Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

in der Fassung der Rammer angenonrtmen. Bernard empfahl 
odie Annahme des Artikels 3, der bestimmt, daß denjenigen 
Hesellschaften kein Auftrag gegeben wird, in deren Ver— 
valtungsrat Parlamentarier sitzen. Die Kommission hatte 
die Abtrennung dieses Artikels verlangt. Der Senat stimmte 
mit 143 gegen 119 Stimmen der Abtrennung des Artikels 
3 zu und nahm das Gesetz im ganzen an. 
Inländische und —nsländische Preßstimmen zur Reichs⸗ 
—X 
Inland. 
Die Rede des Reichskanzlers sindet bei einigen Blättern des 
Fortschritts wenig Beifall. Der verständig geleitete Berl. 
Börfencourier »kritisiert sie natürlich, soweit sie das 
Schiedsgerichtswesen (und die Abrüstung betrifft, durchaus 
reundlich. Das Berl. Tagebl. aber erklärt: 
„Je mehr das Bewußtsein die Völker miteinander verbindet, 
daß bei ihnen und ihren Regierungen das Bestreben obwaltet, 
Fegensätze friedlich zu schlichten, um so mehr wird das Volks- 
empfinden auch Trägerin der Ideen werden, welche Herr v. Beth- 
nann „für immer“ ablehnt.“ 
Und die Voss. 3tg. meint: 
„Kann der Reichskanzler gegen die Art von Schieds- 
gerichten des sortschrittlichen Antrages etwas einwenden? Schwer-— 
ich. Er aber hielt für nötig, zu betonen, daß sich aus bem 
Leben der Volker die ultima ratio nicht ganz wegstreichen läßt 
ind daß zur Friedfertigkeit Stärke gehöre. Bei der Rechten 
erntete er, indem er diese offenen Türen einstieß, lebhaften 
Beitall. Außerhalb dieser Kreise würde Herr v. Bethmann 
zollweg vielleicht größeren Beifalls teilhaftig, wenn er den 
hedanken des Schiedsgerichts wärmere Zustimmung bezeugt 
ätte, als er gestern bewies. Der Stärke braucht er dabei nichts 
u vergeben.“ 
Ganz und gar aus dem Häuschen ist natürlich der Vor- 
värts“, der Aile Rede Bethmann Hollwegs für die stärkste 
Heraussorderung des deutschen Proletariats und die nachdrück— 
ichste Aufforderung zum Kampfe gegen dieses System erklärt. 
Die Deutsche Tagesztg. benutzt die Gelegenheit, um 
ich wiederholt an dem Abgeordneten Bassermann zu reiben, dessen 
brechnung mit den Konservativen sie als einen unerhört pro— 
rokatorischen Vorstoß bezeichnet. 
Die mationalliberale Kölnische Zeitung dagegen 
iimmt einen Standpunkt ein, den wir bereits in unserer heutigen 
Horgenausgabe in ähnlichem Sinne präzisiert haben. Sie 
neint u. a.: 
„Die Erweiterung zu Verträgen über internatinale Ab— 
rüstung und bedingungslose Zuständigkeit der Schiedsgerichte ist 
iicher im Grundsatz erstrebenswert, und es fragt sich nur, ob 
der praktische Politiker das auch erreichen kann, was der 
Ideologe und der Menschenfreund wünschen. Herr v. Beth— 
nann sagt „nein“, und er wird damit voraus- 
ichthich recht behalten, „so lange die Menschen Menschen 
ind die Staaten Staaten sind“. Deutschland steht nun einmal 
in dem Rufe, daß es dye Rüstungen der Rüstungen halber be— 
treibe, und so töricht eine solche Unterstellung auch ist, so ver⸗ 
ehlt sie doch nicht den Eindruck und schadet nach manchen Seiten. 
Auch wir glauben nicht, daß ein englischer oder 
amerikanischer Minister mit einem wirk— 
lbich brauchbaren Abrüstungsvorschlage kommen 
wird, und sollte er Kien Versuch machen, so werden ihm die 
Hründe entgegenstehen, die Herr v. Bethmann 
so überzeugend dargelegt hat. Immerhin hätte man 
die Möglichkeit eines solchen Vorschlags offen lassen sollen, da- 
nit nicht wieder behauptet werden kann, daß Deutschland grund— 
äßzlich einer internationalen Einigung widerstrebe. Ehrlicher und 
»fsener ist es ja, wenn der Reichskanzler das Schwergewicht 
einer Tarstellung auf die Hindernisse legte, die ihm so unüber— 
teigbar scheinen, daß er auch den begeistertsten Aposteln der 
Abrüstung und der Schiedsgerichte nicht zutraut, eine brauch— 
»are Formel zu finden. Im übrigen glauben wir, daß, wenn 
es gegen alle Erwartung menschlichem Scharfsinn gelingen sollte, 
ine solche Formel zu entdecken, Deutschland nicht eigensinnig 
zeiseite slehen, sondern sich im Gegenteile freuen würde, daß 
andere das fertig bekommen haben, was uns vorläufig noch 
unmöglich scheint.“ 
Ausland. 
