Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

Die Garde sItirbt, aber ergibt sich nicht. 
Dieser Tage wurde in dem Artikel „Die Garde stirbt, aber er— 
gibt sich nicht“ die französische Darstellung mitgeteilt, wonach in der 
Echlacht von Waterloo der französische General Cambronne auf eine 
an ihn gerichtete Aufforderung zur Uebergabe die obigen Worte zur 
Antwort gegeben haben solle. Auch ist am Schlusse dieses Artikels 
die Meinung ausgesprochen, daß diese Worte doch wohl gesallen seien. 
Demgegenüber ist auf die historisch und aktenmäßig festgestellte Tat— 
sache hinzuweisen, daß der General Cambronne in der Schlacht von 
Waterloo durch den Oberst Hugh Halkett von der englisch-deutschen 
Legion unmittelbar vor der Front seiner Soldaten ergriffen und ge— 
jangen genommen ist. Hugh Halkett war der spätere hochangefehene 
Beneral der Infanterie Halkett der haunoverschen Armee, noch im 
Dienste unter dem König Georg V. Jedermann im Lande kannte 
ihn, und namentlich seine Entführung des Generals Cambronne 
war um so mehr Gegenstand der Erörterung, als von Frankreich aus 
durch Schriften und Bilder eine andere Darstellung verbreitet wurde 
Nach Hallketis eigener Erzählung, die durch damals noch lebende« 
Außenzeugen bestätigt wurde, gitig dieser Vorgang folgendermaßen 
vor sich: In der Schlacht von Waterloo besehligte der Oberst Huͤgh 
Hallett eine Brigade von vier jung gebildeten hannoverschen Land- 
vehrbataillonen, darunter das Landwehrbataillon Osnabrück. Diese 
Brigade stand am Ansange der Schlacht auf dem rechten Flügel in 
Reserve und kam erst gegen Abend ins Gefecht, benahm sich dann sehr 
tapfer, hatte aber auch aroße Verluste. Bei dem um etwa 8 Uhr von 
Wellington besohlenen allgemeinen Vormarsch traf das Landwehr— 
bataillon Osnabrück an dessen Spitze sich der Oberst Halkett befand, 
auf einige noch fest und geschlossen stehende Bataillone der alten 
französischen Kaisergarde und sah vor einem von ihnen einen an 
seiner Unisorm kenntlichen General zu Fuß sich hin und her be— 
wegen. Kaum bemerkte dieses Halkelt, der längst als waghalfiger, 
lühner Reiter bekannt ar, als er auch schon in Karriere hinüberjagte, 
den französischen General am Kragen faßte und ihn, so schnell es 
ging, von seiner Front weg mit sich nabm Von einem der Schüsse, die 
die Frauzosen nachseuerten, wurde das Pferd zu Fall gebracht, und 
dabei riß sich der Franzose los und lief zurück, Halkett riß aber das 
Psferd wieder auf, holte den General wieder ein und brachte ihn. an 
einen Fangschnüren gefaßt, zum Bataillon Osnabrück. Dort über⸗ 
gab er seinen Gefangenen einem Sergeanten des genannten 
Bataillons. welchem nun, dem damaligen Gebrauche gemäß, der 
General Börse und Uhr übergab. Dieser so Gefangene war der 
sfranzösische General Cambronne. 
In einer weiteren Zuschrift an das oben genannte Blatt heißt es: 
Für die Tatsache, daß die Besangennahme des Generals Cam— 
bronne in der Schlacht bei Waterloo so vor sich gegangen ist, wie 
ein althannoverscher Ofsizier sie im Hannoverschen Courier schildert. 
