Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

An einer derartigen von dem oben erwähnten Ver—⸗ 
ein bereits geführten Lohnstatistik der Unternehmer, die zum 
erstenmal im Jahre 1908 erschien, nehmen schon jetzt 59 große 
Firmen, zur Hauptsache aus dem rheinischewestfälischen Industrie— 
gebiet teil, die Angaben über etwa 60 000 Arbeiter einliefern. 
Die Ergebnisse derselben sind allerdings bisher noch nicht der 
Oeffentlichkeit übergeben worden. Dagegen ist kürzlich ein 
neuer Fragebog en für eine allgemeine Lohn«- 
statistik Aufgestellt worden, auf dem die Anzahl der 
Arbeiter, die Gesamtzahl der Arbeitstage und der Gesamtver— 
dienst anzugeben ist. Dieser Fragebogen liegt augenblicklich 
zum erstenmal einer Erhebung zugrunde. Trotz sorgsamer Vor⸗ 
arbeiten haben sich hierbei jedoch zahlreiche unerwartete Schwie⸗ 
rigkeiten eingestellt. Aber bei dem festen Willen der Unter⸗ 
nehmer. etwas Brauchbares zu schaffen, werden sicherlich diese 
Schwierigkeiten zu überwinden und praktische Ergebnisse zu 
erzielen sein. 
Inland und Ausland. 
Deutsches Rolch. 
—pr.— Eine Reichsstagsersatzwahl im Kreise Gießen 
ist durch den Tod des antisemitischen Abg. Köhler notwendig 
geworden. Seit 1890 mit Ausnahme der Jahre 1903,06 anti⸗ 
semitisch vertreten, gehört der Gießener Wahlkreis trotzdem 
nicht zum sicheren Besitzstand der Antisemiten: sie mußten stets 
in der Stichwahl um das Mandat kämpfen und sind bei der 
Hauptwahl von 1903 von den Nationalliberalen aus der 
Stichwahl verdrängt worden. Auch bei den Blodwahlen kam 
die nationalliberale Stimmenzahl der antisemitischen ziemlich 
nahe, inden sie mit 7784 nur um etwas über 505 hinter 
der antisemitischen mit 9017 zurüdblieb. Für den bevorstehen⸗ 
den Wahlkampf kommt es den Nationalliberalen zustatten, 
daß der Abg. Köhler für seine Person eine außerordentliche Be— 
liebtheit genoß. In dieser Beziehung werden die Antisemiten 
vor einer schwer ausfüllbaren Lücke stehen. Die Sozialdemo—⸗ 
kratie des Kreises nimmt eine starke Stellung ein. Sie ist 
zwar erst anfangs der neunziger Jahre mit einer ins Gewicht 
fallenden Anhängerschaft hervorgetreten, brachte aber im Jahre 
1903 bereits 36,3 90 aller Stimmen auf und vermochte selbst 
bei den Blockwahlen von 1907 trotz eines prozentualen Stim⸗ 
menrückganges die Zahl ihrer Anhänger um beinahe 400 zu 
steigern. Unter den obwaltenden Verhältnissen muß jetzt mit 
einem weiteren Anwachsen der Sozialdemokratie des Kreises 
gerechnet werden. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dafß 
die Antisemiten wie im Jahre 1903 aus der Stichwahl aus 
scheiden. — Das Berl. Tagebl. beeilt sich auch für die Gießenen 
Reichstagswahl mit der üblichen Empfehlung liberaler Zer— 
splitterungstaktik. Die Aussicht, daß in Gießen ein „agrarischer“ 
Nationalliberaler, der Professor für Landwirischaftslehre an der 
Universität Gießen Dr. Gisevius, aufgestellt werden wird, ist 
dem B. T. so unerträglich, daß es der Fortschrittlichen Volks 
partei zur Aufstellung einer eigenen Kandidatur rät, „um zu 
verhindern, daß das Mandat scheießlich doch noch entweder 
dem Antisemitismus oder der Sozialdemokratie zufällt“. Bei 
diesem Ratschlage hat das B. TJ. aber die Wahlgeschichte 
des Gießener Kreises vollständig außer acht gelassen. Ein ein⸗ 
ziges Mal ist in diesem ein Deutsch⸗Freisinniger gewählt wor⸗ 
den, nämlich im Jahre 1890; seither aber ging es mit dem 
Linksliberalismus im Gießener Kreise st än dig 
