Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

der Entwurf eines Versicherungsgesetzes für 
die Privatangestellten. 
tVortrag von Serru Dr. Hoa n Lübeder Industrieverein.) 
(Schlukß.) 
Im folgenden bringen wir noch zum Schluß die sehr be— 
merkenswerten Ausführungen des Herrn DTr. Sorn über die 
Errichtung einer Sonderkasse und über die Ge⸗ 
taltung der zukünftigen Verhältnisse bei be— 
reits bestehenden Pensionskassen einzelner Unter⸗ 
nehmungen zum Abdruck. Sie enthalten eine so instruktive Be— 
leuchtung dieser Fragen, daß wir glaubten, uns nicht der Pflicht 
entziehen zu dürfen, sie trotz ihrer Ausführlichkeit den inter⸗ 
essierten Lesern zur Lektüre zu empfehlen. 
Aber, sagt die Begründung, es würde das „Standesbewußt⸗ 
lein der Privatangestellten“ verletzen, wollte man sie in die 
allgemeine Arbeiterversicherung mit einbeziehen und nur durch 
einen Ausbau der Invalidenversicherung ihren Wünschen Rech— 
nung tragen. Es ist zunächst merkwürdig, daß dieses „Standes⸗ 
bewußtsein der Privatbeamten“ für den Entwurf kein Hinde— 
rungsgrund ist, die Angestellten mit Einkommen bis zu 2000 M 
nach wie vor in der Invalidenversicherung zu belassen. Aber 
das mir nebenbei. Sehen wir uns einmal diesen „Stand der 
Privatbeamten“ an! Der 81 des Entwurfes grenzt den Per—⸗ 
onenkreis der Angestellten in Anlehnung an den 8 1212 der 
Reichsversicherungsordnung ab: auf Grund der Rechtsprechung 
ꝛes Reichsversicherungsamtes sind hiernach zu den Privatange⸗ 
dellten beispielsweise zu zählen: Werkmeister, Zuschneider in 
verrengarderobegeschäften, leitende Monteure in Bauunter— 
rehmungen, Fabrikdirektoren, Ingenieure, Techniker, der Direl- 
or eines Hotelaktienunternehmens und der Oberkellner deslelben 
hotels, Schachtmeister, das Bureaupersonal in seinen verschiedenen 
RKategorien vom Burcauvorsteher an bis zum jüngsten Schreiber, 
Bankdirektoren, Kassenbeamte, Küster, Postagenten, Fleisch⸗ 
eschauer, Hauspäter von „Herbergen zur Heimat“, Pridat⸗ 
ekretäre, Handlungsgehilfen, Verkäuferinnen, Gesellschafterinnen, 
daushälterinnen usp, Diese Uebersicht dürfte genügen, um er⸗ 
ennen zu lassen, dah von einem „Stande der Privatangestellten“ 
überhaupt nicht gesprochen werden und daß es somit auch ein 
„Standesbewußtsein der Privatangestellten“ nicht geben kann. 