läßt sich noch ein interessanter Beweis beibringen. Der Sergeant 
dem der Gefangene vom General Halkett übergeben wurde hieß aller 
dings nicht Führing, sondern es war der spätere Kanzlei-Registrator 
F. W. Lyra in Osnabrück, der es wohl verdient, der Vergessenheit 
entrissen zu werden. Denn Lyra hat sich als liebevoller Erforscher 
und treuer Pfleger der plattdeutschen Sprache einen weit über seine 
Vaterstadt hinausgehenden vorzüglichen Ruf erworben und mit den 
hervorragendsten deutschen Sprachforschern seiner Zeit in regem 
Verkehr gestanden. In seinen-,Plattdeutschen Briefen und Erzäh— 
lungen“. herausgegeben von der Rackhorstschen Buchhandlung in 
Osnabrück, veröffentlichte nun Lyra 7 2jährigen Jubelfeier der 
Schlacht bei Waterloo ein Gedicht, in bem es ußa. heißt: 
. Von mancher Heldentat kann diese Walstatt zeugen, 
Doch heute mag ich nicht von einer schweigen, 
Von der vor allem mir gebührt zu wissen. 
Drum würd' es allerdings auch mich verdrießen, 
WBenn irgend jemand Zweifel sollte wagen. 
Ob so sich »der so die Sache zugetragen. 
Die Felsenwand der ruhmbedeckten Helden, 
Die alte Kaifergarde, rückte an — mit Ruhm für uns zu melden — 
Den letzten Kampf mit sieggewohntem Blute 
Zu wagen, und in fühnem Uebermute 
Erschien vor ihrer Front der Chef der tapfern Streiler, 
Der grimmen, wuteniflammten Bärenhäupter, 
Zum Angriff fertig. Da, in Blitzesschnelle, 
Faßt unser Brigadier den Waghals auf der Stelle, 
Nicht achtend der ihm drohenden Gefahr, 
Und übergab ihn mir zu sicherem Verwahr. 
Quhn war die Heldentat, ihr gleicht der Feinde Schrecken; 
Camarades sauve qui peut! erscholl's an allen Ecken. 
Die alte Phalanx floh und nimmer kehrt fie wieder; 
Der Nimbus ihres Ruhms, auf ewig sand er nieder. 
Und der Gefang'ne war, so wahr die liebe Sonne 
Den heut'gen Tag bescheint, der General Cambronne, J 
der eben sich vermaß: nous voilà! 
La Garde meurt, mais elle ne se rend pas! 
Und der mit seltnem Mut den Trotzkopf fing, war eben 
der tapfre General Halkett. 
Hoch Ihm! Er soll leben! 
Aus der zweiten Strophe des Gedichts geht hervor, daß damals, 
jor jetzt etwäͤ 70 Sakren schon eine andere Darstellung des Vor— 
— n — —— 
Rom und Turm als NHusltellungsltädte. 
Von Dr. Wilhelm Grüne. 
Dies ist Italias Fest- und Jubeljahr, und die Anziehungs⸗ 
kraft, die das schöne hesperische Land schon seit Jahrtausenden 
anf uns ausübt, wird sich heuer, wo Italien zu einer reich⸗ 
besetzten Tafel von Festlichkeiten und Ausstellungen einlädt, wohl 
mit doppelter Kraft fühlbar machen. Sicherlich wird unter dem 
Strom von Festgästen keine Nation so zahlreich vertreten sein 
wie die deutsche, deren herzliche Glückwünsche bereits in nächster 
Frist der Kronprinz des Reiches nach Rom tragen wird. Dort 
wurde in diesen Tagen schon die Internationale Kunstausstellung 
eröffnet, und nun wird eine Eröffnung der anderen folgen, bis 
im Spätfrühling mit der großen Industrie- und Gewerbe-Aus— 
itellung zu Turin Italiens Weltausstellung üch vollendet dar— 
tellen wird. 
Es ist das erstemal, daß eine Weltausstellung auf zwei, eine 
Tagfahrt von einander entfernte Städte verteilt wird. In keinem 
inderen der großen Kulturländer wäre eine so eigentümliche Or— 
ganisation denkbar, aber keines ist auch von einer so scharf aus— 
geprägten Doppelnatur wie Italien. Das alte und das neue 
Italien sind zwei in einem und demselben Staate vereinigte, 
aver sich eben nur berührende, nicht vermengende Kulturkörper, 
und es war die innere Logik dieser kulturellen Struktur des 
jentigen Italien, die zur Teilung der Weltausstellung nötigte. 
