahin Jhlung zu nehmen (Hört! Hört! links), 
daß das Gesetz wird. (Sehr richtig! rechts.) Ich werde dazu das 
Meinige tun, und werde für,die Unterstützung darin dankbar 
ein. WBeifal rechts, Zischen links.) 
Abg. Graf Praschma (Btr.): Wir tragen nicht die Schuld 
aran, daß die Wahlrechtsvrorlage gescheitert ist. Denn 
oenn wir die — — und direkte Wahl verlangt hätten, so 
ätten die Konservativen gegen das Gesetz gestimmrt 
die Liberalen bemängeln die Reichsfinanzreform uund unsere 
Virtschaftspolitik. Der Freihandel aber, den die Liberalen wollen, 
st nicht der Schutz der nationalen Arbeit. Sie (zur Linken) sagen, 
Zie stören unser religiöses Gefühl nicht, aber durch Ihre Reden 
eweisen Sie, daß Sie keinen Sinn für unser religioͤses Gefühl 
zaben. Wir haben uns bisher auf das äußerste zurückgehalten, 
vir sind aber an der Grenze der Zurüdhaltung. Wir ver— 
oitten uns auf das Entschiedenste, daß Sie die Lehren und Vor⸗ 
schriften der katho lischen Kirche, vor das Forum der Var⸗ 
amente ziehen. (Beifall im Zentrum.) 
Abg. Leinert (Soz.): Derartige Debatten würden nicht mög— 
ich sein, wenn unser Grundsatz allgemeine Geltung hätte, daß 
Religion Privatsache ist. Wir werden in dieser Beziehung nur 
ann zu besseren Zuständen kommen, wenn Kirche und Staat ge⸗ 
rennt sein würden. Die Behandlung der Wablrechts—⸗ 
porlage und die Reichsfinanzreform haben den Kßovn des 
Volkes in hohem Maße erregt. In Moabitist, wie Herr v. * 
itz gestern sagte, ein Pulverfaß zur Explosion gekommen. Wer 
wf dies Vulverfaß gefüllt? Rif rechts: Sie dach nicht! Heiter— 
eit. 
Präsident v. Kröcher: Wir wollen doch g- darüber streiten, 
wer das Pulver erfunden hat. (Erneute Heiter 
Abs. Leinert (fortfahrend): Es ist eine nichtswürdige 
Behauptung seitens des Abg. v. Zedliz, daß die Sozialdemo— 
ratie die Zeugenaussagen suggeriert habe. (Krasident v. Kröocher 
ruft den Redner wegen dieser Bemerkung zur Ordnumng.) Vor 
Vericht ist nicht der Schatten eines Beweises für die Mitschuld der 
Zozialdemokratie an den Moabiter Vorgängon erbracht. Der 
Ltinister des Innern weiß das; trotzdem hat er die Unwahrheit 
zier gesagt. (Präsident v. Kröcher ruft den Redner zum zweiten 
Mal zur Ordnung und macht ihn auf die geschaftsswnungs 
näßigen Folgen aufmerksam.) Aus Furcht vor den Reichstags 
vahlen haben die bürgerlichen Varteien einen Augsiblock ge⸗ 
(hlossen. Wir werden alles daran setzen, bei den Wahlen de 
Junkerklasse niederzuringen. 
Auf AIntrnß des Abg. v. Pappenheim (xt.) wird die De⸗ 
batte geschlossen. 
Persönlich bemerkt Abg. Frhr. v. Zedlitz (st.): Ich halte meine 
Behauptung, daß Sozialdemokraten Zeugenaussagen im Moabiter 
Prozeß suggeriert haben als Schlußfolgerung aus dem Gerichts 
erkenntnis aufrecht. 
Die Hauptetatsteile werden der Budgetkommission überwiesen. 
Nächste e Donnerstag 1 Uhr: Interpellation Aronsohn 
betr. Prozeß Becker. 
