Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

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Dienstag, den 4. Juli 191. 
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—31 
Ausqgabe A. 
Abend⸗Blatt Rr. 332. 
Aus den Nachbargebieten. — 
Schte swig⸗ Hontein. 
Neumünster, 4. Juli. Ein trauriges Ge— 
schick ereilte am Sonnabend den Spinnmeister Schellig. 
Während des Turnens trat plötzlich der Bruch, mit dem er 
behaftet war, hervor; es gelang nicht, die Körperteile in die 
richtige Lage zurückzubringen und S. starb unter aroßen 
Qualen. 
Flensburg, 4. Juli. Ein heftiges Gewitter 
richtete Sonntag morgen an der schleswigschen Westküste viel⸗ 
fachen Schaden an. So wurde der große Hof des Besitzers 
Tallsen, bei Stedesand gelegen;, durch Blitzschlag voll—⸗ 
ständig eingeäschert. Das Vieh befand sich auf der Weide. 
Mit verbrannt ist die große Heuernte. 
Eckernförde, 4. Juli. Ein harmlos heiterer 
Zwischenfall ereignete sich im Marien-Louisenbad, als der 
Kaiser mit seinen Gästen vom Kaiferlichen Jachtklub daselbst 
zum Bierabend weilte. Geschäftig eiltet die bedienenden 
Kellner durch die Räume; jedem neu angekommenen Gaste 
wurden in üblicher Weise Bier und mit Kaviar, Lachs und 
rohem Schinken belegte Brötchen vorgesetzt. So auch einem 
zwar anständig, aber nicht mit Sportanzug bekleideten jungen 
Mann, der den ihm vorgesetzten Speisen und Getränken 
wacker zusprach. Dieser Gast fiel schließlich mehreren anderen 
Gästen dadurch auf, daß er wiederholt in auffälliger Weise 
sich erhob, um offenbar den Kaiser besser sehen zu 
können. Nachdem man sich unauffällig mehrfach erkundigt 
hatte, „wess' Nam' und Art“ der Fremdling sei. wurde er von 
einent Lohndiener höflich gebeten, auf einen Augenblick mit 
in einen Nebenraum zu kommen. Bereitwillig folgte der 
Unbekannte und gab auf Befragen ohne weiteres zu, daß 
er nicht Mitglied des Kaiserlichen Jachtklubs, sondern — 
Schneidergeselle sei, der bei einem hiesigen Meister 
in Arbeit stehe. Er habe geglaubt, daß die Veranstaltung 
öffentlich sei und erklärte sich sofort bereit, die genossenen 
Speisen und Getränke zu bezahlen. Offenherzig fügte er 
hinzu, daß er Sozialdemokrat sei. Dem harmlosen Gast 
wurde die Zeche erlassen, nur wurde er höflich ersucht, das 
* zu verlassen. Dieser Aufforderung wurde sofort ent⸗ 
pro . 
meinden“. Redner kennzeichnete, unter Berufung auf das Staats⸗ 
nundgesetz und das Zivilstaatsdicnergesetz, wie auch an der 
zand der Gemeindeordnung in längerer Ausführung die Rechte 
ind Pflichten des Lehrers und wies nach, daß den Staats⸗ 
vienern, wie quch den Lehrern das passive Wahlrecht zustände. 
Das Oberverwaltungsgericht in Oidenburg sei nun aber zu 
rinem verneinenden Urteil gekommen, indem es aufs Herzog⸗ 
rum sich beziehende Gesetze auch für das Fürstentum angewandt 
habe, obgleich das doch seine eigenen Gesetze habe. Nur durch 
ine Aenderung des Gesetzes mit Zustimmung des Landtages 
önne den Lehrern das passive Wahlrecht genommen werden. 
