Die Garde sItirbt, aber ergibt sich nicht.
Dieser Tage wurde in dem Artikel „Die Garde stirbt, aber er—
gibt sich nicht“ die französische Darstellung mitgeteilt, wonach in der
Echlacht von Waterloo der französische General Cambronne auf eine
an ihn gerichtete Aufforderung zur Uebergabe die obigen Worte zur
Antwort gegeben haben solle. Auch ist am Schlusse dieses Artikels
die Meinung ausgesprochen, daß diese Worte doch wohl gesallen seien.
Demgegenüber ist auf die historisch und aktenmäßig festgestellte Tat—
sache hinzuweisen, daß der General Cambronne in der Schlacht von
Waterloo durch den Oberst Hugh Halkett von der englisch-deutschen
Legion unmittelbar vor der Front seiner Soldaten ergriffen und ge—
jangen genommen ist. Hugh Halkett war der spätere hochangefehene
Beneral der Infanterie Halkett der haunoverschen Armee, noch im
Dienste unter dem König Georg V. Jedermann im Lande kannte
ihn, und namentlich seine Entführung des Generals Cambronne
war um so mehr Gegenstand der Erörterung, als von Frankreich aus
durch Schriften und Bilder eine andere Darstellung verbreitet wurde
Nach Hallketis eigener Erzählung, die durch damals noch lebende«
Außenzeugen bestätigt wurde, gitig dieser Vorgang folgendermaßen
vor sich: In der Schlacht von Waterloo besehligte der Oberst Huͤgh
Hallett eine Brigade von vier jung gebildeten hannoverschen Land-
vehrbataillonen, darunter das Landwehrbataillon Osnabrück. Diese
Brigade stand am Ansange der Schlacht auf dem rechten Flügel in
Reserve und kam erst gegen Abend ins Gefecht, benahm sich dann sehr
tapfer, hatte aber auch aroße Verluste. Bei dem um etwa 8 Uhr von
Wellington besohlenen allgemeinen Vormarsch traf das Landwehr—
bataillon Osnabrück an dessen Spitze sich der Oberst Halkett befand,
auf einige noch fest und geschlossen stehende Bataillone der alten
französischen Kaisergarde und sah vor einem von ihnen einen an
seiner Unisorm kenntlichen General zu Fuß sich hin und her be—
wegen. Kaum bemerkte dieses Halkelt, der längst als waghalfiger,
lühner Reiter bekannt ar, als er auch schon in Karriere hinüberjagte,
den französischen General am Kragen faßte und ihn, so schnell es
ging, von seiner Front weg mit sich nabm Von einem der Schüsse, die
die Frauzosen nachseuerten, wurde das Pferd zu Fall gebracht, und
dabei riß sich der Franzose los und lief zurück, Halkett riß aber das
Psferd wieder auf, holte den General wieder ein und brachte ihn. an
einen Fangschnüren gefaßt, zum Bataillon Osnabrück. Dort über⸗
gab er seinen Gefangenen einem Sergeanten des genannten
Bataillons. welchem nun, dem damaligen Gebrauche gemäß, der
General Börse und Uhr übergab. Dieser so Gefangene war der
sfranzösische General Cambronne.
In einer weiteren Zuschrift an das oben genannte Blatt heißt es:
Für die Tatsache, daß die Besangennahme des Generals Cam—
bronne in der Schlacht bei Waterloo so vor sich gegangen ist, wie
ein althannoverscher Ofsizier sie im Hannoverschen Courier schildert.