Und lassen Sie uns nun einmal die vermeintlichen großen 
Porteile uund Vorzüge der Sonderverlicherung des Entwurfes 
zegenüber der Invalidenversicherung näher betrachten! Da ist 
unächst der neue Begriff der Berufsunfähigkeit, den der Ent⸗ 
vurf im Gegensatz zu dem in der Invalidenversicherung maß⸗ 
gebenden Begriffe der allgemeinen Erwerbsunfähigleit einführen 
will, In der Invalidenversicherung erhält Invalidenrente, „wer 
nicht mehr imstande ist, durch eine seinen Kräften und Fähig— 
seiten entsprechende Tätigkeit, die ihm unter billiger Berüclsichti⸗ 
zjung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes zugemutet 
werden kann, ein Drittel desienigen zu erwerben, was körperlich 
und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Aus—⸗ 
hildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.“ 
In der Angestelltenversicherung ist Berufsunfähigkeit dann anzu—⸗ 
nehmen, „wenn die Arbeitsfähigkeit des Angestellten weniger 
als die Hälfte eines körperlich und geistig gesunden Versicherten 
pon ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und 
Fähigleiten herabgesunken ist.“ Eind diese beiden Begriffe so 
immelweit von einander verschieden? Zunächst mag es aller⸗ 
dings den Anschein haben, und die Bestrebungen der Privatange- 
iellten zielen ja auch in der Tat dahin, nicht erst beim Eintritt 
ver allgemeinen Invalidität, sondern bereits bei Berufsunfähigkeit 
im engeren Sinne ein Ruhegeld zu erhalten. Indessen die Aus⸗ 
ührungen, welche die Begründung des Entwurfs zur näheren 
krläuterung des neuen Begriffes der Berufsunfähigleit gibt, 
ind derart, daß nach ihnen vor ciner Ueberschätzung des Wertes 
dieses neuen Berufsinvaliditätsbegriffes nur dringend gewarnt 
werden muß. Die Begründung sagt wörtlich: „Das Maß der 
heim Eintritt der Berufsinvalidität verbliebenen, anderweit zu 
zetätigenden Arbeitskraft kann je nach der Berufsstellung und 
»em Berufszweig recht verschieden sein; die Berufsinvalidität 
m engeren Sinne würde also eine völlig ungleiche Behandlung 
»er Versicherung bei der Pensionierung zur Folge baben, die 
schon wegen der nach gleichen Grundsätzen erfolgenden Beitrags⸗ 
peranlagung und im Interesse der Herabminderung der Kosten 
der Versicherung zu vermeiden ist. Auch liegt kein Bedürfnis 
zor, den Versicherten schon dann Ruhegeld zu gewähren, wenn 
ie noch in der Lage sind, durch die ihnen verbliebene Arbeits⸗ 
raft mehr als die Hälfte der bisherigen Einkommenbezüge in 
anderen, von der neuen Versicherung umfaßten Berufsstellungen 
uu erwerben, die ähnliche Anforderungen an die Leistungsfähigkeit 
tellen und im wesentlichen die gleiche Ausbildung voraussetzen. 
luch vom Standpunkt des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses 
ist es notwendig, daß die verbliebene Arbeitskraft nutzbringend ver⸗ 
vendet wird. Aus diesen Gründen wird der Versicherte, 
dessen Invalidität festzustellen ist, im Vergleich 
zueinem körperlich und geistig gesunden Privat- 
ingestellten in irgend einer durch die neue Ver— 
icherung erfabten Berfusstellung zu betrachten 
rein, mag sie mit der bisherigen verwandt oder 
»öllig von ihr verschieden sein.“ Der Direktor eines 
dotelaktienunternehmens wird es sich hiernach im Falle seiner 
Berufsinvalidität gefallen zu lassen haben, daß seine Arbeits- 
kähigkeit daraufhin untersucht wird, ob sie ihm noch gestattet, 
eine Kräsfte vielleicht als Oberkellner in diesem Hotel zu ver— 
verten; oder ein Bankdirektor wird es sich gefallen lassen 
nüssen, dah untersucht wird, ob er vielleicht noch als Kalsen⸗ 
schreiber Verwendung finden kann. Sie sehen: begrifflich be— 
leht zweifellos zwischen der neuen Berufsinvalidität der An— 
zestelltenverlsicherung und der allgemeinen Invalidität der In— 
ralidenversicherung kein sehr groher Unterschied: der Unterschied 
liegt mehr in der Auslegung. 
Ferner will die Sonderverlicherung des Entwurses eine 
Anersrente bereits vom vollendeten 65. Lebensjahre ab ge⸗ 
rähren, während diese Altersgrenze in der Invalidenversiche⸗ 
ung das 70. Lebensjahr ist. Abgesehen davon, daß dieser 
Punlt von ziemlich nebensächlicher Bedeutung ist und ihm ein 
abermähiger Wert überhaupt nicht beigelegt werden kann, 
in zu berüchsichtigen, daß die Herabsetzung der Altersgrenze von 
70 auf 65 Jahre in der Inpvalidewersicherung bekanntlich 
chon häufig erörtert worden und aweifellos nur noch eine 
Frage der Zeit ist. 