Das moderne Italien: Turin war seine geschichtliche Wiege, von 
hier aus dräugte es südwärts, bis es zuletzt die ehrwürdige Welt⸗— 
hauptstadt, die Hochburg des alten Italien, sich unterwarf. Eine 
moderne, eine Maschinen⸗, Gewerbe⸗ und Industrie-Ausstellung 
in Romist ein Gedanke, der allenfalls der Familie Buchholz zu⸗ 
sagen mag, der es gefallen köunte, vormittags das Kolosseum 
„abzumachen“ und abends auf dem Runmielplatz der Ansstellung 
sich zu amüsieren. Aber eine solche Ausstellung würde ein Fremd⸗ 
liug in der Ewigen Stadt und Rom selbst würde eine Fremde 
darin sein. 
Es gibt ein modernes Rom, gewiß, und P. D. Fischer tut 
recht, wenn er sich dieses modernen Roms annimmt. Das schlecht 
jgepflasterte, übel belenchtete, unsaubere, winklig-düstere Rom der 
Papstzeit mag freilich malerischer, interessanter, romantischer ge— 
wesen sein, aber wir fangen doch an, den Geschmack au dieser 
Romantik zu verlieren, und Licht, Luft, Sauberkeit, Bequenilich⸗ 
keit als qute und auch schöne Dinge hochzuschätzen. Selbst roman—⸗ 
tische Scelen möchten wohl die vom modernen Rom geschaffenen 
großen Verkehrsstraßen, die Verbindungen in der Stadt und nach 
ker Campagiig, die Fortschritte der Reinlichteit und Ordnung 
nicht mehr missen, wenn sie auch manchmal mit großen Opfern 
(vor allem dem der alten Ludovisi-Gärten) haben begabhlt werden 
müssen. Aber was man auch zugunsten des neucn Rom sagen 
kann und nmiag, eines bleibt doch wahr: der genius loci wohnt 
hier nicht. Das moderne Rom ist bisher kulturell unprodutktiv ge— 
blieben; es giht hier keine Industrie, kein Kunstgewerbe; und 
die Bau- und Kunstdenkmäler der neuen Stadt sind und bleiben 
wie der Justizpalast oder das Viktor⸗Emanuel-Denkmal, bei 
großartigen äußeren Allüren innerlich ohnmächtig und episonen— 
haft, Roms genius loci: du blickst vom alten Mauerwall am Tor 
S. Giovanni hier auf die Lateransbasilika, dort hinaus auf die 
Fampagna; du siehst in dem stillen Garten der Malteser auf des 
Aventins Höhe die Peterskuppel im Feucrmeer des Abendrots 
schwimmen: du träumst im Schatten der Cestiuns-Wuramide oder 
ranges in franzöftscher Beleuchtung verbreitet gewesen sein muß. 
Zyra fügt hinzu: „Die Uhr nebst daran hängendem Petschaft dieses 
lapferen Pyramidenhelden, beide mit dem ihm von Kaiser Napolcon 
berliehenen Wappen — ein aufrechtstehender Lömwe, umgeben von 
neun brennenden Granaten, in blauem Felde: im Ehrenschild vecht« 
ein Ehrendegen; Schilddecke eine Krone; Einfassung, Dekoration der 
Ehrenlegion — versehen, sind mein wohlerworbenes Eigentum, in 
welchem ich eine der intercssantesten Reliquien des großen Schlacht— 
tages von Waterloo zu besitzen glaube.“ Vielleicht findet die? 
Reliquie fich in der Familie Lyra noch vor, und es würde eine danb 
hare Ausgabe für die Verwaltung des Vaterländischen Museums sein 
nach ihr zu sorschen und sie, wenn möglich, für das Museum zu er— 
verben. Der berühmteste Vertreter des Namens Lyra, der Komponis. 
s Liedes: „Der Mai ist gekommen“ und mancher anderen unper— 
zessenen Lieder, hat sein Leben als Pastor im benachbarten Gehrden 
eschlossen; in seiner Vaterstadt Osnabrück wurde ihm ein würdiges 
Denkmal errichtet. Ob er ein Sohn des Veteranen von Waterloo 
war, vermag ich nicht zu sagen 
Götzendaãmmerung. 