läßt sich noch ein interessanter Beweis beibringen. Der Sergeant
dem der Gefangene vom General Halkett übergeben wurde hieß aller
dings nicht Führing, sondern es war der spätere Kanzlei-Registrator
F. W. Lyra in Osnabrück, der es wohl verdient, der Vergessenheit
entrissen zu werden. Denn Lyra hat sich als liebevoller Erforscher
und treuer Pfleger der plattdeutschen Sprache einen weit über seine
Vaterstadt hinausgehenden vorzüglichen Ruf erworben und mit den
hervorragendsten deutschen Sprachforschern seiner Zeit in regem
Verkehr gestanden. In seinen-,Plattdeutschen Briefen und Erzäh—
lungen“. herausgegeben von der Rackhorstschen Buchhandlung in
Osnabrück, veröffentlichte nun Lyra 7 2jährigen Jubelfeier der
Schlacht bei Waterloo ein Gedicht, in bem es ußa. heißt:
. Von mancher Heldentat kann diese Walstatt zeugen,
Doch heute mag ich nicht von einer schweigen,
Von der vor allem mir gebührt zu wissen.
Drum würd' es allerdings auch mich verdrießen,
WBenn irgend jemand Zweifel sollte wagen.
Ob so sich »der so die Sache zugetragen.
Die Felsenwand der ruhmbedeckten Helden,
Die alte Kaifergarde, rückte an — mit Ruhm für uns zu melden —
Den letzten Kampf mit sieggewohntem Blute
Zu wagen, und in fühnem Uebermute
Erschien vor ihrer Front der Chef der tapfern Streiler,
Der grimmen, wuteniflammten Bärenhäupter,
Zum Angriff fertig. Da, in Blitzesschnelle,
Faßt unser Brigadier den Waghals auf der Stelle,
Nicht achtend der ihm drohenden Gefahr,
Und übergab ihn mir zu sicherem Verwahr.
Quhn war die Heldentat, ihr gleicht der Feinde Schrecken;
Camarades sauve qui peut! erscholl's an allen Ecken.
Die alte Phalanx floh und nimmer kehrt fie wieder;
Der Nimbus ihres Ruhms, auf ewig sand er nieder.
Und der Gefang'ne war, so wahr die liebe Sonne
Den heut'gen Tag bescheint, der General Cambronne, J
der eben sich vermaß: nous voilà!
La Garde meurt, mais elle ne se rend pas!
Und der mit seltnem Mut den Trotzkopf fing, war eben
der tapfre General Halkett.
Hoch Ihm! Er soll leben!
Aus der zweiten Strophe des Gedichts geht hervor, daß damals,
jor jetzt etwäͤ 70 Sakren schon eine andere Darstellung des Vor—
— n — ——
Rom und Turm als NHusltellungsltädte.
Von Dr. Wilhelm Grüne.
Dies ist Italias Fest- und Jubeljahr, und die Anziehungs⸗
kraft, die das schöne hesperische Land schon seit Jahrtausenden
anf uns ausübt, wird sich heuer, wo Italien zu einer reich⸗
besetzten Tafel von Festlichkeiten und Ausstellungen einlädt, wohl
mit doppelter Kraft fühlbar machen. Sicherlich wird unter dem
Strom von Festgästen keine Nation so zahlreich vertreten sein
wie die deutsche, deren herzliche Glückwünsche bereits in nächster
Frist der Kronprinz des Reiches nach Rom tragen wird. Dort
wurde in diesen Tagen schon die Internationale Kunstausstellung
eröffnet, und nun wird eine Eröffnung der anderen folgen, bis
im Spätfrühling mit der großen Industrie- und Gewerbe-Aus—
itellung zu Turin Italiens Weltausstellung üch vollendet dar—
tellen wird.
Es ist das erstemal, daß eine Weltausstellung auf zwei, eine
Tagfahrt von einander entfernte Städte verteilt wird. In keinem
inderen der großen Kulturländer wäre eine so eigentümliche Or—
ganisation denkbar, aber keines ist auch von einer so scharf aus—
geprägten Doppelnatur wie Italien. Das alte und das neue
Italien sind zwei in einem und demselben Staate vereinigte,
aver sich eben nur berührende, nicht vermengende Kulturkörper,
und es war die innere Logik dieser kulturellen Struktur des
jentigen Italien, die zur Teilung der Weltausstellung nötigte.