Alsdann will die Sonderversicherimg des Entwurfes Renten 
n „angemessener Höhe“ gewähren, wie sie „den höheren 
Leistungen und Lebensberhältnissen der Angeltellten entsprechen“. 
Wie sieht demn die „angemessene Höhe“ dieser Renten aus? 
Es ist belannt, daß die Rentenbeträge, welche der Entwurf in 
Aussicht stellt, auch auf seiten der radikalften Anhänger der 
neuen Angestelltenversicherung allgemein große Enttäulchung her⸗ 
rorgerusen haben. Und in der Tat sind die Rentenbeiräge 
XVD 
enden Angestellten die Sorge für Alter, Invalidität und Tod 
teineswegs abgenommen ilt, zumal wenn man berüdsichtigr 
»aß der Erwerb eines Anrechts auf die Rente abhängig ge— 
nacht ist von der Absolpierung einer zehnjährigen Karrenzzeit 
bei weiblichen Angestellten 5 Jahre), daß also für die ersten 
10 Jahre der Versicherungspflicht der Angestellte von der neuen 
VBersicherung keinen Schutz zu erwarten hat. Das „Ruhegeld“ 
dies ist der Sammelbegriff für Invalidenrente und Alters— 
ente) beginnt in seiner praktischen Anwendung nach 120 Bei⸗ 
ragsmonaten mit 10 bis 18 40 und steigt jährlich um 0,6 bis 
9 00, so daß 3. B. nach 40 Dienstjahren 25 bis 45 60 des 
utchschnittsgehaltes, das sind nur etwa 12 bis 25 60 des 
etzten Einkommens erreicht werden. Die Witwenrente beläuft 
ch auf zwei Fünftel des Ruhegeldes, auf welches der Ver— 
orbene bis zum Zeitpunkt seines Todes Anwartschaft erworben 
sat: die Waisenrente beträgt ein Fünftel der Witwenrente. 
die Beträge, die nach dieser Rechnung für Witwengeld und 
Vaisengeld im einzelnen Falle herauskommen, sind von so 
ächerlicher Geringfügigkeit, daß man auch im eigensten In— 
eresse der Angestellten fragen muß, ob es nicht richtigen 
ääre, auf diese Leistungen ganz zu verzichten und es dem An— 
estellten selbst zu überlassen, in welcher Weise er seine Ange— 
üörigen für den Fall seines Todes sicherstellen will. Die 
ziedrigkeit der Renten beweist nur aufs neue, daß mit der 
om Entwurf gewählten Versicherungsform einer Kollektiv- 
nvaliditäts⸗, Alters⸗, Witwen- und Waisenverlicherung bei den 
‚eringen Mitteln, die für eine Zwangsversicherung zur Verfü— 
ung gestellt werden können, einigermahen befriedigende Lei— 
ungen überhaupt nicht zu erzielen lind. Und auch hieraus 
rgibt sich wieder die Frage, ob es nicht zwedcmähbiger ist, 
tiatt dessen einen Ausbau der Invalidenversicherung bei zwar 
jeringeren Leistungen, aber auch wesentlich geringeren Bei— 
rägen vorzunehmen und eine weitergehende Fürsorge dem 
zelbstverantwortlichkeitsgefühl und den individuellen Wünschen 
er einzelnen Angestellten zu überlassen. Es sollte doch zu 
enken geben, daß in Oesterreich gut ein Drittel aller Ange— 
ellten gegen die Einbeziehung in den Versicherungszwang Ein— 
pruch erhoben haben und daß insolgedessen nach dem ersten 
jaahre fast 40 0 der vorgeschriebenen Prämien noch nicht 
ezahlt waren, so daß das dortige Gesetz notorisch Fiasko ge— 
nacht hat. Man tut eben den Angestellten wirklich keinen 
zefallen damit, wenn man sie zwingt, ihre Ersparnisse in 
iner ganz bestimmten Richtung anzulegen und es ist mit 
zicherheit zu erwarten, daß, wenn der vorliegende Entwurf 
jeseß wird, ebenso wie in Oesterreich auch bei uns weite 
treise der Angestellten durch einen solchen Zwang nur ver— 
agert und verbittert werden. Eine allgemeine große Zwangs⸗ 
ersicherung muß sich naturgemähß auf die Deckung eines all⸗ 
emeinen, einfachen Risikos beschränken und ist niemals im—⸗ 
ande, den individuellen Versicherungswünschen, die um so 
ifferenzierter sind, je höher man in den Einkommensklassen 
er Angestellten geht, auch wur einigermaßen Rechnung zu 
ragen. Wohl aber wird den Angestellten durch die hohen 
zwangsbeiträge zur Angestelltenversicherung die eigene Für— 
orge erheblich erschwert, meist sogar unmöglich gemacht. 