Paris, 
Unbrirrt durch das Pfeifen und Heulen seiner akademischen 
Zuhörerschaft hat dieser Tage der italienische Stürmer und Drän— 
ger Marinetti versucht, den Bewohnern des lateinischen Viertels 
die frohe Botschaft des Futurismus zu bringen, nachdem er — der 
Lrophet gilt nichts in seinem Vaterlande — in der eigenen Hei— 
nat für die Verkündung seiner künstlerischen Heilswahrheiten 
nichts als faule Eier, überreifes Obst und eine Freiheitsstrafe 
vegen Verübung groben Unfugs geerntet hatte. Nuch die stu— 
dentische Jugend der Sorbonne scheint offenbar noch nicht reif für 
den Mann aus dem Apifelsinenlande, allein er müßte kein echter 
Lrophet sein, wenn ihn solche Verkennung seiner hohen Ficle 
yon seiner Mission abschrecken würde. Im Gegenteil — je mehr 
Spektakel, desto besser. Ist der Skandal nicht das trefflichfte Mit. 
el, zur Berühmtheit zu gelangen? Suchen nicht die dramatischen 
Autoren von heute vor allem durch ihn die Aufmerksamkeit des 
Publikums auf ihre Person und ihre Werke zu lenken, sei's durch 
Leranstaltung von Zweikömpfen oder Boxerschlachten und der— 
gleichen? Ist Henry Bernstein nicht ein beneidenswerter Mann? 
Aber all diese Leute sind im Grunde Anfänger, sie stecken in der 
Vergangenheit noch mitten drin. Erst bei Marinetti und seiner 
zchule der Futuristen wird der Grundsatz: „Die Kunst ist der 
dandel“ aur künstlerischen Vollendung, zum System ausgebildet, 
rst hier erreicht das literarische Anxeißertum seine höchste Kunst⸗ 
orm und awingt, als eine charakteristische Erscheinung des öffent⸗ 
iichen Lebens den Wanderer, stillzustehen und ihm eine Minute 
kritischer Betrachtung zu widmen. 
Als Landsmann des großen Annunaio verfügt der Apostel 
der Zukunftsmenschheit über einen unermeßlichen Schatz tönender 
und rasselnder Worte, um die ihn mancher Kammerredner benei— 
den dürfte. Wie prachtvoll klinat der Aufruf, den der Verkünder 
der neuen philosophisch-politisch-literarischen Lehre an seine 
Blaubensbrüder im Futurismus, die garoßen Brandstifter⸗ 
poeten“, in der Vorrede seines Programmwerkes „Mafarha, der 
Futurist“ richtet; „Frei ist der verheißene Brandroman, vielstim⸗ 
mig wie eure Seelen. Ein lyrischer Gesang, eine Epopö, ein 
Abenteuer-Roman, ein Drama! Ich bin der einzige, der fähig 
var, solch Meisterwerk zu schreiben, und durch meine Hände wird 
s untergehen, wenn nicht der wachsende Glanz der Welt den sei— 
ien erreicht und es überflüssig agemacht haben wird. Was die Be—⸗ 
vohner von Podagra und Paralysien auch sagen mögen, es flat— 
kert im Winde des Ruhms gleich einer Standarte der Unsterblich— 
eit auf dem höchsten Gipfel des menschlichen Denkens. Und mein 
Schöpferstolz ist befriedigt. Seht, wie es gleich einer wohlge— 
rüllten Granate über den krachenden Schädeln unserer Keitge— 
nossen platzt — und tanzet, tanzet den Kriegerreigen, watend in 
den Pfützen ihrer Dummheit, ohne auf ihr einförmiges Geplät⸗ 
scher zu achten!“ — Das künstlerische Programm des bescheidenen 
ungen Mannes lautet in knapper Fassung: „Platz da, Vergän—⸗ 
genheit! Marinetti kommt!“ Und daß es ihm Ernst damit ist, 
heweist die Forderung, daß alle Kunstwerke friiherer Zeiten be— 
eitint werden müssen, um denen der Futuristen Raum au schaffen:; 
venn die Anhänger des neuen Bekenntnisses wollen nichts vom 
freien Wettbewerb mit den Toten wissen. „Heran ihr wackeren 
Brandstifter mit verkohlten Fingern“, heißt es in dem Pro⸗ 