Das moderne Italien: Turin war seine geschichtliche Wiege, von
hier aus dräugte es südwärts, bis es zuletzt die ehrwürdige Welt⸗—
hauptstadt, die Hochburg des alten Italien, sich unterwarf. Eine
moderne, eine Maschinen⸗, Gewerbe⸗ und Industrie-Ausstellung
in Romist ein Gedanke, der allenfalls der Familie Buchholz zu⸗
sagen mag, der es gefallen köunte, vormittags das Kolosseum
„abzumachen“ und abends auf dem Runmielplatz der Ansstellung
sich zu amüsieren. Aber eine solche Ausstellung würde ein Fremd⸗
liug in der Ewigen Stadt und Rom selbst würde eine Fremde
darin sein.
Es gibt ein modernes Rom, gewiß, und P. D. Fischer tut
recht, wenn er sich dieses modernen Roms annimmt. Das schlecht
jgepflasterte, übel belenchtete, unsaubere, winklig-düstere Rom der
Papstzeit mag freilich malerischer, interessanter, romantischer ge—
wesen sein, aber wir fangen doch an, den Geschmack au dieser
Romantik zu verlieren, und Licht, Luft, Sauberkeit, Bequenilich⸗
keit als qute und auch schöne Dinge hochzuschätzen. Selbst roman—⸗
tische Scelen möchten wohl die vom modernen Rom geschaffenen
großen Verkehrsstraßen, die Verbindungen in der Stadt und nach
ker Campagiig, die Fortschritte der Reinlichteit und Ordnung
nicht mehr missen, wenn sie auch manchmal mit großen Opfern
(vor allem dem der alten Ludovisi-Gärten) haben begabhlt werden
müssen. Aber was man auch zugunsten des neucn Rom sagen
kann und nmiag, eines bleibt doch wahr: der genius loci wohnt
hier nicht. Das moderne Rom ist bisher kulturell unprodutktiv ge—
blieben; es giht hier keine Industrie, kein Kunstgewerbe; und
die Bau- und Kunstdenkmäler der neuen Stadt sind und bleiben
wie der Justizpalast oder das Viktor⸗Emanuel-Denkmal, bei
großartigen äußeren Allüren innerlich ohnmächtig und episonen—
haft, Roms genius loci: du blickst vom alten Mauerwall am Tor
S. Giovanni hier auf die Lateransbasilika, dort hinaus auf die
Fampagna; du siehst in dem stillen Garten der Malteser auf des
Aventins Höhe die Peterskuppel im Feucrmeer des Abendrots
schwimmen: du träumst im Schatten der Cestiuns-Wuramide oder
ranges in franzöftscher Beleuchtung verbreitet gewesen sein muß.
Zyra fügt hinzu: „Die Uhr nebst daran hängendem Petschaft dieses
lapferen Pyramidenhelden, beide mit dem ihm von Kaiser Napolcon
berliehenen Wappen — ein aufrechtstehender Lömwe, umgeben von
neun brennenden Granaten, in blauem Felde: im Ehrenschild vecht«
ein Ehrendegen; Schilddecke eine Krone; Einfassung, Dekoration der
Ehrenlegion — versehen, sind mein wohlerworbenes Eigentum, in
welchem ich eine der intercssantesten Reliquien des großen Schlacht—
tages von Waterloo zu besitzen glaube.“ Vielleicht findet die?
Reliquie fich in der Familie Lyra noch vor, und es würde eine danb
hare Ausgabe für die Verwaltung des Vaterländischen Museums sein
nach ihr zu sorschen und sie, wenn möglich, für das Museum zu er—
verben. Der berühmteste Vertreter des Namens Lyra, der Komponis.
s Liedes: „Der Mai ist gekommen“ und mancher anderen unper—
zessenen Lieder, hat sein Leben als Pastor im benachbarten Gehrden
eschlossen; in seiner Vaterstadt Osnabrück wurde ihm ein würdiges
Denkmal errichtet. Ob er ein Sohn des Veteranen von Waterloo
war, vermag ich nicht zu sagen
Götzendaãmmerung.