Die Renten, welche der Entwurf den Angestellten in Aus— 
icht stellt, hahen also einen recht problematischen Wert. Um 
iese Renten aber ganz richtig einschätzen zu können, ist es 
iotwendig, noch auf zwei Bestimmungen des Entwurfes,, die 
876 und 77, hinzuweisen. 876 bestimmt: „Ruhegeld ruht 
eben dem Bezuge von Gehalt oder Lohn oder Einkommen 
rus sonstiger gewinnbringender Veschäftigung, soweit Ruhegeld 
ind Jahresarbeitsverdienst zusammen den 150fachen Turch- 
chnittsbetrag der entrichteten Monatsbeiträge übersteigen.“ 
77 besagt: „Witwenrente ruht neben dem Bezuge von Gehalt 
der Lohn oder Einkommen aus sonstiger gewinnbringender 
zeschäftigung, soweit Ruhegeld und Jahresarbeitsverdienst der 
Pitwe zusammen den 150fachen Durchschnittsbetrag der von 
»em verstorbenen Ehemanne entrichteten Monatsbeiträge über⸗ 
leigen.“ Wie sich diese Bestimmungen bei der Rentenbemessung 
zeltend machen, dafür zwei Beispiele: 
Ein Angestellter möge vom 30. bis 65. Lebensjahre dauernd 
n der Gehaltsklasse 1600 Mebis 2000 Müversichert gewesen sein; 
er monatliche Beitrag beträgt darin 9,60 M. Die nach Er—⸗ 
eichung des 65. Lebensjahres ihm zustehende Altersrente von 
48 Muberkommt der Angestellte nach 876 nicht, sofern und 
o lange er noch 160 mal 6,60 — 1440 Miäjährlich verdient. 
Bezieht er ein geringeres Einkommen, so bekommt er als Rente 
iur die Differenz zwischen seinem tatsächlichen Verdienst und 
»em Betrage von 1440 M. Die volle Altersrente erhält 
dieset Angestellte erst dann, wenn er weniger als 792 M 
ährlich, also weniger als die Hälfte seines bisherigen Ein— 
kommens verdient. 
Ein anderer Angestellter möge von seiner Lehrlingszeit 
an der neuen Versicherung angehören und bis zum 65. Lebens⸗ 
ahre in etwa 45 Dienstjahren allmöhlich bis zu einem Gehalt 
doun 3000 Muaufsteigen, derart, dah er 5 Jahre lang in der 
Sehaltsklasse 550— 850 Me, weitere 5 Jahre in der Klasse 
350- 1150 M, weitere 10 Jahre 1500 - 2000 M, weitere 10 
Jahre 2000- 2500 Meund die letzten 15 Jahre in der Klasse 
2500 - 3000 Moversichert ist. Gemaß der Vorschrift des 8 76 
erhält dieser Angestellte nach 45 Tienstjahren die Altersrente 
von 835,650 Munur, wenn und soweit sein ECinkommen, das zu⸗ 
etzt also 3000 Mubetrug, vom 65. Lebensjahr an hinter 1728 
Mark zurücbleibt, und nur, wenn sein Arbeitseinkommen nicht 
nehr als 889,50 Muäausmacht, erhält er den vollen Betrag der 
Altersrente. Das Gleiche gilt sür die Invalidenrente: Auch 
im Falle der Invalidität würde dieser Angestellte keine Rente 
beziehen, so lange er noch verdienen kann 600 Miunach 10 Jahren, 
020 Munach 20 Jahren, 1330 Munach 30 Jahren. Die volle 
Nente würde er nur erhalten, nenn er nicht mehr verdienen 
lönnte 480 Menach 10, 758 Munach 20, 867 Munach 30Jahren. 