zramm; „da sind sie! da sind siel Nun werft mir das Feuer in 
zie Bibliotheken! Lenkt den Lauf der Kanäle ab und leitet sie in 
iie Keller der Museen! Oh — laßt sie flußabwärts schwimmen, 
»ie ruhmreichen Gemäldel, Frei, ergreift Hacke und Hämmer, er⸗ 
chutert die Grundfesten chlehrwürdiger Städte Wann komm 
der befreiende Zusammenbruch, das wohltätige Beben der Erde, 
das die unmannbaren Raffaels, die arotesken Michelangelos ver⸗ 
nichtetꝰ Benn werden wir die scheußlichen Laqunen von Vene⸗ 
or — ⏑ — 5⏑ ee 
durchwandelst nach Goethes Rat, indes die Schatten sich schon 
senken, St. Peters Hallen — und da tritt er ungerufen zu dir 
der Genius der Ewigen Stadt, und steht dir Rede und Auntwort 
Jede Ausstellung aber wird unwirksam bleiben, die nich 
von dem genius loci erfüllt ist. Riesenmaschinen und Riesenarbeit 
in Chicago, Geschmack und Grazie in Paris — in Rom Ver— 
gangenheit und Kunst. Nur auf dieser Basis ist Rom als Aus— 
stellungsstadt zu denken, und es ist ein wahres Glück, daß die 
römischen Ausstellungen des Festjahres dieser Voraussetzunç 
Rechnung tragen. Nicht als unorganischer Fremdkörvper wurder 
ie der Tiberstadt aufgedrängt, sondern es findet der sentimental« 
Reisende (wie man im. 18. Jahrhundert zu sagen pflegte) darin 
das Rom wieder, dessen Gestalten und Bilder ihn erfüllen. Isst 
ꝛx nachdenklich durch die Rinen des Palatin geschritten, so zeigt 
hm die Ausstellung in den schönen, wieder hergestellten Dio— 
letian⸗Thermen in einer Fülle von Denkmälern Rom, die Herrin 
er antiken Welt, in ihren Beziehungen zu allen Teilen des rö— 
nischen Imperiums. Hat er voller Ehrfurcht vor den Schöpfungen 
Bramantes, Raffaels, Michclangelos gestanden, so zaubert ihm 
die „Retrospektive“ in der Engelsburg, dem alten Imperatoren— 
HYrabe und späterer Paupstfestung, das frische Tagesleben jener 
länzenden Zeit in auschaulich-reichen Bildern vor das Auge. 
And wenn wohl kein Deutscher in Rom es verabsäunit, Goethes 
Z3puren nachzugehen, so soll ihm eine eigene kleine Ausstellung 
as reizvolle Kapitel der Bezichungen deuticher Künstler und 
dichter zu Rom erzählen. So schlingt ihn Rom auch als Aus— 
telluugsstadt ganz in den Zauber jener Vergangenheit, die, isl 
sie gleich stumm, doch mit wundervollen Zungen redet. 
Abber in eine andere Welt tritt, wer Turin besucht. Nörd⸗ 
ich vom Apennin beginnt das moderne Italien. Wer seine Berge 
überschritten hat, ist in der Welt, wo die Zeit Wert hat und wo 
man rechnet, wo die Arbeit herrscht und Pünkllichkeit verlaugt 
wird, wo der derbe Herr Gegenwart die stille Frau Vergangen— 
heit hier mehr, dort weniger höflich, aber immer entschlossen bei— 
seite schiebt. Selbst Venedig ist nicht mehr ganz die trauernde La⸗ 
quuenköninin, wie sie seit langen Jahrzehnten die Dichter geschil. 
dert haben: auch dort regt sich jetzt neues Streben, aber Mailand, 
Turin, Genua, Bologna sind starke moderne Arbeitsstätten. Das 
mächtigste dieser Jentren ist Mailand; indes während hier der 
remde, vornehmlich der deutsch-schweizerische Einschlag fühlbar 
jervortritt, ist Turin italienischer. Dazu tritt, daß Turin von oer 
nodern⸗e italienischen Geschichte gezeichnet ist, während das üppige 
Vailand geschichtsloser erscheint. Es ist nur Arbeits- Und Ge— 
uufsstadt, aber Piemonts Hauwtstadt hat einen strafferen, militä 
isch⸗ puregukratischen Zug. Wir sind im italienischen Preußen. 