Paris,
Unbrirrt durch das Pfeifen und Heulen seiner akademischen
Zuhörerschaft hat dieser Tage der italienische Stürmer und Drän—
ger Marinetti versucht, den Bewohnern des lateinischen Viertels
die frohe Botschaft des Futurismus zu bringen, nachdem er — der
Lrophet gilt nichts in seinem Vaterlande — in der eigenen Hei—
nat für die Verkündung seiner künstlerischen Heilswahrheiten
nichts als faule Eier, überreifes Obst und eine Freiheitsstrafe
vegen Verübung groben Unfugs geerntet hatte. Nuch die stu—
dentische Jugend der Sorbonne scheint offenbar noch nicht reif für
den Mann aus dem Apifelsinenlande, allein er müßte kein echter
Lrophet sein, wenn ihn solche Verkennung seiner hohen Ficle
yon seiner Mission abschrecken würde. Im Gegenteil — je mehr
Spektakel, desto besser. Ist der Skandal nicht das trefflichfte Mit.
el, zur Berühmtheit zu gelangen? Suchen nicht die dramatischen
Autoren von heute vor allem durch ihn die Aufmerksamkeit des
Publikums auf ihre Person und ihre Werke zu lenken, sei's durch
Leranstaltung von Zweikömpfen oder Boxerschlachten und der—
gleichen? Ist Henry Bernstein nicht ein beneidenswerter Mann?
Aber all diese Leute sind im Grunde Anfänger, sie stecken in der
Vergangenheit noch mitten drin. Erst bei Marinetti und seiner
zchule der Futuristen wird der Grundsatz: „Die Kunst ist der
dandel“ aur künstlerischen Vollendung, zum System ausgebildet,
rst hier erreicht das literarische Anxeißertum seine höchste Kunst⸗
orm und awingt, als eine charakteristische Erscheinung des öffent⸗
iichen Lebens den Wanderer, stillzustehen und ihm eine Minute
kritischer Betrachtung zu widmen.
Als Landsmann des großen Annunaio verfügt der Apostel
der Zukunftsmenschheit über einen unermeßlichen Schatz tönender
und rasselnder Worte, um die ihn mancher Kammerredner benei—
den dürfte. Wie prachtvoll klinat der Aufruf, den der Verkünder
der neuen philosophisch-politisch-literarischen Lehre an seine
Blaubensbrüder im Futurismus, die garoßen Brandstifter⸗
poeten“, in der Vorrede seines Programmwerkes „Mafarha, der
Futurist“ richtet; „Frei ist der verheißene Brandroman, vielstim⸗
mig wie eure Seelen. Ein lyrischer Gesang, eine Epopö, ein
Abenteuer-Roman, ein Drama! Ich bin der einzige, der fähig
var, solch Meisterwerk zu schreiben, und durch meine Hände wird
s untergehen, wenn nicht der wachsende Glanz der Welt den sei—
ien erreicht und es überflüssig agemacht haben wird. Was die Be—⸗
vohner von Podagra und Paralysien auch sagen mögen, es flat—
kert im Winde des Ruhms gleich einer Standarte der Unsterblich—
eit auf dem höchsten Gipfel des menschlichen Denkens. Und mein
Schöpferstolz ist befriedigt. Seht, wie es gleich einer wohlge—
rüllten Granate über den krachenden Schädeln unserer Keitge—
nossen platzt — und tanzet, tanzet den Kriegerreigen, watend in
den Pfützen ihrer Dummheit, ohne auf ihr einförmiges Geplät⸗
scher zu achten!“ — Das künstlerische Programm des bescheidenen
ungen Mannes lautet in knapper Fassung: „Platz da, Vergän—⸗
genheit! Marinetti kommt!“ Und daß es ihm Ernst damit ist,
heweist die Forderung, daß alle Kunstwerke friiherer Zeiten be—
eitint werden müssen, um denen der Futuristen Raum au schaffen:;
venn die Anhänger des neuen Bekenntnisses wollen nichts vom
freien Wettbewerb mit den Toten wissen. „Heran ihr wackeren
Brandstifter mit verkohlten Fingern“, heißt es in dem Pro⸗