Auch in Paris hat die Kanzlerrede ein nachhaltiges Echo 
geweckt, wie aus nachfolgenden Aeußerungen hervorgeht, die 
eine wesentlich schärfere Kritik an der Rede üben, wie die heuts 
norgen bereits erwähnten Zeitungen. 
— — — — — 
dich beschäftigt, miteinander durchsprechen. Morgen gehe ich 
erst mal auf eine kurze Zeit nach Oldenburg zu meinem 
ilten Freunde Karl, weißt du.“ 
—„Willst du dir da eine Braut herholen?“ fragte Hinrich. 
Herhard fuhr auf.. 
„Wie kommst du auf dergleichen?“ 
„Du hast ja eben selbst vom Heiraten angefangen,“ sagte 
der Bruder. „Da mußt du doch wohl darüber nachgedacht 
zaben; du bist ja auch älter als ich. Uebrigens sagte Christiane 
neulich auch so etwas.“ 
„Was sagte Christiane?“. 
.Sie meinte, mit der reichen Kaufmannstochter in Bremen 
scheine es ja doch wohl nichts zu werden, die wollte wohl 
gjöher hinaus und ihr Vater auch; sonst würdest du jetzt 
nicht mit einem Male von da fortgehen.“ 
Gerhard wollte aufbrausen, aber er bezwang sich. 
„Ja, und für die andere da in Oldenburg, die du schon 
länger kennst, die Schwester von deinem Doktor Rüder, meine 
ich, ist sie auch nicht eingenommen.“ 
Gerhard stand voll Unmut aui. „Was geht's Christiane 
an, ob ich mich verheitaten will oder nicht, und mit wem? 
Sie weiß darüber weder Bescheid, noch werde ich sie um ihren 
Rat fragen!“ 
„Angehen soll es sie nun doch wohl; sie ist doch unsere 
Schwester.“ Dann sagte er nach einer Pause leise: 
„Sei vorsichtig, Gerhard, und überlege, ob sie auch die 
Rechte ist. Hierher zu uns paßt sie ja gar nicht, sie soll 
o eine Feine sein. Und du würdest uns allen fremd werden. 
— Aber wenn sie dir helfen kann — das ist ja die Haupt⸗ 
sache; denn für sich allein ist keiner froh — du schon gar 
nicht!“ 
Er schien nachzudenken und. sfuhr dann fort: 
„Wenn sie nur keine von der Sorte ist, die mit ihrem 
feinen Getue etwas verdecken wollen, was nicht da ist, das 
ie gar nicht in sich haben.“ J 
„Was meinst du, Bruder, sprich dich aus!“ 
Fortsetzung solgt.) 
Die Rede erscheint, wie Figaro sagt, als die 
larste und schärfste Absage, die den 
Ltopien der Abrüstung und des Welt⸗Schieds- 
zerichts erteilt werden kann. Deutschland betrachtet den 
wigen Frieden als Traum, es will nicht auf den Krieg ver—⸗ 
ichten und bis zum Ende seine Rolle als starkes Volk durch- 
ühren. Eine kalte, ruhige Entschlossenheit, ein 
ungespannter Wille, ohne Enthusiasmus, eine deutliche 
kinsicht in das vorgefaßte Ziel, das ohne Herausforde— 
ung, aber auch ohne Schwanken verfolgt wird, spricht aus 
en Worten des Kanzlers, dessen Wesen noch düsterer, noch 
achdenklicher erscheint als seine Sprache. Die Menschlichkeit 
xistiert kaum für ihn, er denkt einzig an Deutschlands Größe 
ind strebt ihr nach als gewissenhafter Mann. 
Das Journal bemerkt, aus den Erklärungen des Kanzlers 
ehe unzweideutig hervor, daß Deutschland nicht geneigt sei, 
ruf Abrüftungsgedanken einzugehen. Der Kanzler, der wirkliche 
zortschritte als Redner zeigt, hat sehr geschickt die Argumente 
»es Non possumus zur Ueberzeugung seiner Hörer zu ver— 
venden verstanden. 