SZo viel Pünktlichkeit, Genauigkeit, Verläßlichkeit findet man nir— 
nends in Italien, und nirgends erscheint der Italiener so sparsam 
nit Worten und Gesten, so nüchtern und ernst wie hier. 
Und das bekennt auch die Physiognomie Turins. Es ist eine 
ernste, regsame, fleißige, saubere Stadt, die nicht lockt und bezau— 
zert, wohl aber interessiert und Achtüng cinflößt. Es ist einc 
noderne Stadt, aber in itglienischem Gewande. Modern berührt 
hre regelmäßige rechtwinklige Straßenanlage à la Friedrichstadt 
n Berliut, doch hat diese Anlage eine uralte Geschichte, indem sit 
uf, das Römerlager in der Augusta Taurinorum zurückgeht 
dessen Wegesystem ist dann in der ganzen Stadt konscquent fort 
refiihrt worden; allein in der inneren Stadt sind die Straßer 
ourchweg so eng, daß die Sonne selbst im Sommer oft nicht durck 
hre hohen Wandungen bis zum Grunde durchdringt. Umso 
Röchtiger wirken darum die schönen offenen Vlätze, auf die sich di— 
trischen Straßeubabnen Platz zu machen. die in sin ane GEchon 
heit verkörpern?“ 
Was hat der, Futurismus, der in so unehrerbietiger Weist 
mit der künstlerischen Hinterlassenschaft unserer Böter umspringt 
uns als Ersatz für die verlästerte Vergangenheit zu bieten? Ma 
rinetti entdeckt das Ideal der Schönheit in der lebendigen, zu 
tunftsschwangeren Gegenwart mit ihrer unerhörten Anspannung 
der Kräste, ihren gewaltigen Daseinskämpfen, in der unendlichen 
Bielfältigkeit von Formein, Empfindungen, Leidenschaften. Aber 
vies gelobte Land der Schönheit haben schon andere vor diesen 
feurigen Propheten entdeckt; andere haben vor ihm und mit über 
zeugeuderem LAkzent das hohe Lied der Arbeit gesungen, sind in 
die Tiefen der Erde, und die heißen Säle der Fabriten, in den 
Bauch der Riesendampfer, auf die gewaltigen Dampfrosse, in dit 
Gondeln der Luftfahrzeuge gestiegen, um von solcher Fahrt ine 
Neuland ungekannte Schätze heimzubringen, aber das Hat sie nich 
gehindert, mit aleicher Empfänglichkeit die Schätze, die uns di 
Zergangenheit als Erbteil hinterlassen hat, zu geniezen. Reu is 
Marxinetti also nur als vandalischer Kerstörer, und dieser Ruhn 
jst nicht gerade fein. Aber ist es dem Apostel aus dem Apfel— 
sfiuenlande wirklich so Ernst mit seinem Werke der Vernichtung' 
Man darf daran zweifeln, wenn man hört, wie er seine Lehrt 
uͤnter vier Augen, sern von dem sensationshungrigen Publikum 
als eine Form der Notwehr zu rechtfertigen sucht. Und dann wird 
man zuletzt auch nicht mehr abstreiten können, daß in der futuristi— 
schen Narrheit ein Körnlein gesunder Vernunft steckt. Marinett' 
behauptet, daß in seiner Heimat das Vergangene unter seiner 
Wucht die Kunst der Gegenwart und Zukunft einfach erftickt. Ita. 