zramm; „da sind sie! da sind siel Nun werft mir das Feuer in
zie Bibliotheken! Lenkt den Lauf der Kanäle ab und leitet sie in
iie Keller der Museen! Oh — laßt sie flußabwärts schwimmen,
»ie ruhmreichen Gemäldel, Frei, ergreift Hacke und Hämmer, er⸗
chutert die Grundfesten chlehrwürdiger Städte Wann komm
der befreiende Zusammenbruch, das wohltätige Beben der Erde,
das die unmannbaren Raffaels, die arotesken Michelangelos ver⸗
nichtetꝰ Benn werden wir die scheußlichen Laqunen von Vene⸗
or — ⏑ — 5⏑ ee
durchwandelst nach Goethes Rat, indes die Schatten sich schon
senken, St. Peters Hallen — und da tritt er ungerufen zu dir
der Genius der Ewigen Stadt, und steht dir Rede und Auntwort
Jede Ausstellung aber wird unwirksam bleiben, die nich
von dem genius loci erfüllt ist. Riesenmaschinen und Riesenarbeit
in Chicago, Geschmack und Grazie in Paris — in Rom Ver—
gangenheit und Kunst. Nur auf dieser Basis ist Rom als Aus—
stellungsstadt zu denken, und es ist ein wahres Glück, daß die
römischen Ausstellungen des Festjahres dieser Voraussetzunç
Rechnung tragen. Nicht als unorganischer Fremdkörvper wurder
ie der Tiberstadt aufgedrängt, sondern es findet der sentimental«
Reisende (wie man im. 18. Jahrhundert zu sagen pflegte) darin
das Rom wieder, dessen Gestalten und Bilder ihn erfüllen. Isst
ꝛx nachdenklich durch die Rinen des Palatin geschritten, so zeigt
hm die Ausstellung in den schönen, wieder hergestellten Dio—
letian⸗Thermen in einer Fülle von Denkmälern Rom, die Herrin
er antiken Welt, in ihren Beziehungen zu allen Teilen des rö—
nischen Imperiums. Hat er voller Ehrfurcht vor den Schöpfungen
Bramantes, Raffaels, Michclangelos gestanden, so zaubert ihm
die „Retrospektive“ in der Engelsburg, dem alten Imperatoren—
HYrabe und späterer Paupstfestung, das frische Tagesleben jener
länzenden Zeit in auschaulich-reichen Bildern vor das Auge.
And wenn wohl kein Deutscher in Rom es verabsäunit, Goethes
Z3puren nachzugehen, so soll ihm eine eigene kleine Ausstellung
as reizvolle Kapitel der Bezichungen deuticher Künstler und
dichter zu Rom erzählen. So schlingt ihn Rom auch als Aus—
telluugsstadt ganz in den Zauber jener Vergangenheit, die, isl
sie gleich stumm, doch mit wundervollen Zungen redet.
Abber in eine andere Welt tritt, wer Turin besucht. Nörd⸗
ich vom Apennin beginnt das moderne Italien. Wer seine Berge
überschritten hat, ist in der Welt, wo die Zeit Wert hat und wo
man rechnet, wo die Arbeit herrscht und Pünkllichkeit verlaugt
wird, wo der derbe Herr Gegenwart die stille Frau Vergangen—
heit hier mehr, dort weniger höflich, aber immer entschlossen bei—
seite schiebt. Selbst Venedig ist nicht mehr ganz die trauernde La⸗
quuenköninin, wie sie seit langen Jahrzehnten die Dichter geschil.
dert haben: auch dort regt sich jetzt neues Streben, aber Mailand,
Turin, Genua, Bologna sind starke moderne Arbeitsstätten. Das
mächtigste dieser Jentren ist Mailand; indes während hier der
remde, vornehmlich der deutsch-schweizerische Einschlag fühlbar
jervortritt, ist Turin italienischer. Dazu tritt, daß Turin von oer
nodern⸗e italienischen Geschichte gezeichnet ist, während das üppige
Vailand geschichtsloser erscheint. Es ist nur Arbeits- Und Ge—
uufsstadt, aber Piemonts Hauwtstadt hat einen strafferen, militä
isch⸗ puregukratischen Zug. Wir sind im italienischen Preußen.