Echo de Paris bezeichnet die Kanzlerrede als nüßlich, 
im gewisse unverbesserliche Schwärmer in Frankreich und Eng⸗— 
and von ihren Illusionen zu heilen, falls dies überhaupt 
nöglich wäre. 
Aus England schreiben die radikalen Daily News: 
die Rede des Reichskanzlers hat enttäuscht. 
zerr v. Bethmann-Hollweg hat über die Abrüstungsfrage nichts 
inderes gesagt, als was schon mancher deutsche Kanzler vor 
hinm gesagt hat. Man wäre glücklich gewesen, wenn man 
ndlich positive Vorschläge von der deutschen Regierung ge— 
hört hätte. 
Im Daily Expreß heißt es dagegen: Man braucht 
an der Idee eines internationalen Schiedsgerichts deshalb 
noch nicht gleich zu verzweifeln, weil Deruckchland mit Miß⸗ 
trauen dieser großen Idee gegenübersteht. Die Hauptsache ist 
die Organisation einer englisch-amerikanischen Friedensliga. 
Inland und Ausland. 
Deutsches Reqi. 
Der angebliche Revers von Immeunstadt. Der national—⸗ 
iberale Reichsstagsabg. Dr. Thoma gibt zur Frage des 
ingeblichen Reverses folgende Erklärung ab: 
„Um jeder weiteren Legendenbildung ein Ende zu 
machen, erkläre ich hiermit, daß ich nach wie vor materiell 
auf dem Boden der vier Immenstadter Punkte stehe und 
dies durch meine Abstimmung jederzeit bekunden werde. 
Formell muß ich mich aber verwahren gegen die Sach— 
darstellung in der gegnerischen Presse, als ob ich zur An— 
erkennung der vier Punkte erst zwischen der Haupt- und Stich- 
wahl durch Unterschreibung eines sozialdemokratischen 
„Reverses“ hätte gezwungen werden müssen und als ob ich 
»adurch eine unzulässige Bindung bei Ausübung meines 
Mandates eingegangen sei. Ich habe auf Anfrage ein— 
ach ertlärt, daß ich getreu meinem Programm und meiner 
eitherigen politischen Haltung und Ueberzeugung gegen jede 
Verschlechterung des Reichstagswahlrechtes und des Koalitions— 
rechtes, gegen Ausnahmegesetze und gegen die Einschränkung 
»er Selbstverwaltung bei der Sozialgesetzgebung stimmen 
werde.“ 
Zur Jatho⸗Angelegenheit. Der Pfarrer Radeke ist 
vegen seiner Berliner Jatho-Rede vom Koblenzer Konsistoriunt 
erantwortlich vernommen worden. Der Evangeli— 
che Kirchen⸗Anzeiger teilt in offiziösem Druck mit, daß der 
vangelische Oberkirchenrat die Angelegenheit Jatho 
em Spruch⸗Kollegium übergeben hat. 
Denkmalichutz in Württenberg. Im Finanzausschuß teilte 
»er Kultusminister mit, daß im Herbst dieses Jahres dem 
Landtag ein Denktmalschutzgesetz vorgelegt werden 
vird. — Bekanntlich wird dieses Projelt auch in Lübeck 
ereits seit längerer Zeit gefördert. Dabei hat man bei 
ins ein bereits in Hessen bestehendes Gesetz zum Vorbilde ge— 
iommen. 
Die Schiffahrtsabgaben-Kommission beriet gestern den 
3 7 und verstärkte den Strombeirat des Rheinver— 
»andes von 48 Mitgliedern auf 96, den des Elbver— 
andes von 28 Mitgliedern auf 56 und beschloß die Oeffent— 
ichkeit der Sitzungen der Stromverbände. Weiter wurde ein 
Antrag angenommen, wonach die Mitglieder der Strombei— 
äte jedesmal auf 5 Jahre zu wählen seien. Die Beratung 
des 8 7 wurde nicht zu Ende geführt 
Theater, Kunst und Wissenschaft. 
Lübeck 1. April. 
Stadttheater. 
Sans (Grave) 
von Benno Diederich. 