bergab. Schon die Nachwahl von 1800 brachte gegen die 
Hauptwahl einen Rückgang der freisinnigen Stimmen von 5905 
auf 4715. Bei der Hauptwahl von 1893 wurden nur 1883 
bei der Nachwahl von 1896 nur 21209 freisinnige Stimmen 
abgegeben. Seitdem ist im Gießener Kreise — die Zahlen für 
die Rachwahl von 1906 liegen uns nicht vor — eine freisinnige 
Kandidatur nicht mehr aufgesteilt worden. Vom liberaler 
Gesamtstandpunkte aus erscheint diese Zurũchaltung des Links 
liberalismus als die allein richtige Taktit. Denn der Wahl 
freis Gießen ist überwiegend ländlich. Kein Unbefangener wird 
bestreiten, daß unter solchen Verhältnissen ein landwirtschafts 
freundlicher Nationalliberaler unter der kleinbäuerlichen, von 
antisemitischen Agitatoren bearbeiteten Wählerschaft ungleich 
bessere Aussichten hat, als ein Volksparteiler. Darüber darf 
sich die Volkspartei trotz ihres Etfolges von Labiau⸗Wehlau 
nicht täuschen. Denn das ausgesprochene Ostelbiertum, das in 
Labiau-Wehlau der volksparteilichen Agitation zustatten kam, 
fehlt im Hessenland. Die Aufsteilung einer volksparteilichen 
Sonderkandidatur würde daher in Gießen mit höchster Wahr⸗ 
scheinlichkeit gerade das herbeiführen, was das B. T. ver— 
mieden zu sehen wünscht: einen Sieg des Antisemitismus oder 
der Sozialdemokratie. 
er — Wachst anser Auczenhander? Die Frage erscheint 
fast müßig. ist aber doch in neuer Zeit wiederholt auf⸗ 
geworfen und verschieden beantwortet worden. Sie wird 
auch in den Kämpfen der nächsten Jahre um Erneuerung 
der Handelsverträge eine Rolle spielen. Die Behauptung 
eines Wachsens unseres Auzenhandels ist für die meisten ein 
Axiom. Die riesigen Zahlen der Handelsltatistik werden der 
bescheidenen Ein- und Ausfuhr früherer Zeit gegenüber⸗ 
gestellt. Es wird nachgewiesen, daß nicht nur absolut, son⸗ 
hdern auch im Verhältnis zur Volkszahl der Anteil Deutsch⸗ 
sands am Export und Import wächst. Und es wird daraus 
eine immer engere Verflechtung unserer Volkswirtschaft mi 
dem Weltmarkte gefolgert. Diese Behauptung hat Prof— 
ZSombart vor einigen Jahren angegriffen, und nachzuweisen 
versucht, daß die deutsche Volkswirtschaft heute weniger Be⸗ 
iehungen zu fremden Staaten hat, als vor hundert Jahren 
Et setzt dazu die Außenhandelsstatistik in Vergleich zur Pro⸗ 
duktionsstatistik. Und es scheint richtig zu sein, daß von 
der gewerblichen Produktion im engeren Sinne, d. h. von 
der durch die Statistik erfaßten Erwerbsarbeit, am Beginne 
des 19. Jahrhunderts, ein größerer Prozentsatz mit dem Aus— 
lande ausgetauscht wurde, als am Beginne des 20. Jahrhun⸗ 
derts. Aber dieser Vergleichsmaßstab ist ebenso falsch wie 
der angegriffene. Der richtige Maßstab ergibt sich erst, wenn 
man den Außenhandel in Vergleich zu der gesamten Wirt⸗ 
schaftstätigkeit und nicht zur beruflichen Tätigkeit des Volkes 
setzt. Und dann wird das Verhältnis sich wieder umkehren, 
Sombart Unrecht haben. Die von ihm aufgezeigte rela⸗ 
tine Verminderung des Außenhandels beruht nur darauf, 
daß im letzten Jahrhundert eine ungeheure Fülle von ge⸗ 
werblicher Produktion neu in die Statistik eingetreten ist, die 
auch früher schon da war, aber nicht mitgezählt ist, weil 
sie im Haufe und fuür das Haus geleistet wurde. Erst 
wenn wir neben der beruflichen auch die hauswirtschaftliche 
Gewerbetätigkeit berüchsichtigen, können wir sagen, ob die Ab⸗ 
hängigkeit unserer Volkswirtschaft vom Weltmarkte gröher 
oder geringer geworden ist. 