Schluß 4 Uhr. 
— 
Luftschiffahrt. 
Ein neuer Preis für LAlviatiker ist von den städtischen Behör⸗ 
den von Boulogne und Folkestone im Verein mit denen Londons 
arrangiert worden. 40000 Mark werden demnächst Fir den 
Aviatiter ausgeschrieben werden, der mit, inem pder mon 
Zaffagleren vom Kanal sich in die Luft erheben und wieder auf 
as Wafser edergehen kann. Die Bedingungen sind bis e 
ioch nicht endgültig festgelegt, das Geld jedoch ist bereits gezeich⸗ 
e ud ver Wetibewerb wird im kommenden Sommer stattfinden 
ahr scheinsich im Monat Juli. Für diesen Wettbewerb wird 
ine neue Art von Maschine notwendig sein, der es, neben den 
gen Faͤhigkeiten eines Aeroplans, möglich ist, sich auf dem 
—* zů halten. Ein derartiges Modeũ ist nicht unmsglich, 
eun ini ießlen Jahre veranstaltete ein Frengese⸗ namens Fabre, 
niizza Fluhversuche vom Wasser und oing dann ebenfalls 
dieder auf dem Wasser nieder und in England machte vor ca. 
wei Jahren Masor Baden⸗Powell Flugversuche mit einem 
en odell, das jevoch bei, den Versuchen auf Wasser vyr⸗ 
agte. Aber seit jener gzet sind große Fortschritte in ber 
Aeronautik e worden und es wird für das neue Pereis⸗ 
ee Line fiarke Konkurrenz zwischen enalischen und fran⸗ 
öfischen Fahrzeugen erwartet. 
Einen Ueberiandfiug mit zwei Passagieren vollführte gestern, 
wie uns aus Paris telegraphiert wird, der Amerikaner Weyman. 
die Avianter erhoben sich in Mourmelon auf einem Farm⸗i⸗ 
Zweidedter in die Luft und erreichten nach kurzer durch Motor⸗ 
efett bedingter Zwischenlandung die 30 Kilomeler entfernte Ort⸗ 
chaft Conrey, wo sie den Frühstück eingeladen waren. Um 
2 hr traten die drei Luftreisenden den Rückflug an und lan⸗ 
deten 28 Minuten später wieder in Mourmelon. 
Die Versuche mit drahtloser Telegraphie von Aeroplanen aus 
vurden von Maurice Farmon auf dem Aerodrom von Buc mit gutem 
xrfolge fortgesetzt. Es gelang Farman Telegramme auf 12 Kilo—⸗ 
neler Entfernung aufzunehmen. Man will nun den Versuch machen, 
von einem Aeroplan gus drahtlos mit der Station auf dem Eiffel⸗ 
urm in Verbindung zu setzen. 
Vermischtes. 