SZo viel Pünktlichkeit, Genauigkeit, Verläßlichkeit findet man nir—
nends in Italien, und nirgends erscheint der Italiener so sparsam
nit Worten und Gesten, so nüchtern und ernst wie hier.
Und das bekennt auch die Physiognomie Turins. Es ist eine
ernste, regsame, fleißige, saubere Stadt, die nicht lockt und bezau—
zert, wohl aber interessiert und Achtüng cinflößt. Es ist einc
noderne Stadt, aber in itglienischem Gewande. Modern berührt
hre regelmäßige rechtwinklige Straßenanlage à la Friedrichstadt
n Berliut, doch hat diese Anlage eine uralte Geschichte, indem sit
uf, das Römerlager in der Augusta Taurinorum zurückgeht
dessen Wegesystem ist dann in der ganzen Stadt konscquent fort
refiihrt worden; allein in der inneren Stadt sind die Straßer
ourchweg so eng, daß die Sonne selbst im Sommer oft nicht durck
hre hohen Wandungen bis zum Grunde durchdringt. Umso
Röchtiger wirken darum die schönen offenen Vlätze, auf die sich di—
trischen Straßeubabnen Platz zu machen. die in sin ane GEchon
heit verkörpern?“
Was hat der, Futurismus, der in so unehrerbietiger Weist
mit der künstlerischen Hinterlassenschaft unserer Böter umspringt
uns als Ersatz für die verlästerte Vergangenheit zu bieten? Ma
rinetti entdeckt das Ideal der Schönheit in der lebendigen, zu
tunftsschwangeren Gegenwart mit ihrer unerhörten Anspannung
der Kräste, ihren gewaltigen Daseinskämpfen, in der unendlichen
Bielfältigkeit von Formein, Empfindungen, Leidenschaften. Aber
vies gelobte Land der Schönheit haben schon andere vor diesen
feurigen Propheten entdeckt; andere haben vor ihm und mit über
zeugeuderem LAkzent das hohe Lied der Arbeit gesungen, sind in
die Tiefen der Erde, und die heißen Säle der Fabriten, in den
Bauch der Riesendampfer, auf die gewaltigen Dampfrosse, in dit
Gondeln der Luftfahrzeuge gestiegen, um von solcher Fahrt ine
Neuland ungekannte Schätze heimzubringen, aber das Hat sie nich
gehindert, mit aleicher Empfänglichkeit die Schätze, die uns di
Zergangenheit als Erbteil hinterlassen hat, zu geniezen. Reu is
Marxinetti also nur als vandalischer Kerstörer, und dieser Ruhn
jst nicht gerade fein. Aber ist es dem Apostel aus dem Apfel—
sfiuenlande wirklich so Ernst mit seinem Werke der Vernichtung'
Man darf daran zweifeln, wenn man hört, wie er seine Lehrt
uͤnter vier Augen, sern von dem sensationshungrigen Publikum
als eine Form der Notwehr zu rechtfertigen sucht. Und dann wird
man zuletzt auch nicht mehr abstreiten können, daß in der futuristi—
schen Narrheit ein Körnlein gesunder Vernunft steckt. Marinett'
behauptet, daß in seiner Heimat das Vergangene unter seiner
Wucht die Kunst der Gegenwart und Zukunft einfach erftickt. Ita.