opt.- Partei uud Gewertschaft. Die Soziale Praxis stellt 
Nehrere Auslassuingen von Gewerkschaftsorganen gegensiber den 
Angriffen zusammen, die vom Vorwärts wegen der Zusammen 
etzung des Zentralschiedsgerichtes im Bauge— 
verbe auf die Regierung gemacht worden sind. Mit gesuchter 
hefligkeit hat nämlich der Vorwärts an der vom Staatssekre— 
är des Innern vorgenommenen Auswahl der Unparteiischen 
Kritik geübt. Das sozialdemokratische Zentralorgan behandelte 
wei davon, den Gewerberichter Wölbling und den Münchenen 
Dtayer, als ausgesprochene „Arbeiterfeinde'. Das Organ de—s 
ozialdemokratische Maurerverbandes weist diese Dar— 
tellung als „eine einzige Verzerrung der wirklichen Vorgänge“ 
auf das entschiedenste zurück und betont das Interesse der ganzen 
Arbeiterbewegung daran, „solche falsche Staatsaktionen zu ver— 
neiden.“ — Auch das Organ des sozialdemokratischen Zim⸗ 
noererverbandes empfiehlt an Stelle der „Feurio“- 
hufe besonnenes Abwarten, und ebenso wendet sich das Blat“ 
es Holzarbeiterverbandes gegen die „voreilige Kri 
ik“ des Vorwärts. Das gewerkschaftliche Zentral— 
drgan aber stellt sich ausdrücklich auf den Stand 
»unkt der Gewerkschaftsblätter und empfiehlt der 
ßarteipresse, über innere Angelegenheiten der Gewerkschaftem 
ichts zu veröffentlichen, bevor sie sich an zuständiger Stelle 
iusreichend u nterrichtet habe. Solche Zurechtweisungen werden 
von derParteipresse gewöhnlich stillschweigend eingesteckt, jedoch 
hei der nächsten Gelegenheit in den Wind geschlagen. 
Neueste Nachrichten und Telegramme. 
Berliun, 12. Jan. Das Komite der Carnegie-Stiftung be— 
chloß, die Einweihung des Friedenspalastes im Haag 
erst 1913 stattfinden zu lassen, da man die Feier nach Möglich 
eit mit der Errichtung anderer internationaler Institute will zu⸗ 
usammenfallen lassen, wie z. B. mit der Errichtung einer inter⸗ 
iationalen Völkerrecht⸗Schule. 
Berlin, 12. Jan. Ein Luftschiff-Hafen für Groß— 
Berlin soll in Wildpark bei Notsdam hergerichtet werden, 
rachdem die geheim gepflogenen Unterhandlungen zwischen Pots— 
zam und der Zeppelin-Lufischiffbau⸗Gesellschaft zum Abschluf 
zelangt sind. Danach stellt die Stadt Potsdam den Platz zur 
Verfügung und begnügt sich mit einer niedrigen Verzinsung. Mit 
den Arbeiten wird wahrscheinlich schon in der nächsten Zeit be— 
gonnen werden. 
Küöln, 12. Jan. In der Angelegenheit des Barons de 
Mathies richtete Papst Pius X. ein Schreiben an den 
König von Sachsen, in dem er seinem Bedauern über die Be— 
chimpfuna des Königs durch den Baron Ausdruck verleiht. 
Baron Mathies habe sich schriftiich bein Prinzen Max von 
Zochsen entschuldigt, Bischof Tr. Schäfer habe unlängst auf 
ieses Schreiben hingedeutet. Es hieße dem Baron de Mathies 
uviel Bedeutung beilegen, wenn sich das päpftliche Staatssekre 
ariat mit der Sache beschäftigte. Nunmehr sei das päpstliche 
Majordomat beauftragt, den Geheimkämmerer de Mathies zu 
iner Entschuldigung zu zwingen. 
— We Mietz, 12. Jan. Der Vorsitzende des Vereins 
Sportive wurde heute mittag verhaftet. 
Durch Beschluß des Bezirkspräsidenten von Lothringen 
wurde der Verein Lorrain Sportive aufgelöst. 
