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Ausgab⸗
26GEGroße Andgabe)
Mmittwoch, den 5. April 191.
Abend⸗Blatt Rr. 175.
n Erstes Blatt. Gierrn
Amẽana der he
kleinen Kollegenkreise zu verkehren, den er tagsüber schon
um sich gehabt hat und dem naturgemäß die politische Unter—
haltung ⸗ wieder am nächsten liegt. So kann man es wohl
hegreifen, wenn nach längerer anstrengender Sitzungsperiode,
wie jetzt, die Ferienfreude sich lebhaft äußert.
Aber wie im Schulleben, so sind auch im parlamentarischen
Leben Ferien und Zensuren untrennbare Begriffe. Zahlreiche
politische Federn sind deshalb jetzt in Tätigkeit, um den
jeimkehrenden Volksboten Zeugnisse über ihre geleistete vder
nicht geleistete Arbeit auszustellen. Zum Glüd bezsiehen sich
diese Zeugnisse nicht auf den einzelnen Abgeordneten,, sondern
auf seine ganze Partei oder den Reichstag in seiner Gesamt⸗
heit. Der aber erhält diese Ostern wohl ziemlich allgemein
eine sehr mäßige Zensur. Was er seither fertigge—
bracht hat, ist nicht viel und nicht immer erfreulich: eine
Reichswertzuwachssteuer und ein neues Militärgesetz. Aber unn⸗
vollendet sind bis jetzt geblieben: die Strafprozeß⸗
reform, das Arbeitskammergesetz, das Heimarbeitergesetz, das
Kurpfuschergesetz, die Fernsprechgebührenordnung, das Schiff—
ahrtsabgabengesetz, die Reichsversicherungsreform, die elsaß—
othringische Verfassungsreform und das — freilich dem Reichs—
tag noch nicht vorgelegte — Privatbeamtenversicherungsgesetz
Eine solche Fülle wichtiger gesetzgeberischer Aufgaben hat selten
ein Reichsstag während der ganzen fünfjährigen Legislatur—
periode erfüllen können. Der jetzige aber will bekanntlich
alle diese Vorlagen noch bis zum Sommer und im Notfall mit
Zuhilfenahme einer Herbsttagung oerabschieden. Ob auch nur
die Mehrheit der jetzt heimeilenden Volksvertreter ernsthaft an
die Erledigung glaubt?.
Auf jeden Fall muß man den Herren Reichstagsabgeord-
nelen aus menschlichen wie aus sachlich-politischen Gründen
lecht gute Ferienerholung wünschen, damit sie im Mai mit
neuen Kräften an die Aufgaben herantreten können, die ihrer
noch harren.
— ——
Konservativen auf, „aus den Weberschen Darlegungen die
selbstverständlichen Konsequenzen zu ziehen“.
Wer jetzt noch daran⸗zweifelte, daß hiermit den Kon⸗
servativen die Versagung der Stichwahlhilfe gegenüber na—
tionalliberalen Kandidaten angeraten werde, der wird allerdings
durch einen anderen Rat der D. T. von jedem Iweifel be⸗
freit. Die D. T. empfiehlt nämlich, für die Nationallibe⸗
ralen deshalb keinen Finger zu rühren, damit die Regierung
nicht glaube, daß der Liberalismus an Boden gewonnen habe.
Auf diese Weise setzt das Bündlertum entschieden seine eigenen
Parteinteressen über das, was es bei den Liberalen als
nationale Pflicht bezeichnet.
Ssozialdemokratische Bekenntnisse zur Schutzzoll. und
Kolonial⸗Politik
werden im neuesten Hefte der Sozialistischen Monats—
hefte von den Genossen Maurenbrecher und Weingartz abge—
egt. Maurenbrecher pflichtet dem Genossen Slldebrand bei,
»er sich in seinem Buch „Die Erschütterung der Industrieherr⸗
chiaft und des Industriesozialismus“ völlig abgewandt
hat von der Marxistischen Theorie des Zusam—
nenbruchs der industriealisierten Welt und der alsdann
eintretenden Erhebung des Proletariats. Hildebrands Grund⸗
gedanke wird nun von Maurenbrecher kurz dahin zusammen—
zefaßt, daß eine Industrie ohne Bauerngrundlage auf die
Dauer sicht gar nicht erhalten könne. Ebenso macht er
Front gegen die Ansich—, daß die Teilung in Industriestaaten
und Agrarstaaten zu einer endgültigen Teilung der Nationen
führen müsse. Er behauptet vielmehr, daß alle Agrarstaaten
bald eine eigene Industrie begründeten, und daß darum die
Jukunft der Industriearbeiterschaaft ein grenzenloses Elend sein
werde, wenn es ihr nicht gelinge, rechtzeitig dem eigenen
Staat einen gemilcht agrarisch-industriellen Charakter zu geben
oder zu erhalten. Wie Hildebrand, so empfiehlt auch,
er von diesem Standpunkte aus der deutscheen Ar—
zeiterbewegung, um ihrer eigenen künftigen
Lebenserhaltung willen sich weder den kolo—
aisatorischen Arbeiten der Nation, noch der Er—
haltung eines wohlhabenden Bauerntums zu
widersetzen, sondern aus Selbstinteresse Kolonial- und
Agrarpolitik zu treiben.