Gegen eine ftändige Maschinenaussteuung in Dresben faßte 
gestern q der Plenarfitzung des Vorstandes der ständigen Aus⸗ 
ellungstommisfion sür die deuffche Industrie in Berlin der Bor— 
land anf Grund der dteferate des Vorsitenden des Direltoriunis 
er Siemeis Schuctertwerke, Dr. Verliner, sowie des Ge⸗ 
ieralfekretärs des Bundes der Industriellen und Mitglieds des 
ubgeordnetenhauses, Dr. Wendlandt, einftimmig folgenden Be⸗ 
chluß: 1. Insoweit die aeplante ständige Lehrausstellung für die 
ischrite der Maschinentechnik in Dresden zu akademischen 
Zwecken und zur Belehrung Studierender usw. dienen will, des⸗ 
sleichen infoweit der Dresdener Plan weiterhin auf die Erxich⸗ 
ing ner wissenschaftuich technischen Vrüfungsanstalt für Ma—⸗ 
chinenbau abzielt, hat die ständige Ausstelung-ztommi n iur 
ie deuntsche Induͤstrie fich mit diesen Zwechbestimmungen als 
ßzerhalb hres Wirkungstreises liegend nicht zu befassen. 2. Das 
eherige Dresdener Rrogramm, nimmt jedoch ferner in Aussicht 
ie Ausgestaltung zu einer ständigen, durch Auswechslung stetig 
u erneuernden echnisch industriellen Maschinenausstellung, ie 
iber die akademischen Zwecke hinaus sich an das große Publikum 
ud die Kaufinterefsenlen wendet. Hierin erblidtt der Vorstand 
ser stäändigen Ausstellungskommission unter pflichtaemaßer Wabhr⸗ 
sehmung der anvertramen Intereffen und in Durchfübrung der 
ujngabe den heimischenGewerbvefleiß vor ůbermaßiger Anspannung 
urch Ausstellungen zu schützen, eine schwerwiegende Gefahr für 
ie gesamte deutsche Raschinenindustrie. a) Die beabsichtigte stete 
Auswechslung der ausgestellten Gegenstände muß zu einer starken, 
urch kelne Rotwendimeit gerechtsertigten Belastung der obnebhin 
usflellungmüden Industrie führen, 0) anstelle der mit eiumaui— 
jen Ausstellungen verbundenen vorübergehenden Belastung tre⸗ 
en dauernde, zudem staͤndig sich erneuernde Kosten und Be— 
riebssanforderungen, e) die Vorfiihrung der ausg neuten Gegen⸗ 
ande behuss Beratung der A Aun ene — 
inen soll durch Ausstellungsbeamte erfolgen. Dadur er⸗ 
Feheee EI— Ie Vertehr mit den Käufern abge⸗ 
chnitten. Einseitige Urteile der Ausstellunasbeamten werden 
ich aber bei aller Konpetenz und bei dem besten Willen nach Un⸗ 
arteilichkeit nicht vermeiden lassen. Dies ist umso bedenklicher, 
ils die Vorführung durch Vertreter eines staatlich geförderten 
Instituts als amtliche Empfehlung gedeutet werden wird. So 
vird der freie Wettbewerb in erheblicher und unbilliger Weise 
eeinträchtigt und geschädigt. (Tel.) J 
Der internationale Verein reisender Schausfteller hält gegen⸗ 
värtig in Berlin seine diesjährige Generalversammlung ab. 
rröffnet wurde sie am Dienstag im Kaisersaal der Ausstellungs— 
allen am Zoologischen Garten durch den ersten Vorsitzenden Karl 
daufmann (Hamburg) mit einer Begrüßungsansprache, die mit 
inem Hoch auf den Kaiser schloß, an den ein Huldigungstele⸗ 
gramm abgesandt wurde. Dem Jahresbericht über das 26. Ver⸗ 
insjahr ist zu entnehmen, daß der Vervand gegenwärtig über 
2000 Mitglieder im In- und Auslande zählt. Das Vermögen 
des Verbandes inkl. Schaustellerheim (Hamburg) beträgt 83112 
Mark. Der Hauptversammlung liegt eine Reihe von Anträgen 
oor, die die Lustbarkeitssteuer, die Gründung eines Schiedsge- 
richts füür Arbeitgeber und Gehilfen, eine Versicherung auf 
Hegenseitigkeit, die Stellung des Hansabundes, dem der Verband 
korporativ beigetreten ist, die Erschwerung des Gewerbebetriebes 
durch die Ortspolizeibehörden, die Einführung des Postscheckver⸗ 
lehrs, den Schutz der Künstlerwagen auf Eisenbahntransvporten 
zegen Diebstahl usw. betreffen. 