Mit. Metz, 12. Jan. Die Verhaftung des Vorsitzenden 
des Vereins Lorraine Sportive, des Kaufmanns Samain, er— 
olgte auf Grund des 8 123 Abs. 3 des Strafgesetzbuches 
Hausfriedensbruch in Gemeinschaft mit anderen) und des 
3 110 CAufreizung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt). 
Wet. Paris, 12. Jan. Der Senat wählte den Präsi— 
denten Dubost mit 228 von 247 Stimmen wieder. 
W. Lifsabon, 12. Jan. Die Angestellten der Dourobahr 
owie der Povoa⸗s und Guimaraesitrecke schlossen sich nicht 
zem Eisenbahnerausstand an. Dagegen sind die Metallarbeiter 
Penfalls ausständig. Die ganze Garnison Lissabon ist 
n den Kalernen bereitgestellt. 
Die Siadt hat wieder ihren gewöhnlichen Anblick; die 
däden sind sämtlich geöffnet. Der Minister des Innern zog 
ein Rücktrittsgesuch zurück und legte ein abgeändertes Ruhe— 
gesetz vor, das bis zur konstituierenden Versammlung in Kraft 
ein wird. 
Stodhohin, 12. Jan. Wie jetzt bekannt wird, hat König 
5ustav auf der Jagd im Park des Lustschlosses Drottningholm 
inen Unfall gehabt. Er stürzte bei der Verfolgung eines 
Wildes über eine Baumwurzel und schlug dabei so heftig gegen 
einen Baum, daß er eine ziemlich erhebliche Verletzung an 
der Seite davontrug. Der König ist gezwungen, für einige 
Tage das Bett zu hüten. 
Wt. Peschawar, 12. Jan. Der Kronprins wohnte heute 
den sehr interessanten Manövern der englischen Grenztruppen 
bei, die sich am Eingang des Khaibarpasses gegen die aus 
den Betgen eindringenden Feinde verieidigten. 
Wt. Santiago de Chile, 12. Jan. Beute ist folgendes 
reue Kabinett gebildet worden: Rafael Orrego: Inne⸗ 
ees, Enrique Rodriguez: Auswärtiges, Anibal Metelier: Justiz 
und Unterricht, Robert Sanchez: Finanzen, Ramon Leon Luco: 
Krieg und Marine, Javier, Javier Gangarilles: Oeffentliche 
Arbeiten 
zZum Urteil im Moabiter Prozeß. 
We Berlin, 12. Jan. Die Nordd. Allg. Z3tg. sagt über 
as Urteil der Strafkammer im Moabiter Prozeß: In der 
ozialdemokratischen Presse und in einigen liberalen Blattern 
wird der Versuch gemacht, einen Gegensatz zwischen dem Urteil 
ind den Darlegungen zu konstruieren, die der Reichskanz- 
er über die Moabiter Vorgänge im Reichstag gemacht hat. 
wWir weisen darauf hin, daß der Reichskanzler I 
Vort mit den Straftaten vefaßt hat, die den Gegenstand 
es Verfahrens bildeten. Er lehnte es vielmehr ausdrücklich 
wb, sich darüber zu üußern, auch ließ er offen, ob polizeiliche 
Mißgriffe vorgekommen seien. Wohl aber hat er dargelegt, 
uis welcher Stimmung heraus die Krawalle entstanden und 
pie sie nicht zu erklären sind ohne die fortgesetzte Hez⸗ 
ätigkeit der sozialdemokratischen Presse. Ohne diese 
Zetzarbeit wäre es unmöglich gewesen, daß auch anständige Ar—⸗ 
eiter Moabits, wie das Urteil ausführt, sich auf die Seite 
es Janhagels stellten. Natürlich hat der Reichskanzler nicht 
zehauptet, daß die sozialdemokratische Partei die Krawalle 
ingestiftet hat. Es liegt auf der Hand, daß die Ausschreitungen 
der Parteileitung für ihre gegenwärtigen politischen Zwecke 
jur erwünscht sein konnten, weil sie auf die bürger⸗ 
ichen Wähler lediglich eine abstoßende Wirkung ausüben 
nußten. Im Gegensatz zu der Auffassung jener Blätter be— 
zaupten wir, daß die Ergebnisse des Prozesses und das Urteil 
eeignet sind, die Anschauungen des Reichskanzlers über das 
Hesamtbild der Moabiter Vorgänge zu bekräftigen. Das Ge— 
icht hat sowohl die Janhageltheorie wie die Provokations- 
hese, die don der Sozialdemokratie aufgestellt war, verwor⸗ 
en, genau so, wie der Reichskanzler es getan hat. Die Urten 
begründung verbreitet über den Ursprung und das Gesam— 
bild der Krawalle soviel Klarheit, daß keine dialektischen Künn 
imstande sind, die Darlegungen des Reichskanzlers über p 
moralische Mitschuld zu enffräften 
Eine sensationelle verhaftung. 