Diese Beispiele zeigen, daß die scheinbar jedem zustehende 
Altersrente durch 8 76 zur Alters-Invalidenrente herabgedrüch 
xird; sie zeigen ferner, wie 8 76 den Wert des neuen Berufs— 
nvaliditätsbegriffs der Angestelltenversicherung illusorisch macht. 
sdach 8 24 soll die Berufsunfähigkeit belanntlich dann ange— 
ommen werden, wenn die Arbeitsfähigkeit des Angestellten auf 
veniger als die Hälfte eines förperlich und geistig gesunden 
zersicherten ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen 
ind Fähigkeiten herabgesunken ist. In dem zweiten Beispiele 
vürde der Angestellte jedoch, auch wenn seine Arbeitsfähigkeit 
nuf die Hälfte herabgesunken wäre, die ihm rechnungsmäkßig 
ustehende Rente mit Rüdsicht auf 8 76 nicht erhalten, und er 
würde die volle Rente erst beanspruchen können, wenn sein Ver— 
dienst etwa auf ein Drittel herabgesunken wäre. Der Begriff 
)er Berufsunfähigleit der Angestelltenversicherung nähert sich da⸗ 
nit in der praktischen Handhabung dem allgemeinen Inpalidi— 
ätsbegriffe der Invalidenversicherung in einem solchen Grade. 
ah nicht einzusehen ist, inwiefern er noch einen ausschlaggebenden 
echtsertigleitsgrund für die Wahl einer Sonderversicherung bil⸗ 
den sosl. 
Wenn der Angestellte des eben erörferken zweiten Beispiels 
nach den ersten 10 Jahren stirbt, so erhält seine Witwe auf Grund 
des 8 77 nichts, sofern sie durch ihre Arbeit etwa 600 Mijähr 
lich verdient. Stirbt der Angestellte nach 30 Jahren, so er 
hält die Witwe keine Rente, sofern sie durch ihre Arbeit 1330 M 
derdient, dagegen die volle Rente, wenn sie weniger als 1145 M 
erwirbt. Aus 8 77 ergibt sich also die unsoziale Wirkung, daß 
zie Witwe, welche nicht arbeitet — sei es, dab sie nicht arbeiten 
ann oder nicht zu arbeiten nötig hat —, stets die Witwenrent— 
erhält, diejenige dagegen. welche eeinem Erwerb nachgeht. ev 
nur teilweise oder gar nicht. Zum mindesten sollte man dahe 
Witwenrenten nur den erwerbsunsjähigen Witwen zugestehen 
Wem man sich außerdem entschliehen könnte, auf die Wailengelden 
ganz zu verzichten, so würde man vielleicht zu etwas besrie 
digenderen Witwenrenten kommen können. 
Man wird also gut tun, die Vorzüge, welche die Sonder— 
versicherung des Entwurls angeblich vor der Invalidenpersiche 
tung besitzt, nicht zu überschätzen, vielmehr wird man auch vom 
Standpunkt der Interessen der Angellellten fragen müssen, ob 
diese Vorzüge wirklich so gewaltige sind, daß sie den leiden 
schaftlichen Kampf der dem Hauptausschusse nahestehenden Ange- 
stelltenkreise um ihre Erlangung verständlich machen. 