Ein fingierter Ueberfall. Der angebliche Amerikaner Milner, 
zer am Sonntag im Walde von Vincennes gefesselt aufgefunden 
vorden war und eine romantische Geschichte von seinem angeb⸗ 
ichen Neberfalle erzählt hatte, entpuppte fich, wie aus Paris be⸗ 
ichtet wird, als ein gewisser Rosenblum aus Amerika, der der 
fremdenpolizei seit langem als Betrüger bekannt ist. Der Dele⸗ 
ierte der Jugendfürsorge Schlesinger erkannte au der Erzäh⸗ 
ung Rosenblums sofort dessen charakteristische Art, und entlarvie 
hn als alten Bekannten, der schon zahlreiche fingierte Selbst— 
nordversuche angestellt hat, um das öffentliche Interesse zu 
vecken und Unterstützungen zu erschmindeln. Rosenblum trat 
mmer unter anderen Namen auf. Er spricht geläufig Deutsch 
uind Englisch, ist queh mit der deutschen Polizei ece in Konflikt 
elortmen, und als lästiger Ausländer abgeschoben worden. 
Tragödie eines Wohltäters. Der cehemalige Gerichts⸗ 
olmetscher für orientalische Sprachen in Wien, Dedejan, dessen 
eordimne kurz gemeldet wurde, war Armenier. Er war im 
zahre 1 in der Türkei geboren und war fruͤher sehr reich. 
er besaß vor zwanzig Jahren zahlreiche Häuser. Durch unglück⸗ 
iche Spekulation verlor er jedoch sein Vermögen. Seine Frau, 
ine geborene Gräfin Pilbach v. Friedenwarth, sowie sein Sohn, 
der Landschaftsmaler war, sind vor einigen Jahren gestorben. 
Der Mörder Eremian, ein Armenier, floh vor Jahren aus der 
Äürkei, wo er sich der revolutionären Partei angeschlossen hatte. 
Us Bettler kam er nach Wien und bat auch vor der Tür 
oedejans um Almosen. Dedejan eripfand mit dem jungen Men— 
chen Mitleid, beschenkte ihn und ließ ihn unterrichten. Dann 
tellte er ihn als Buchhalter an. Nach mehriähriger Dienstzeit 
oll Eremian Unterschlagungen verübt haben. Was dann zwischen 
Dedejan und Exemian vorfiel, ist noch nicht vollständig bekannt. 
kremian hielt sich darauf drei Jahre in London auf und ging 
ann nach Berlin, wo er zwei Monate verweilte. Von Berlin 
am er am letzten Sonntag nach Wien. Man glaubt, daß er 
eigens nach Wien kam, um Dedejan zu ermordenm gegen den er 
einen wilden Haß gehegt haben fsoll. Beim ersten Verhör fagte 
Fremian nichts über die Tat. Er gab verworrene Auskünfie, 
enen zu entnehmen war, daß er Dedejan für alles Unglück ver⸗ 
intwortlich macht, das ihn vetroffen hat. Der Verbhästete be⸗ 
eichnete den Ermordeten als einen herzlosen und rachfüchtigen 
Nenen, der, ihn zugrunde gerichtet habe. 
ie Schätze einer Zigeunerbande. Die Budapester Polizei 
iahm einige Mitglieder einer Zigeunerbande in ihrem Absteige⸗ 
zugrtier fest. Man fand bel ihnen in schmußzige Säcke genaht 
voldstücke aus aller Herren Läudern im Betrane von zweihun 
erttausend Kronen, Der Anführer der Truppe namens Adalbert 
AQuee gab an, die Bande, bestehe aus neun Familien, habe sich 
or zwei Jahren in Warschau zusammengestellt und seither eing 
Rundreise durch Europa unternommen. Die Gefeüschaft fei aul 
jenossenschaftlicher Basis organifiert, die Männer fertigten 
upferne Kessel an, die Frauen Teppiche. Ihr erworbenes Geld 
rügen sie stets bei sich, weil sie zu den Banten kein Vertrauen 
hätten. Die Ligeuner werden vorsäufig volizeitick üß—an
	        
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