lien ist ein großer Friedhof der Kunst, zu dem die Lebenden vie 
tätvoll wallen, um ihre Opfergabe vor den Gräbern niederzu— 
legen. Für die Kunst der eigenen Zeit fällt nichts ab. Und fün 
die Kunftrichter wie für das Vublikum bildet das Vergangene den 
einzinen Maßstab für das Seiende und Werdende. Die Jugend 
wird zum Gößsendienst gegenüber dem Alten angehalten, zu ewi⸗ 
ger Nachahmung verdammt Ist's ein Wunder, wenn sie sich in 
ffener Revolution gegen das Alte Luft zu machen versucht und 
ehör für ihre eigene Sprache verlangt — wenn sie fordert, daß 
die Kunst in dem lebendigen Heute wurzele und in ihm ihre neuen 
Zdchönheitsidegle fuche? Dazu gehört für Marinetti und seine 
zcchule auch, daß das ewige Leitmotiv vergangener Kunst, das 
wig Weibliche, von seinem Piedestal herabgestürzt werde. „Weg— 
nit dem unaufhörlichen Ehebruch, der falschen Liebessentimenta 
ität!“ — Das Weib als animalischer Wert“ soll freundlich bei— 
behalten werden, aber der Futurist leugnet die Bedeutung des 
weiblichen Gefühlslebens für seine Kunst. — Sie hat höhere, uni—⸗ 
versalere Aufgaben. Es lohnt nicht, sich mit solchen Nichtigkeiten 
zu beschäftigen. 
Marinetti hat sich mit seinen Futuristen ins schellenbehängie 
Narrengewand nesteckt, um den Zeitgenossen seine Pritsche um die 
Ohren zu schlagen und ihnen in lächerlicher Uebertreibung aller— 
hand Wahrheiten nicht ins Ohr zu sagen, sondern au brüllen, 
zenn — wie er selbst richtig bemerkt — sein Evangelium hätte kein 
Echo gefunden, wäre es in diplomatischen Worten verkündet wor— 
den. Die öffentliche Meinung muß heute mit Faustschlägen, mit 
Trompetenstößen geweckt werden. Hierin befindet der mit dem 
Hammer philosophierende Neuerer sich in erfreulicher Ueberein— 
immung mit den Camelots du Roi, die bekanntlich mit den näm— 
lichen Mitteln das Königtum wieder aufrichten helfen wollten. 
Und zu gleicher Ueberzeugung bekennen sich im Grunde auch die 
Winzer der Champagne, die Keller verwüsten, Fässer und Flaschen 
zerschlagen, um das Publikum auf ihre Wünsche aufmerksam zu 
machen; desgleichen die wackeren Eisenbahner, die durch Veran 
taltung von Katastrophen das Reisepublikum für ihre Angelegen⸗ 
heiten zu interessieren suchen; die streikenden Elektriker, die zu 
jleichem Zwecke das nächtliche VParis in Finsternis hüllen, die aus⸗ 
tändigen Bäcker, die Glasscherben in die Morgenschrippen kneten, 
kurg, alle Anhänger der neuen Lehre, daß das soziale, künstlexische 
und andere Heil nur durch Sabotage z3u erreichen ist. Verrunge⸗ 
niert muß alles sein! 
Armes Publikum, welche Prüfungen stehen dir bei der Viel⸗ 
seitigkeit deiner „Interessen“ noch bevor! Das futuristische ist von 
all den Uebeln wohl noch das geringste, zumal der Bildersturm 
des Götzendämmerlings Marinetti gottlöb nur bildlich gemeint 
ist. Er wird keine Bibliotheken anzünden, keine Museen unter 
Wasser setzen, ex hat es unter der Hand heilia versprochen. Die 
Direktoren der Nationalbibliothek des Louvre und des Lurxemboura 
können ruhig schlafen. 
Dr. Emil Schultz. 