Zum mindesten ein sehr ungewöhnliches Stück, wenn man 
son einem wirklichen Stücke hier überhaupt sprechen kann. 
denn eigentlich ist es nur eine einzige, lang ausgedehnte und 
ang ausgesonnene Sterbeszene eines jungen Menschen, des ein— 
igen Sohnes und Augapfels eines oelten Witwers, gelegent— 
ich nur unterbrochen und unheimlich belebt durch die ge— 
penstische Erscheinung der nicht lange vorher gestorbenen Mutter. 
die sinnenfällige Schilderung der Angst des alten Vaters um 
as langsam erlöschende Leben des über alles geliebten 
zohnes, die auflodernde Liebe zum Leben in dem jungen 
Renschen angesichts des Besuches eines in schwärmerischem Ju— 
endüberschwang geliebten Nachbarkindes, eines überschnell be— 
eits mit einem anderen Freunde slirtenden Badfisches, und 
ndlich, last not least, die unter Vernachlässigung aller guter 
lter Geistersitte bereits in der ersten Abenddämmerung sich 
eigende Erscheinung der spukenden Mutter just in denselben 
lugenblicken, wo der alte Vater, ohne jenen Hellblick der 
zterbenden, die Unmöglichkeit von Geistererscheinungen dem 
Sohne demonstriert, alles das ergibt ein raffiniert auf die 
derven fallendes Gemisch. Im Inteilesse der ungestörten Nacht⸗— 
uhe der Zuschauer, von denen ein guter Teil während des 
zanzen in heftiger Verängstigung dasaß, war es daher nur 
nit Freuden zu begrüßen, daß ein den Schluß des Abends 
ildendes zweites Stüch — „Thalea Bronkema“ — die Er— 
merung an das erste wohltätig abschwächen lonnte. 
der Verfasser ist anscheinend erfolgreich bei dem 
ßespenstergeschichten⸗Erzähler Hoffmamn in die Schule 
egangen, nur daß jener movellistisch doch noch 
indere Wirkungen erzielt, als dieser dramatische. Denn 
venn man von Hoffmann mit einiger Wahrscheinlichkeit 
rzählt, daß er sich abends nie gerne allein befunden, 
veil er sich vor seinen eigenen Geschichten gefürchtet habe, 
o verliert doch bei einigermaßen nervenkräftigeren Zu— 
chauern der Dietrichsche dramatische Geilt mit ieder leiner 
Die Jugendpflege in Breußen. Der Mitnister für Hande 
nd Gewerbe hat die Regierungspräsidenten aufgefordert, den 
ekannten Erlaß des Kultusministers über die Jugend— 
flege den Regierungs- und Gewerbeschulräten, den Regie⸗ 
ungs und Gewerberäten sowie den Revisoren und Leitern der 
Fortbildungs- und Fachschulen zugehen zu lassen. Auch sollen 
zie Regierungspräsidenten dahin wirken, daß alle mit dem 
Fortbildungs- und Fachschulwesen befahten Beamten und 
dehrer der Handels- und Gewerbe⸗Verwaltung sich angelegen 
sein lassen, nach besten Kräften an der Förderung der Jugend— 
flege mitzuarbeiten. Insbesondere legt der Minister Wert 
darauf, daß sie in die zu bildenden Jugendpflegeausschüsse 
intreten und dazu beitragen, die Beziehungen zwischen den 
Fach⸗ und Fortbildungsschulen und den Veranstaltungen der 
Jugendpflege lebendig und fruchtbar zu gestalten. 
Der Verband der deutschen Diplom⸗Ingenieure und die 
Privatbeamtenversicherung. Wie so viele andere Körper- 
chaften, Kassen und Vereine der verschiedensten Berufsgebiete 
hat auch der Verband deutscher Diplom⸗-Ingenieure gegen den 
Hesetzentwurf über die Privatbeamtenversicherung Stellung 
jenommen. Die Bedenken und Einwände dieser Vereinigung 
ind aus der folgenden Resolution ersichtlich: „Da der vor—⸗ 
iegende Entwurf nach Ansicht des Verbandes deutscher Diplom- 
Ingenieure in vollem Umfange für die Verhältnisse der un— 
eren Gruppen der Angestellten zugeschnitten ist, demgemäß 
cie Leistungen nicht entfernt der Lebenshaltung der akademisch 
jebildeten Personen genügen, da weiterhin das Gefühl für die 
Zelbstverantwortlichkeit in akademisch gebildeten Kreisen vor— 
ruszusetzen ist und durch Zwangsgesetz nicht geschwächt werden 
oll, so besteht der Verband darauf, daß die Diplom-In⸗ 
genieure dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht angereiht werden.“ 
* 
Tageshericht. 