zwei Anträge wurden nun gestellt: Antrag Nerdel: „Nach 
dem das Verwaltungsgericht ein Urteil gefällt, an den Land- 
ag unter Uebergehung von Regierung und Staatsministerium 
ine Eingabe zu machen, den Lehrern das passive Wahlrecht 
u erteilen“, sowie Antrag Voß: „Die Regierung zu ersuchen, 
»ahin zu wirken, daß dem Landtage cine Vorlage zugehe, die 
en Lehrern dies Recht sichere“. Der letzte Antrag wurde an⸗ 
senommen. Christiansen-Eutin, Vorsitzender der Pestalozzikasse, 
ustattete hierauf den Voranschlag für das Jahr 1911, wonach 
nit einer Einnahme von 2116,85 Mizu rechnen ist. 24 Witwen 
rhalten in diesem Jahre eine Unterstützung, und zwar 3 von 
O M, 1 won 88 M 1 von 100 M, 13 von 80 Mund 6 von 
5 M. Sodann wurden noch folgende Anträge angenommen 
»ezw. beschlossen, der Regierung zu unterbreiten: Hebung eines 
iußerordentlichen Beitrages von 4 M; auber dem Vorsitzenden 
ioch Lehrer Nerdel als Vertreter zu der 1912 in Berlin statt— 
indenden Deutschen Lehrerversammlung zu entsenden; die Ver— 
sütung des Redakteurs der pädagogischen Rundschau auf 100 M 
u erhöhen; die Regierung zu ersuchen, eine Regelung des Kon—⸗ 
irmandenunterrichts herbeizuführen, dabingehend, daß die Zahl 
»er Stunden überall eine gleiche sei, daß die Stunden außerhalb 
»es Schulunterrichts gelegt werden und daß der Memorierstoff 
nit dem der Schule gleich gemacht werde; gleiche Dauer der 
Ferien in allen Schulen; die Pflichtstundenzahl möge mit dem 
unehmenden Alter sich verringern; das pensionsfähige Woh— 
tungsgeld auf 400 Mäfestzusetzen und bei der bevorstehenden 
anderweitigen Einschützung des Dienstlandes dem jetzigen In— 
haber die jetzigen Erträge zu belassen. — Ein gemeinschaftliches 
Fssen beschloß die Versammlung. 
æu 
Probleme des Christentums andere geworden seien; sie seien 
rweitert worden. Die Gottesfrage und manch andere Frageé, 
ie der evangelischen Kirche bisher unzweifelhaft gewesen sei, 
eien heute Probleme geworden und allgemeines Obiekt der 
Wissenschaften. Der alte feste Kern, um den sich Jathos 
Leben gruppiert, ist die Lehre von der Charakterfestigkeit 
und der persönlichen Ueberzeugung. Unter steigender Erregung 
der Versammlung fragte Jatho: „Bin ich kein Christ, weil 
ich das Evangelium im starken Menschen verkündigt habe? 
ich bin ein Opfer des Dogmatismus und der Kirchenpolitik. 
Ich frage: Kann ein fauler Baum gute Früchte tragen?“ Die 
Versammlung rief mit starker Stimme: „Nein!“ Allmählich 
steigerte Jatho sein eigenes Empfinden zu solcher Höheh 
aß sein Vortrag eine Predigt wurde. Als er schließlich die 
Vorte wiederholte, die er dem Spruchkollegium zum Schlußg 
ugerufen hatte, kannte der Sturm der Begeisterung, den 
r in der Versammlung auslöste, keine Grenzen. Im Mittel⸗ 
yunkt seiner Worte stand der Ausspruch: „Ich werde mich, 
auch wenn Sie mich für ungeeignet erklären, nach wie vor 
für geeignet halten.“ Jatho wies dann noch darauf hin, 
daß das Vorgehen des Spruchkollegiums den schon jetzt emp⸗ 
findlichen Mangel an Theologen noch erheblich verstärken 
werde. Als zweiter Redner sprach 
Prof fer Baumgar en. 
Es war ein merklicher Unterschied zu spüren in der 
Art, in der er den Fall behandeltt. Zwar sprach auch er 
scharfe Worte über das Spruchtollegium, er hatte aber doch 
ichtlich das Interesse, die 13 Herren, aus denen das Spruch— 
;ollegium gebildet war, gegen den Vorwurf in Schutz zu 
iehmen, sie seien schuld an dem Konflikt. Nicht die Personen 
»es Spruchkollegiums, sondern das Institut selbst, das ganze 
Irrlehregesetz trage die Schuld. Den Hauptpara—⸗ 
zrraphen dieses Gesetzez, den er wohl hundertmal gelesen 
abe, könne er immer noch nicht wegen des verzwickten Deutsch 
ehlerlos hersagen, und mit einem so'schen Paragraphen wolle 
nan einer einzigartigen Persönlichkeit, einem Dichter Jatho, 
jerecht werden. Baumgarten wies ferner nach, wie Schleiermacher 
und Herder vor 100 Jahren als Propheten einer neuen Welt 
gefeiert wurden, obwahl sie die gleichen Anschauungen wie 
heute Jatho vertraten. Die Verurteilung Jathos nannte er 
zinen verhängnisvollen, nie wieder gut zu machenden Schritt. 
Lharakteristisch für den Unterschied zwischen den Reden Baum— 
zattens und Jathos war das Verhalten der Versammlung. 