— — 
A 
dunklen Straßen öffnen: der verkehrs- und lärmreiche S. Carlo— 
Platz, vor allem aber der Stolz und Mittelpunkt Turius, die 
Biazza Castello, einst die Ostpforte des römischen Lagers, heut ein 
mponierender Doppelplatz, den zahlreiche öffentliche Gebäude 
umgeben, und wo vom frühen Morgen bis zum späten Abend ein 
reges Leben den Palazzo Madama umflutet, dessen monumentale 
Barockfassade die alte Stadtburg der Savoyer umschließt. An die 
Savoher erinnert Turin überall: in Straßennamen, Denk 
mälern, Bauten; Berlin ausgenommen kenne ich keine Großstadt 
wo die alte Zusammengehörigkeit zwischen Fürstenhaus unbd 
städtischem Gemeinwesen sich im Stadtbilde so nachdrücklich aus— 
spräche wie in Turin. Obgleich es in der Stadt nicht an würdi— 
gen und bedeutenden Bauwerken, an alten Kirchen und Palästen 
fehlt, so wird doch ihr Charakter dadurch nicht bestimmt: die 
Kunst, das alte mächtige Kulturelement Italiens, tritt hier in den 
Hintergrund; sie ist hier nie erdwüchsiges Erzeugnis gewesen, und 
es ist nicht zu leunnen, daß der vorherrschende Charakter Turins 
der einer gewissen Strenge, ja Düsterkeit ist. Nur ein architekf— 
tonisches Motiv der Stadt prägt sich als originell ein; es ist dies 
die Sitte, die Straßenzugänge durch portikusartige Bauten abzu— 
schließen, unter denen der Wagen- und Fußgängerverkehr in ver— 
chiedenen Durchgängen seinen Weg findet. Ein städtebaulich sehr 
sückliches und entwicklungsfähiges Motiv, durch dessen Verwen— 
zung es in Turin überraschend oft gelungen ist, geschlossene 
Straßen- und Platzbilder von plastischer Wirkung zu erzielen. 
Und so fühlt fich der, der Turins geschäftige Straßen und 
Plätze durchwandert, in einer Welt, die zwar durch tausend Fäden 
mit der Vergangenheit verknüpft, aber doch von dem Italien 
Roms durch eine geschichtliche Kluft getrennt ist. Hier ist moder⸗ 
ier Boden, zukunftsschwangerer Boden, und immer neu und ge⸗ 
valtig flutet frisches modernes Leben vom Mont Cenis, vom 
Zimplon und Gotthard herein. Wohl hat diese Stadt ein Anrecht 
sarauf, die Völker zu einem Fest moderner Arbeit zu laden. 
Schon einmal hat Turin eine große Ausstellung veranstaltet; es 
var die Ausstellung für moderne dekorative Kunst im Jahre 1902, 
ind ich kann aus eigener Anschauung bezeugen, daß die Stadt 
amals das ihr gestellte Problem aufs tüchtiaste gelöst hat. Wer 
die zweigeteilte Weltausstellung Italiens aufmerksam studiert, 
sem wird sich ein tiefer Einblick in das heutige Italien öffnen. 
Wenn aber der Besucher des Lärmes und Getriebes in der Turi— 
aer Ausstellung müde ist, dann unternehme er die bequeme Fahrt 
zur nahen, hochgelegenen Superga, der alten Gruftkirche des sa⸗ 
voyischen Fürstenhauses, von deren Höhe der Blick die Alpenkette 
in ihrer ganzen maiestätischen Pracht umfaßt. Wie wir eincs 
Abends in dies herrliche Panorama versunken waren, gesellte sich 
ein freundlicher alter Abbate zu uns, der uns die einzelnen Gipfel 
vies und nannte. Dann befragte er uns nach unserer Heimat, 
„Ol Germania!“ rief er voller Lebhaftigkeit aus. „Germania! 
j grande!“ Und eine Weil blickte er stumm und nachdenklich über 
die Alpen hin, als wolle er das Geheimnis dieser jungen neuen 
Macht im Norden ergründen. Aber dann wandte er fich schnell 
nach Süden, und als er jenseits des Po die Türme Turins, vom 
Abendrot vergoldet, aus der grünen reichen Ebene schimmern 
sah, leuchteten seine Augen auf; er wandte sich zu uns, wies mit 
dem Finger darauf, und seine stumme Gebärde schien au sagen: 
auch hier ist Zufunft: auch dies ist „grande“,
	        
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