Sodann verlangt Maurenbrechher eine solche Umgestaltung
der Volkserziehung, daß sie der Arbeiterklasse die beinahe
völlig verloren gegangene MöglichCeit wiedergibt, je nach der
Konjunktur in der Fabrik oder durch landwirtschaftliche Arbeit
das Fortkommen zu finden. Er stützt sich dabei auf die
Frfahrungen der Wahl von 1907, und er warnt vor dem
Heschrei nach dem billigsten Fleisch, weil sehr zahlreiche Schweine
nästende Industriearbeiter oft die Entscheidung über die Man—
date in der Hand hätten. „Schon das wäre Grund genug,“
chreibt Maurenbrecher wörtlich, „sich in die Psycho'ogie dieser
— I ö—— —
bat Gerhard. „Ich weiß, man nennt das „Rerven“ und gehi
mit diesem generalisierenden Ausdruch über viele wirkliche Ur—
sachen hinweg, anstatt verstehen und erkennen lernen zu wollen,
wo die sogenannte Krankheit sitzt. Sie kommt aus den un—
befriedigten Bedürfnissen des Gemüts heraus! Oder rührt das
Gefühl der gänzlichen, hoffnungslosen Vereinsamung, das mein
armer Bruder trotz seines schönen Besitztums empfindet, auch
hon den „Nerven“ her?“
GEerhard schlug wieder ein paar Takte des Liedes an,
das ihn nicht loszulassen schien.
„Sieh, wenn diese große Leere sich in uns oder um uns
auftut, damm fühlt man, daß es nicht gut ist, allein zu sein.
Tam sehnt man sich nach Menschen, nach menschlichem Mit⸗
derstehen, nach Teilnahme. Hat nicht unserer größten Dichter
einer einmal gesagt: „Liebe ist nichts weiter als die Furcht
dor dem Alleinsein“„“ Man möchte jemand ganz und gar
caben, der helfen will und kann. Liebe ist der Trieb nach
Ergänzung des gesamten eigenen Selbst! Liebe ist — Hilfe!
Wer zeigt, daß er verstehen möchte, der hilft schon! Und
das ist die beste Seite der Liebe, Karl! Einen Kranz flechten
um die Leere — — sie schmücken, cuszufüllen suchen — einen
zur Ruhe beten — — Beten das heißt doch: Wünschen! Und
wer uns ein Gutes wünscht und sich bemüht, daß wir dessen
teilhaftig werden, der hat die eckte Liebe.“ J
Karl nickte; Gerhard fuhr fort: „Und wer, wie es
hier heißt, mit feuchtem Blick auf ein Grab niedersieht und an
die Treue des Herzens denkt, das zu schlagen aufgehört hat,
der ist selbst treu. Treue ist das Beharren in der Liebe
mit der Tat und mit dem Willen — allen feindlichen Ein—
virkungen und Gewalten zum Trotz!“
„Dann ist es wohl auch bei Adelina Allmers nicht nur
hdie Angst und Leidenschaft, sondern auch ein Stück dieser
Treue, die sie zwingt, an jenem, der ihre Liebe gewonnen
gatte, festzuhalten,“ sagte Karl gedankenvoll, der Adelinas
Person und Geschich eine ihm selbit noch unbegreifliche Teil—
zahme zuwandte.
Gerhard sah ihn sinnend an. „Vielleicht ja — du magst
recht haben. — — Dann aber tat ich Unrecht, lie zurüd—⸗
halten zu wollen. Aber mir war's so weh und leid um sie!
Ich glaubte, der Weg, den sie gehen wollte, würde nicht zum
Blatt.
—VNE
Osterferien im Reichstag.