We Sannover, 12. Jan. Dem Hannoverschen Courie 
ufolge wurde in der Nacht zum 11. Januar in Haste b 
Wunstorf der Bahnarbeiter Fischer verhaftet, der nae 
einem eigenen Geständnis den Rittmeister von Krosig 
im 22. Januar 1901 in Gumbinnen erschohß. Gewissensbis 
rieben Fischer dazu, dem Schachtmeister und dem Kaninenwi— 
elegentlich eines Gesprächs über militärische Verhältnissenz 
agen: „Der Schuft, der Krosigk mußte sterben, er ist dure 
einen Schuß aus meinem Karabiner gestürzt.“ Fischer wurt 
heute früh dem Amtsgericht Rodenberg zugeführt. 
.Wie das Amtsgericht Rodenberg auf Anfrage mitteilt 
hat Fischer bei seiner heutigen Vernehmung die Selbst 
bezichtigung zurückgenommen und erklärt, daß« 
das Eingeständnis im Dilirium gemacht habe. Ein Geständ 
nis vor dem Untersuchungsrichter hat Fischer nicht abgeleg 
Fischer wird trotzdem in Haft bleiben. Das Amtsgericht Re— 
denberg hat bereits in Gumbinnen entsprechend angefraat 
Wt. Bremerhaven, 12. Jan. Der heute abend hier eingelon 
nene oldenburgische Lotsenschoner „Peter“ brachte drei Mann de 
Besatzung des Hamburger Dampfers Marie Ruß!“ ein. De 
Dampfer ist heute früh in der Nähe von Norderney-Feuerschiff i 
olge Ueberschießens der Ladung gesunken. 12 Mann der B— 
atzung sind ertr unken. Die übrigen drei Leute wurden von de 
Schoner „Peter“, welcher bei stürmischer See ein Boot aussetzte 
rettet. 
We Ftwankfurt a. Vi. 12. Jan. Die Frankf. Its. meldet 
Dig Familie Richard Wagners entschloß sich, die Lebens 
erinnerungen Wagners zu veröffentlichen. Das Wer 
erscheint im Mai und umfsaßt vier Bände von 1158 Seite 
mit einem Vorwort Wagners. 
W“ Lüttich, 12. Jan. Heute mittag fand eine groß 
Kundgebung von etwa 40 000 ausständigen Berg 
arbeitern statt, die mit ihren Frauen und Kindern au 
den Ortschaften des Kohlenreviers herbeigeströmt waren und 
rich vor dem Volkshause versammelten, wo einige Deputiert 
Ansprachen hielten. Die Kundgebung ist friedlich verlaufen 
We. Paris, 12. Jan. Aus Brest, Cherbourg und Dün 
kirchen werden heftige Stürme gemeldet Eine Anzaf 
Schiffe soll sich in Gefahr befinden. 
W* Brest, 12. Jan. Bei heftigem Sturm strander 
der Torpedobootszerstörer „Fauconneou“ an der Küste vo 
Aber⸗Vrach. Die Lage ist nicht beunruhigend. 
We London, 12. Jan. Nach einer Lloydmeldung au— 
Ddeal ist der Schoner „Flores“, von Hamburg nach 
Vtaceio (Brasilien), bei Walmer gestrandet. Die gesemte 
Mannschaft wurde durch den Raketenapparat gerettet. Es 
herrscht hoher Seegang. Der Schoner wird wahrscheinlis 
ↄollständig wrack. 