lien ist ein großer Friedhof der Kunst, zu dem die Lebenden vie
tätvoll wallen, um ihre Opfergabe vor den Gräbern niederzu—
legen. Für die Kunst der eigenen Zeit fällt nichts ab. Und fün
die Kunftrichter wie für das Vublikum bildet das Vergangene den
einzinen Maßstab für das Seiende und Werdende. Die Jugend
wird zum Gößsendienst gegenüber dem Alten angehalten, zu ewi⸗
ger Nachahmung verdammt Ist's ein Wunder, wenn sie sich in
ffener Revolution gegen das Alte Luft zu machen versucht und
ehör für ihre eigene Sprache verlangt — wenn sie fordert, daß
die Kunst in dem lebendigen Heute wurzele und in ihm ihre neuen
Zdchönheitsidegle fuche? Dazu gehört für Marinetti und seine
zcchule auch, daß das ewige Leitmotiv vergangener Kunst, das
wig Weibliche, von seinem Piedestal herabgestürzt werde. „Weg—
nit dem unaufhörlichen Ehebruch, der falschen Liebessentimenta
ität!“ — Das Weib als animalischer Wert“ soll freundlich bei—
behalten werden, aber der Futurist leugnet die Bedeutung des
weiblichen Gefühlslebens für seine Kunst. — Sie hat höhere, uni—⸗
versalere Aufgaben. Es lohnt nicht, sich mit solchen Nichtigkeiten
zu beschäftigen.
Marinetti hat sich mit seinen Futuristen ins schellenbehängie
Narrengewand nesteckt, um den Zeitgenossen seine Pritsche um die
Ohren zu schlagen und ihnen in lächerlicher Uebertreibung aller—
hand Wahrheiten nicht ins Ohr zu sagen, sondern au brüllen,
zenn — wie er selbst richtig bemerkt — sein Evangelium hätte kein
Echo gefunden, wäre es in diplomatischen Worten verkündet wor—
den. Die öffentliche Meinung muß heute mit Faustschlägen, mit
Trompetenstößen geweckt werden. Hierin befindet der mit dem
Hammer philosophierende Neuerer sich in erfreulicher Ueberein—
immung mit den Camelots du Roi, die bekanntlich mit den näm—
lichen Mitteln das Königtum wieder aufrichten helfen wollten.
Und zu gleicher Ueberzeugung bekennen sich im Grunde auch die
Winzer der Champagne, die Keller verwüsten, Fässer und Flaschen
zerschlagen, um das Publikum auf ihre Wünsche aufmerksam zu
machen; desgleichen die wackeren Eisenbahner, die durch Veran
taltung von Katastrophen das Reisepublikum für ihre Angelegen⸗
heiten zu interessieren suchen; die streikenden Elektriker, die zu
jleichem Zwecke das nächtliche VParis in Finsternis hüllen, die aus⸗
tändigen Bäcker, die Glasscherben in die Morgenschrippen kneten,
kurg, alle Anhänger der neuen Lehre, daß das soziale, künstlexische
und andere Heil nur durch Sabotage z3u erreichen ist. Verrunge⸗
niert muß alles sein!
Armes Publikum, welche Prüfungen stehen dir bei der Viel⸗
seitigkeit deiner „Interessen“ noch bevor! Das futuristische ist von
all den Uebeln wohl noch das geringste, zumal der Bildersturm
des Götzendämmerlings Marinetti gottlöb nur bildlich gemeint
ist. Er wird keine Bibliotheken anzünden, keine Museen unter
Wasser setzen, ex hat es unter der Hand heilia versprochen. Die
Direktoren der Nationalbibliothek des Louvre und des Lurxemboura
können ruhig schlafen.
Dr. Emil Schultz.