D. Lüubecdck, 5. April.
Endlich ist das Ende da! Noch eine namentliche Abstim⸗
ung hat die Reichstagsabgeordneten bis in die Nach—
mittagsstunden zusammengehalten, dann aber strebten sie nach
allen Richtungen der Windrose auseinander, heim zur
Familie und zur Ferienerholung. Bis zum Olterfelt wollen
sie nun von der Politik durchaus verschont lein. Nachher
wird ja die notwendige Agitationsarbeit ihre Kräfte wieder
beanspruchen, ehe sie im Mai nach Berlin zurüdckehren. Aber
jetzt denken sie noch nicht daran, sondern sie haben nur
das eine Bedürfnis, auf etliche Tage unpolitische Menschen
ein zu dürfen.
In Wirklichkeit haben unsere Reichsboten diesnial eine
ehr strapaziöse Wintertagung hinter sich. Der Durchschnitts⸗
vähler, der täglich die Reichstagsberichte verfolgt und glaubt,
daß mit den wenigen Sitzungsstunden an jedem Nachmittag
die Arbeit der Parlamentarier erschöpft sei, hat ia keine
Ahnung von den wirklichen Strapazen der Herren M. d. R
Fast alle gehören mindestens einer, oft mehreren Kom—
missionen an, die in der Regel vormittags 10 Uhr ihre
Beratungen beginnen und erst abbrechen, wenn die Glocke
zum Plenum ruft. Abends aber, wenn die Plenarverhand⸗
lungen beendet sind, dann eilen die Fraktionsdiener von Mann
zu Mann, um dringlich Einladungen zu wichtigen Fraktions⸗
sitzungen zu überbringen. Dann ist es durchaus nichts Sel—⸗
tenes, daß fleißige Abgeordnete morgens vor 10 Uhr den
Wallotpalast betreten, um ihn abends nach 10 Uhr erst zu
oerlassen.
Auch mit der Anwesenheit im Hause ist es nicht allein
getan. Alle Kommissionssitzungen und viele Plenar—
oerhandlungen erfordern eingehende Vorbereitung. Die Lese—
und Bibliotheksräume sind ständig gut besetzt. Daneben muß
noch eine umfangreiche politische und private Briefkorrespondenz
erledigt werden, und so mancher Besuch aus dem heimischen
Wahlkreis ist zu empfangen und zu unterhalten. Und das
alles viele Tage, viele Wochen hintereinander mit gleicher
Regelmäßigkeit. Daheim aber im Hotel oder in der Privat⸗
pension erwartet den Abgeordneten nicht die Bequemlichkeit
und Gemütlichkeit, an die er im Familienkreis gewöhnt ist.
Wenn er an sitzungsfreien Abenden nicht abwechselungshalber
einmal ein Theater oder ein Konzert besucht — was sich bei
den teuren Berliner Eintrittspreisen nicht gerade viele häufiger
gestatten können — sg ist er darauf angewiesen, in demselben
Nationalliberale und Bund der Landwirte.
Die sächsischen Konservativen haben bei der Land
tagsstichwahl in Leipzig-Land ihr Mandat an die So—
ialdemokratie verloren, obwohl die national—
iberalen Wähler, wie die Kreuzztg. treffend bemerkt,
,der Stichwahlparole ihrer Parteileitung folgend, Mann
für Mann dem konservativen Kandidaten ihre
Stimmen gegeben haben“. — Angesichts dieses Ver—
haltens der nationalliberalen Partei ist es doppelt auffällig,
daß die Deutsche Tagesztg. mit Hilfe von Wortklau—
dereien den Eindruck zu erwecken sucht, als habe der Reichs—
agsabgeordnete Dr. Weber auf der Landesversammlung der
ächsischen Nationalliberalen verblümt empfohlen, bei Reichs—
ragsstichwahlen für die Sozialdemokratie zu stimmen. Die
D. Tagesztg. bezeichnet dann noch ihre Konstruktion als einen
weiteren Schritt zur „Klärung“ und fordert die sächsischen
Ob sie wohl kommen wird?
Roman von Renata Greverus.
23. Fortsetzung.) Machdrud verboten)
„Ja,“ sagte Gerhard, dessen Zunge gelölt war, und er
derichtete von allem, was zwischen ihr und Hallberg lag.
„Sie meint nun, daß sie ihm unbedingt für immer angehören
muß, und sollte sie sich ihn erkaufen. Wie abhängig ist doch
das arme Weib vom Mann! Welch eine Ungerechtigkeit ist es,
daß lie allein leiden und büßen muß, wo gemeinsam gesündigi
vurde!“
„Allein ?“ F
„Ja, sie trägt doch die Folgen in Schmerz und Schande,
und die Verachtung der Welt; er geht fast straflos aus, und
dem Durchschnittsmann ist es keineswegs ein Pflichtgebot, sich
lebenslang an die Frau zu binden, deren Liebe er genossen hat.