Welche Gekahren einer Sonderversicherung stehen nun diesen 
zweifelhaften Vorzügen gegenüber? Zunächst droht eine Zer— 
plitterung der Versicherungsgesetzgebung, wenn man eine neue 
Angestelltenversicherung mit einem vollständig selbständigen Appa⸗ 
rat ins Leben ruft, während man zu gleicher Zeit in dem Ent— 
rurse der Reichsversicherungsordnung an der Vereinhcitlichung 
ind Vereinfachung der bestehenden drei Zweige unserer Sorial⸗ 
versicherung, der Unfallversicherung, der Krankenversicherung und 
der Alters- und Invalidenversicherung, arbeitet. 
Die im Entwurf vorgeschlagene Form der Sonderversicherung 
als Zusatzversicherung zur Invalidenversicherung hat bekannt— 
lich ferner für die Angestellten bis zu 2000 MeArbei:seinkommen 
die Doppelversicherung zur Folge. Cine derartige Doppelversiche⸗ 
rung schließt die Gefahr in sich, daß zwischen beiden Versicherungen 
Zollisionen entstehen. Zum Beispiel würde für die Turchfüh— 
rung eines Heilverfahrens im Falle der Erkrankung eines solchen 
doppelt versicherten Angesteliten sowohl die Landesversicherungs⸗ 
instalt der Invalidenversicherung als auch die Reichsanstalt der 
Ingestelltenversicherung zuständig sein. Beim Eintritt der Inva— 
idität hat der Angestellte zur Etlanzung der Invalidenrente 
»ezw. des Ruhegeldes zwei Anträge bei zwei verschiedenen Be— 
hörden zu stellen; es finden in beiden Versicherungen getrennte 
ärztliche Untersuchungen, getrennte Feststellungsver,ahren, ge— 
trennte Entscheidung und getrennte Rechtsmittel statt. Auch be— 
teht die Gefahr einer Zersplitterung der Rechtsprechung, denn 
vährend zurzeit auf dem Gebiet der Invalidenverlicherung, we 
das Reichsversicherungsamt überall die letzte Instanz bildet, eine 
einheitliche Rechtsprechung gesichert ist, unterliegen nach dem Ent⸗ 
rurfe die Bestimmungen der Angestelltenversicherung, obwohl sie 
tich zum großen Teile mit den entsprechenden Vorschristen det 
Invalidenversicherung decken, der Entscheidung besonderer Organe 
Sodann ist doch auch die Belastung von jährlich 150 bis 
200 Millionen Mark, welche die neue Sonderversicherung für 
unsere Volkswirtschaft bedeutet, nicht zu unterschätzen, zumal es 
ziemlich sicher ist, dahß dieser Betrag in Zukunft noch wesent⸗— 
ich sich erhöht, da in 8 178 des Entwurfes vorgesehen ist. 