OAbwohl sie auch Baumgartens Worte mit starkem Beifall 
zegleitete, zeigte sie kein Verständnis für den Versuch, den 
Baumgarten nicht unterlassen konnte, zwischen Jatho und der 
twangelischen Kirche doch noch Verbindungslinien zu ziehen, vor 
allem mit dem Hinweis, daß auch Jatho seine Gemeinde zum 
historischen Christus hingezogen habe. Es war offenbar, daß 
diese Töne bereits der Versammlung fremd waren und nicht 
derart ihr Herz trafen, wie das, was Jatho gesagt hatte. 
Denn das, wodurch Jatho die Versammlung gepacdt hatte, 
var eineiseits der unbedingt starke Protest gegen das Be— 
tehende und andererseits das al.gemein Menschliche seiner 
Religion, vor allem das allgemein Menschiche seines Empfin— 
dens und Glaubens. Die Versammlungen nahmen folgende 
Kesolution an: 
Die drei großen, nach Tausenden zählenden Versamm— 
lungen vrotestantischer Männer und Frauen Berlins sehen 
in der Amtsentsetzung des Pfarrers Jatho den schwersten Ein—⸗ 
griff in die evangelische Glaubensfreiheit, die der Lebens⸗ 
aerv des Protestantismus und der eyangelischen Kirche ist. 
In ernster Sorge um das religiöse Leben unseres Volkes 
mögen alle evangelischen Christen alles daran setzen. daß 
die Not dieser Zeit unserer Kirche zum Segen wird. Erkämpft 
euch selbst durch treue christliche Arbeit die Güter, die euch 
zustehen und die man euch vorenthalten will: die Selbst— 
ständigkeit der Gemeinde und die freie Predigt 
»es Evangeliums. 
Köln, 3. Juli. Für die Jatho⸗Spende sind bisher 
90 000 Muvon etwa 700 Personen gezeichnet worden. 
(Köln. Itg.) 
Laueuburg. 
Ratzeburg, 4. Juli. Die endgültigen Er— 
gebnisse der außerordentlichen Viehzählung 
oom 1. Dezember 10910 liegen jetzt vor. In Schleswig-Hol— 
itein wurden gezählt: 205 322 Pferde, 1049 714 Rinder, 
175 073 Schafe, 1389557 Schweine. 
Sondern, 4. Juli. Alte Schwedentrophäen 
hat Lehnsgraf Schack-Schacddenburg in seinem Park in Mögel—⸗ 
londern aufstellen lassen. Es sind das mehrere schwedische 
Beschütze, die der Gründer der Lehnsgrafschaft, der dänische 
Feldmarschall Graf Schack, 1658 in der Schlacht bei Nyborg 
von den Schweden eroberte und mit nach Hause brachte. 
Die Geschütze waren 1864 von Desterreichern beschlagnahmt 
worden. wurden später aber wieder auf dem Wege einer 
diplomatischen Intervention ausgeliesert, da sie Privateigen⸗ 
tum und ungefährlich waren. Einige Rohre sind Meilet— 
stüche der damaligen Geschützgießerei. 
M. Berlin, 3. Juli. Schon 16 Stunden vor Beginn der 
drei großen PVrotestversammlungen, die der kirchlich-liberale 
zZentralwahlverein für heule abend einberufen hatte, wälzten 
sich Tausende von Menschen in die Säle. Alle drei Ver— 
ammlungen, in denen Pfarrer Jatho und seine Verteidiger 
Brofessor Baumgarien und Lizentiat Traub sprechen sollten, 
mußten 'wegen Ueberfüllung polizeilich geschlossen werden. 
Ddirektor Schröder, der Vorsitzende des D.u schprotestantischen 
Vereins, leitete die Versammsung in der Neuen Welt ein. 
Nach ihm nahm 
Berliner Jatho⸗Versammlungen. 
Großherzegtum Oldenburg, Fürstentum Lübed. 
—kK. Malente, 4. Juli. Die Hauptversammlung 
spes Landeslehrervereins für das Fürstentum 
Lübecd fand am Sonnabend hier im Kurhotel „Luisenhöhe“ 
latt. Anwesend waren 100 Lehrer und 8 Lehrerinnen. Die 
Großherzogl. Regierung war vertreten durch Herrn Regie—⸗ 
rungstat Scheer und Kreisschulinspektor Rektor Behrens. der 
Vorsitzende, Lehrer TewsEutin, dankte den Herren Regierungs⸗ 
bertretern für ihr Erscheinen. Im Jahresberichte wies ver Vor⸗ 
sitzende auf die beiden, für die Lehrerschaft wichtigen neuen Ge—⸗ 
jetze, das Schulgesetz und das Beso dungsgesetz, hin und meinte, 
wenn auch noch manche Härten beständen, so müßten die Lehrer 
doch sfür das Erreichte den Abgeordneten dankbar sein. Voß⸗ 
Stodelsdorf bedauerte, daß diese Sache nicht als Thema für 
oie Hauptversammlung aufgestelit sei, da dann aus der Ver—⸗ 
ammlung heraus hierzu Anträge hätten gestellt werden können. 