Eine gefallene Frau, oder die, zu denen sie gehört, müssen
sroh und dankbar sein, wenn der Mann noqh zur Heirat
ichreitet. Aber warum, wenn er ein Unwürdiger ist, macht sie
sich nicht lieber los von ihm und versucht, ein neues Leben
anzufangen? Warum kann das einer Frau nicht so gut
ermöglicht werden, als dem Mann?“
„Vielleicht glaubt Adelina, ihm emporhelfen zu können
um der genossenen Liebe willen,“ saote Karl leise. 3
„Ja, helfen, das wollte sie — sich und ihm. Aber sie
dachte an eine Hilfe im rein dußerlichen Sinne. Die Liebe
zwang sie vielleicht weniger als die Scham.“
„Bist du auch nicht ungerecht, Gerhard?“
„Ich weiß es nicht, Karl. Sprechen wir nicht mehr davon.“
Dann sam er eine Weile viach. „Ja, wer nur wirklich
helfen wollte! Mutter sagte kurz vor ihrem Tode zu mir,
als wir von meinem Bruder sprachen, der auch Hilfe brauchte,
daß es Mähdchen gäbe, die dem am ehesten ihre Liebe
schenkten, der ihre Hilfe brauchte! Sie hielt nicht viel von
der sogenannten großen Leidenschaft, meine Mutter! Ihr
Lieben war ein stetes Helfen, ein Treusein in Mitleid und
Beduld!... Solch eine Liebe wünsche ich mir, Karl,“ setzte
— hinzu. Er nahm das Notenblati noch einmal
uur Hand
„Sieh,“ sagte er. „Mein Kranker hier will auch nicht
mehr! Sie soll für seine Ruhe beten ... vielleicht hatte
r Angst ... vor dem Tode oder ... dor dem Leben!“
Eine Weile saßen die beiden schweigend da, dann wandte
ich Gerhard plötzlich dem Freunde zu und sagte in ganz ver—⸗
indertem Ton:
„Karl, sag mir, kennst du Angst? Ich meine nicht die
Angit vor etwas Wirklichem, dem man mutig begegnen kann,
ch meine die Angst, die von innen herauskommt aus der
igenen Schwäche und den Außendingen nicht klar ins Ge—
icht sehen und darum keinen Kampf aufnehmen kann, die
Angst, die der Ahnung eines drohenden Unheils gleichkommt,
»em man trotz des redlichsten Willens nicht Widerstand leisten
ann ..
„Gerhard, alter, lieber Junge, was ist dir? Du siehst
blaß und erregt aus! Laß doch die Phantasien.“ und besorgi
ah er den Freund an.
„Diese Anglt ist in den letzten Zeiten oftmals über mich
zekommen. Sie mag wohl mit meinem Leiden, dem Herz—
leiden, zusammenhängen, das mich jetzt unfähig zu steter Arbeit
mnacht. Aber früher währte sie niemals lange; Mutter hatte
ine so gute Art, alles zu schlichten und zur Ruhe zu bringer
— bei ihr wurde es niemals schlimm. Seitdem ich allein
bin, ist das anders geworden.“ »*..4
Karl legte ihm die Hand auf die Schulter:
„Kann ich dir nicht helfen? Sprich dich aus!“
—„Ja, auch bei dir komme ich mir geborgen vor. Aber
wir lönnen ja doch nicht immer beieinander sein. Und wenn
die Eigensucht und Kälte anderer oder die Rot anderer mir
ans Herz geht, — — oder wenn die Gemeinheit, die Hohl⸗
jeit, die Ungerechtigkeit ihr Haupt erheben, wenn auch nicht
zerade gegen mich, so kommt die Anglt, der Ekel am Leben
uͤber mich, und ich weiß mir nicht zu helfen. Ich kann dann
auch die unendliche Leere, die sich um mich und in mir auftut,
nicht ausfüllen, nicht mit aller Kraft, aller Hilfsbereitschaft,
mit aller Liebe nicht —!“
Karl war sehr ergriffen. „TDu bist wirklich krank,“ sagte
er mit Nachdruch als wollte er diese beängstigenden Empfin⸗
dungen mit einem mahnenden Worte eindaäͤmmen.
„Sag das bitte nicht — wenigstens nicht in diesem Ton,“