Buenos Aires, 12. Jan. Bei der Pulver-Explo 
sion in der Feuerwerksfabrik bei San Martin wurde do 
danze Gebaude zerstört und 8 benachbarte Häilser scher b. 
schädigt. 35 Italiener wurden unter den Trümmern begta 
ben. 9 Leichen, darunter 3 Frauen, wurden unter den Trüm 
mer hervorgezogen. 
Deutscher Reichetag. 
W. Kerlin, 12. Januar 
Am Bundesratstisch: Dr. Lisco. 
Auf der Tagesordnung steht die zweite Lesung des Gesetzent 
purfes betr. ARenderung des Strafgesetzbuches. Di 
Vorlage sieht unter anderem eine Verschärfung der Bestrafun— 
vegen Haͤusfriedensbruchs, Beletdiaung, Tierquälerei und Nah— 
ungsmittelfälschung vor. Die Kommission beantragt, einer 
Paragraphen einzufügen, der die Ausnutzung minderjähriger Pet 
sonen zum Betteln, zu gewinnsüchtigen oder unsittlichen Zwecke 
unter Strafe stellen will, ferner ꝛeine Bestimmung zur schärfer; 
Bestrafung von Betrug und Täusfhung. 
Abg. Dr. v. Dziembowaki⸗Pomian (Pole) befürwortet eine. 
Antrag seiner Fraktion, in dem verlangt wird, daß Paragrap— 
130 des Strafgesetzbuches Rahin geändert wird, daß Auf 
zeizung zu Gewalttätigkeiten verschiedenen Bevölkerungsklasse. 
zegenüber mit Geldstrafe bis zu 600 Muoder mit Gefängni 
zis zu 2 Jahren bestraft wird, sofern die Wirkung der Auf 
reizung in naher Zukunft liegt. Das Reichsgericht hat da 
zegen dahin entschieden, daß auch solche Straffälle getroffe; 
werden sollen, deren Wirkung in ferner Zuktunft liegt. 
Berichterstatter Dr. Heckscher: Ich bitte namens der Kon 
mission um Ablehnung dieses Antrages. Bei der künftigen al 
gemeinen Reform des Strafrechts wird diese Anregung weit⸗ 
—A— 
Staatssekretär Dr. Lisco: Durch diese Vorlage sollen nu 
schreiende Mihstände beseitigt werden. Alle Momente aber solle 
hermieden werden, die politische oder religiöse Gegensätze ausz 
ösen geneigt sind. 
Abg. Stadthagen (Soz.): Wenn irgendwo, so bestehe 
beim Paragraphen 130 schreiende Mihlstände, unter denen alle 
Rings nur die Sozialdemokraten und VPolen zu leiden haben 
Abg. Dr. Wagner (kons.!: Wenn wir davon absehen 
die Unterwühlung der Staatsautorität unter Strafe zu stellen 
so haben wir uns davon leiten lassen, daß wir jetz 
rur die allerwichtigsten Aenderungen vornehmen wollen. 
Abg. Dr. v. Tziembowsti (Pole): Wir wollen die Aui 
eizung zu Gewalttätigkeiten keineswegs straffrei lassen. In de 
egenwärtigen Zustande liegt aber eine große Ungerechtigke 
Der Antrag wird abgelehnt. Die Bestimmungen über Haus 
riedensbruch und Freiheitsheraubung werden angenomnien. E 
elgen die über Tierquälerei. 
Abg. Gröber (Z3tr.): Nach der Vorlage soll Tierquäler 
ils Vergehen mit Gefängnis beuraft werden. Die Kommissie 
ieht sie als Uebertretung an und läßt auch Haftstrafen 3 
diesen Beschluß blegrüßen wir. Ein Verbot des Schächten 
päre ein Gewissenszwang, dem man aus Grundsätzen religibĩe 
Tuldung nicht zustimmen kann. 
Abg. Graef-Weimar (wirtsch. Vog.): Wir sind stets se 
in allgemeines Schächtverbot in ganz Deutschland eingetrete! 
Die Frage ist keine religiöse Fuage, sondern eine solche de 
ffentlichen Humanität. Nach dem bisherigen Recht war de 
achlen keine Tierguälerei Tatsöchtich ist es aber eine solc 
die landesgesetzlichen Verbote des Schächtens aufzuheben, hieh 
in die Selbstverwaltung der Kommunen eingreifen 
Staatssekretär v. Lisco: Ich warne dringend, die E· 
rage in diesen Umfange hier hereinuziene
	        
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