daß im Falle eines Fehlbetrages der versicherungstechnischen Bi 
anz entweder die Beiträge zu erhöhen oder die Leistungen her— 
abzusetzen sind. Wir haben es aber bisher noch nicht erlebtf 
und werden es wohl auch in Zukunft nicht erleben, daß in eine 
inmal bestehenden sogialen Versicherung die Leistungen herab⸗ 
gesetzt werden; man wird also für den Fall eines Fehlbetragee 
— und daß ein solcher sich in absehbarer Zeit herausftellen wird 
teht, wie Sie noch sehen werden, bei den mangelhaften versiche⸗ 
rungstechnischen Unterlagen des Entwurfs in sicherer Aussicht — 
nur mit einer Erhöhung der Beiträge, also mit einer Steigerung 
der Belastung zu rechnen haben. Ob dieser Belaftung unser 
deutsches Wirtschastsleben in allen seinen Zweigen wirklich ge— 
wachsen ist, ift eine andere Frage. Insbesondere der gewerblicht 
ind kaufmännische Pdittelstand und in erster Linie der auf ver— 
zältnismäßig viele Angestellte angewiesene Kleinhandel werden 
s vielfach nicht sein. Und noch eins: Der Entwurf schreibt 
eine Halbierung der Beiträge zwischen dem Angestellten und 
einem Prinzipal vor. Man muß sich hierbei doch darüber klar 
ein, daß diese Verteilung der Belastung nicht durch Paragraphen 
ind Truckerschwärze entschieden wird, sondern sich nach wirt—⸗ 
chaftlichen Naturgesetzen, nach Angebot und Nachfrage vollb 
„iehen wird. In lolchen Branchen, wo einer lebhaften Nachfrage 
nach geeigneten Angestellten nur ein geringes Angebot gegenüber⸗ 
teht, wird der Prinzipal sehr bald gendtigt sein, das Gehali 
des Angestellten um denjenigen Betrag zu erhöhen, welcher der 
Beitragshälfte des Angestellten entspricht, während umgekehrt 
n sehr vielen Fällen, wo der Nachfrage des Prinivals ein reiches 
ngebot von Angestellten gegenübersteht, der Prinzipal in der 
dage sein wird, durch geringere Gehaltsbemessung oder durch 
angsamere Erhöhung des Gehalts die nach dem Papier von 
hmezu tragende Beitragshälfte auf den Angestellten abzuwälzen. 
lso diese Verteilung der Beitragslast wird durch Momente 
ntschieden, auf welche der Gesetzgeber keinen Einfluh besitzt. Auch 
)as darf nicht übersehen werden, daß in solchen Fällen, wo die 
eue Versicherung dem Arbeitgeber eine schmer empfundene Be— 
astung auferlegt, sie geeignet erscheint, die Konkurrenz der bil⸗ 
igeren weiblichen Angestellten gegenüber den männlichen Ange— 
ellten zu fördern, und ferner besteht die Gefahr, daß sich viele 
Zrinzipale mit Rüchicht auf die zon ihnen an die Angestellten 
ersicherung gezahlten Beiträge künstig weniger besinnen werden, 
b sie verbrauchte Arbeitskräfte aus reinem Wohlwollen noch 
reiter in ihrem Betriebe dulden wollen. Indem der Entwursf 
das Verhältnis zwischen Prinzipal und Angestellten rein auf 
Held stellt und der persönlichen Note entkleidet, befreit er den 
Unternehmer zugleich von der doch zweifellos häufig anerkannten 
moralischen Verpflichtung, das Tienstverhältnis der Angestellten 
auch dann fortzusetzen, wenn das materielle Interesse des Unter⸗ 
ehmers daran nachgelassen hat. Große Schwierigkeiten werden 
ich aus der Abgrenzung des Begriffs „Angeltellter“ ergeben. 
1 des Entwurfes verzichtet bekanntlich auf eine klare Defigition 
ieses Begriffs, beschränkt sich vielmehr darauf, den Personen⸗ 
reis in Anlehnung an den 8 1212 der Reichsvbersicherungsord⸗ 
ung abzugrenzen. Tatiächlich erscheint eine völlig einwandfreie 
Trennung zwischen Angestellten auf der einen und Arbeiter (in⸗ 
alidenpflichtigen Personen) auf der anderen Seite in der Praxis 
ielfach kaum möglich, und die Grenze zwischen beiden ist be— 
anntlich eine durchaus flüssige — ich erinnere nur an die 
Werkmeister, die der neuen Versichcrung unterliegen sollen und 
ie bekanntlich ausnahmslos aus der Arbeiterklasse hervot 
jsehen — und es findet namentlich in vielen Industriezweigen 
ein befftändiger Uebergang aus der Arbeiterklasse in die Kate 
jorie der Angestellten und umgelehrt statt. Die Unmöglichkeil 
einer genauen Feststellung des Begriffs „Angestellte“ hat man 
nuch in Oesterreich erkennen müssen: das dortige, wie bereitẽ 
rwähnt, notorisch gescheiterte Gesetz leidet an dem aleichen 
Jehler
	        
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