— —
A
dunklen Straßen öffnen: der verkehrs- und lärmreiche S. Carlo—
Platz, vor allem aber der Stolz und Mittelpunkt Turius, die
Biazza Castello, einst die Ostpforte des römischen Lagers, heut ein
mponierender Doppelplatz, den zahlreiche öffentliche Gebäude
umgeben, und wo vom frühen Morgen bis zum späten Abend ein
reges Leben den Palazzo Madama umflutet, dessen monumentale
Barockfassade die alte Stadtburg der Savoyer umschließt. An die
Savoher erinnert Turin überall: in Straßennamen, Denk
mälern, Bauten; Berlin ausgenommen kenne ich keine Großstadt
wo die alte Zusammengehörigkeit zwischen Fürstenhaus unbd
städtischem Gemeinwesen sich im Stadtbilde so nachdrücklich aus—
spräche wie in Turin. Obgleich es in der Stadt nicht an würdi—
gen und bedeutenden Bauwerken, an alten Kirchen und Palästen
fehlt, so wird doch ihr Charakter dadurch nicht bestimmt: die
Kunst, das alte mächtige Kulturelement Italiens, tritt hier in den
Hintergrund; sie ist hier nie erdwüchsiges Erzeugnis gewesen, und
es ist nicht zu leunnen, daß der vorherrschende Charakter Turins
der einer gewissen Strenge, ja Düsterkeit ist. Nur ein architekf—
tonisches Motiv der Stadt prägt sich als originell ein; es ist dies
die Sitte, die Straßenzugänge durch portikusartige Bauten abzu—
schließen, unter denen der Wagen- und Fußgängerverkehr in ver—
chiedenen Durchgängen seinen Weg findet. Ein städtebaulich sehr
sückliches und entwicklungsfähiges Motiv, durch dessen Verwen—
zung es in Turin überraschend oft gelungen ist, geschlossene
Straßen- und Platzbilder von plastischer Wirkung zu erzielen.
Und so fühlt fich der, der Turins geschäftige Straßen und
Plätze durchwandert, in einer Welt, die zwar durch tausend Fäden
mit der Vergangenheit verknüpft, aber doch von dem Italien
Roms durch eine geschichtliche Kluft getrennt ist. Hier ist moder⸗
ier Boden, zukunftsschwangerer Boden, und immer neu und ge⸗
valtig flutet frisches modernes Leben vom Mont Cenis, vom
Zimplon und Gotthard herein. Wohl hat diese Stadt ein Anrecht
sarauf, die Völker zu einem Fest moderner Arbeit zu laden.
Schon einmal hat Turin eine große Ausstellung veranstaltet; es
var die Ausstellung für moderne dekorative Kunst im Jahre 1902,
ind ich kann aus eigener Anschauung bezeugen, daß die Stadt
amals das ihr gestellte Problem aufs tüchtiaste gelöst hat. Wer
die zweigeteilte Weltausstellung Italiens aufmerksam studiert,
sem wird sich ein tiefer Einblick in das heutige Italien öffnen.
Wenn aber der Besucher des Lärmes und Getriebes in der Turi—
aer Ausstellung müde ist, dann unternehme er die bequeme Fahrt
zur nahen, hochgelegenen Superga, der alten Gruftkirche des sa⸗
voyischen Fürstenhauses, von deren Höhe der Blick die Alpenkette
in ihrer ganzen maiestätischen Pracht umfaßt. Wie wir eincs
Abends in dies herrliche Panorama versunken waren, gesellte sich
ein freundlicher alter Abbate zu uns, der uns die einzelnen Gipfel
vies und nannte. Dann befragte er uns nach unserer Heimat,
„Ol Germania!“ rief er voller Lebhaftigkeit aus. „Germania!
j grande!“ Und eine Weil blickte er stumm und nachdenklich über
die Alpen hin, als wolle er das Geheimnis dieser jungen neuen
Macht im Norden ergründen. Aber dann wandte er fich schnell
nach Süden, und als er jenseits des Po die Türme Turins, vom
Abendrot vergoldet, aus der grünen reichen Ebene schimmern
sah, leuchteten seine Augen auf; er wandte sich zu uns, wies mit
dem Finger darauf, und seine stumme Gebärde schien au sagen:
auch hier ist Zufunft: auch dies ist „grande“,