Lehrer Nerdel erklärte, daß sein Vortrag genug Stellen bieten 
wilrde, die zu einer Debatte über diese Angelegenheit führen 
vürden. Herr Nerdel erhielt nun das Wort zu seinem Vor—⸗ 
nag „Die rechtliche Stellung des Lehrers in Staat und Ge— 
frerer Jalho 
das Wort. Er sagte u. a. folgendes: „Zwei Strömungen 
ämpfen im modernen Leben, die eine vertritt das Recht 
»er Ueberlieferung, die andere das Necht, das mit uns ge⸗ 
»oren ist.“ Obwohl er eigentlich der Besiegte sei, hale er sich 
»och für den Sieger und könne sich nicht für ungeeignet 
zalten, sein Amt zu versehen. Das Spruchkollegium 
ei eine ungewöhnliche Einrichtung auf pro— 
estantischem Boden. Es sei nicht denkbar, daß Linien 
jezogen würden, nach denen man die Zugehörigkeit zum 
Lhristentum festitellen könne. Wenn die drei ehn Herren des 
Spruchkollegiums über ein Thema des Glaubens und der 
Lehre eine Klausurarbeit hätten schreiben sollen, würde es 
ich am besten gezeigt haben, wie unmöglich und undenkbar 
ihr eigenes Beginnen sei. Jatho legte daun dar, wie die 
Fraktur oder Antiqua? 
Zu Beginn dieses Jahres hat der Bittschriften-Ausschuß 
bes Deutschen Reichstages die Gesuche um Einführung der 
Antiqua⸗Schrift den- Regierungen zur Berücksichtigung über⸗ 
wiesen, und der gleiche Ausschuß ist über die Gegeneingabe 
der Anhänger der Frakturschrift mit 23 gegen 3⸗Stimmen 
zur Tagesordnung übergegangen. Wahrlich, dieser Ausschuß 
eines Deutschen Reichstages hat das neue Jahr mit einer 
erhebend nationalen Tat begonnen! Natürlich haben die An— 
hänger der Antiqua, der mit Recht so genannten Lateinschrift, 
ihre Grunde für diesen Angriff auf ein Besitztum, welches Ge⸗ 
meingut aller deutschredenden Bewohner der Erde ist. 
Sie behaupten: 
1. die Antiqua sei die wahle deutsche Schrift; 
2. das Erlernen zweier Schriften bedeute eine Ueber— 
lastung unserer Kinder; 
3. die Antiqua sei leichter zu lesen als die Fralktur; 
4. die Einführung der Antiqua erleichtete den Aus—⸗ 
ländern das Erlernen der deutschen Sprache. 
Untersuchen wir diese Gründe einmal auf ihre Stich 
altigkeit. 
Also die Antiquä soll die ärteste deutsche Schrift sein. 
Das gerade Gegenteil ist in Wirtlichkeit der Fall, sie hat von 
allen Schriften mit der deutschen am wenigsten zu tun, ihr 
voltstümlicher Name „lateinische Schrift“ gibt ihr Verhältnis 
zu den Sprachen ziemlich genau wieder. An sich ist es ja ganz 
gleichgültig, woher eine Schrift stammt. Die Fraktur ist 
iun durch fast vier Jahrhunderte verwachsen mit der deut⸗ 
chen Sprache, das allein schon legitimiert sie genugend, aber 
s ist auch leicht, den Vorwurf, sie sei nicht deutschen Ur⸗ 
prunges, zu widerlegen. Aus der römischen Kapitalschrift, 
velche nur Mafuskeln kannte. entwickelte sich durch vieles 
-chreiben die rundere Unziale, welche bald auch Kleinbuchstaben, 
Minuskeln, ausbildete. Karl der Große schon konnte die Ka⸗ 
italschrift gegen die karolingische Minuskel nicht mehr durch⸗ 
etzen. Diese karolingische Minuskel zeigte im Gebrauch schon 
ald starke Anpassungen an die deutsche Sprache, die leider 
päter in der gotischen, der mit Recht so genannten Mönchs— 
chtift, wegen der großen Uebermacht der lateinischen Sprache 
vieder verloren gingen. Aber diese entwitelte karolingische 
Minuskel, in der z. B. Handschriften der Minnelieder ge⸗ 
chrieben sind, enthält schon die Grundformen für die Klein— 
uchstaben der späteren Fraktur. Aus dieser deutschen Hand⸗ 
chrift entwickelte sich im Gegensatz zur Gotisch, der Schrift 
er Gelehrten und aller offiziellen Leute, die Schwabacher, 
zus dieser, und nicht aus der Gotisch, wie die Antiquafreunde 
mmer wieder behaupten, ist die Fraktur entstanden. Der 
Theuerdank, welcher 1517 in Nurnberg erschien, zeigte schon 
/ie fast fertige Fraktur, er weist nur noch einige Schwabacher 
Majusleln auf. 1527 erschien dann die Schrift von Al— 
recht Türer: „Unterweisung der Messung mit dem Zirkel“, 
und dieses Buch, das Werk eines der groöͤßten deutschen Künstler, 
unter seiner Aufsicht gedruckt, zeigt die Fraktur fertig, stilrein 
und künstlerisch durchgeführt. Da kann man doch vernũnftiger⸗ 
veise nicht mehr von welschem Ursprung reden! Gewiß. die 
zchrift ist den Deutschen von einem fruͤher kultivierten Volke 
berliefert worden, aber sie haben sie in zielbewuhßter, kunst- 
erischer Weiterbildung zu ihtem Eigentum gemacht. Woher 
aben denn die Romer ihre Schriftzeihen? Möglicherweise von 
den Phöniziern, also sie sind auch ihnen überllefert und sie 
mußten daraus ihre nationale Kapitahchrift erft schaffen. 
Wie ist dagegen nun die Antiqua entstanden? — Die 
humanisten, denen ja das llassische LNertum in allem maß⸗ 
nehend war, entwidelten fur ihren Gebrauch aus der schwer⸗ 
aälligen Kapitalschrift die Humanistenminuetel. Nicolaus Janson 
—c 
in Venedig schnitt sodann für den Typendruck die erste reine 
Antiqua und druckte damit 1471 das erste Buch in Lateinschrift. 
Natürlich ruhten die deutschen Humanisten nicht, bis sie diese 
hhre Leibschrift in Deutschland verbreitet hatten. Also haben 
die Leute ganz recht, welche die Antiqua als „Lateinschrift“ be— 
eichnen. Sie hat auf den Namen der ältesten deutschen 
Schrift auch nicht den geringsten Anspruch. 
Voöllig verkehrt ist es auch, die Fraktur als eine „Ver—⸗ 
fallschrift“ anzusprechen, in welchen Irrtum leider auch Jacob 
Grimm verfiel. Dieser große Gelehrte kann ja auch aul 
anderen Gebieten heute nicht mehr unbedingt als Autorität 
Jelten, also warum gerade hier, wo sein Irrtum sich aul 
mangelhafte Kenntnis der geschichtlichen Vorgänge gründet. 
Die irrigen Ansichten über die Fraktur werden auch dadurch 
hervorgerufen, daß man sie immer mit der Gotisch, der mittel- 
alterlichen Gelehrtenschrift, verwechselt. Auch diese ist übri— 
gens in Deutschland zuerst als Drudschrift verwandt worden, 
und zwar von Gutenberg. 
Die Feinde der Fraktur behaupten weiter, das Erlernen 
weier Schriften wäre eine unnötige Belastung der Schullinder. 
Wenn die Schüler in Deutschland durch nichts mehr belastet 
würden, so könnten sie sehr gläcllich sein. Ich habe noch 
ꝛeinen Menschen von durchschnittlicher Intelligenz kennen ge- 
lernt, der über diese Beschwerung seiner ersten Schuljahre ge— 
klagt hätte. Wenn diese Behauptung irgendwie stichhaltig 
wäre, so müßte sich das doch am Analphabetenbefund er⸗ 
weisen. Tatsache ist aber, daß Deutschland von allen Kultur— 
ändern den niedrigsten Analphabetenprozentsatz hat, trotzdem 
dem es Millionen Staatsbürger zählt. Es übertrifft die fremd⸗ 
prachigen so boch kultivierten Staaten wie Dänemark und 
idere, welche vollkommen einsprachig sind. Also gar so 
chlimm kann das mit der Belastung doch nicht sein! 
(Schluß folgt.)
	        
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