Lübeck, J. April. 
MWeZum zweiten Beamten am Staatsarchiv hat der Senat 
zerrn Dr. F. Rörig-Göttingen, früher am Kaiserlichen 
Bezerksarchiv in Metz, ernannt. Herr Dr. Rörig hat heute 
hier sein Amt angetreten. 
Frauengewerbeschule. Es bestanden nach voraufgegan— 
gener schriftlicher und mündlicher Prüfung das Examen für 
zeichenlehrerinnen an Volks- und Mittelschulen Frl. Gertrud 
zurmeister, Elisabeth Hasse, Emma Hasse, Margarethe Hassel⸗ 
»ring, Käte Hesse, Elsbeth Hoch, Elsbeth Klein, Anna Möller, 
Mathilde Reher, Marg. Reimann, Lilli Richter, Helene Starcky, 
Gertrud Tralow geb. Meyer und Käte Wilde. 
O Das Parteiprogramm der Sozialdemokratie bildete 
jestern den Gegenstand eines Referates im Neuen Frauen— 
»erein. Zum Referenten hatte man Herrn Redak⸗— 
eur Stelling vom Lübecker Volksboten aus— 
rsehen. Als Grundlage seiner Ausführungen benutzte der Vor⸗ 
rragende das Erfurter Programm aus dem Jahre 1891, und 
war sprach er zur Hauptsache über den grundsätzlichen 
Teil. Die praktischen Forderungen kamen leider wegen der 
borgerückten Zeit etwas reichlich kurz weg. Wir wissen nun 
nicht, ob das in der Absicht des Herrn Stelling gelegen hat. 
Jedenfalls glauben wir, daß er auf mehr Verständnis 
ür die Aufgaben und Ziele der Sozialdemo— 
ratie hätterechnen können, wenner denletzteren 
Teil ausführlicher besprochen hätte. Wir haben 
schon manchen sozialdemokratischen Redner gehört, der das in 
zurchaus effeltvoller Weise getan hat. Diese Redner brauchten 
ich dabei denn auch nicht so tief auf die historische Ent— 
vickelung und die schwierigen Gedankengewinde von Karl 
Vlarx einlassen, die noch heute von sehr wenigen seiner An—⸗ 
— 
ilt namentlich von den Begriffen „Mensch als Ware“ und 
on der Krisen- und Verelendungstheorie. Den Hörern und 
zörerinnen des gestrigen Vortrages aber, welche die gebotenen 
Anregungen zum weiteren Nachdenken benutzen möchten, können 
vir empfehlen, sich auch einmal mit dem geistig mindestens 
»benso hochstehenden Sozialisten Lassalle und dessen Werken 
u beschäftigen. Wir möchten dies besonders deshalb her⸗ 
»orgehoben wissen, weil sie gestern eigentlich nur die radikale 
dichtung Kantsky, Bebel usw. kennen lernen konnten. Die 
hrundlage dieser Richtung bildet bekanntlich noch immer das' 
im die Mitte des 19. Jahrhunderts verfaßte Werk „Das“ 
Zapital“ von Karl Marx, das vorwiegend die damaligen eng⸗ 
ischen und nicht die jetzigen deutschen Verhältnisse im Augs 
hat. Die andere moderne und gemäkiatere Richtung in 
allzuhäufigen Erscheinungen an schauriger Wirkung, bis ei 
sie, als er nun am Ende gar ganz körperlich zu sprechen 
und zu beten anfängt, nahezu ganz einbüßt. Ungerecht 
iber wäre es, wenn man trotz dieser Aussetzungen nicht 
inerkennen wollte, daß der Verfasser es verstana 
»en habe, ein ergreifendes Gemälde zweier Men⸗ 
chenseelen in schweren, enischeidungspvollen Augenblicken 
ungeben. Vielleich nur hätte er noch packender; 
ewirkt, wenn er trotz der, absolut genommen, ja nur kurzen 
dauer seines Stückes, doch noch an einigen Stellen auf eins 
beitere Kürzung Bedacht genommen hätte. So aber drohß 
ei dem Mangel aller Handlung manchmal das Interesse an 
em, wenn auch noch so beklagenswerten Schicksal des jungen 
Menschen zu erlahmen. Die Aufnahme, die das Stück von 
»em gut besuchten Hause fand, war recht zurüchhaltend, ob— 
bohl die Darsteller es nirgends fehlen ließen und auch die 
degie ihres Amtes, besonders auch in den leicht ja der Lächer— 
ichkeit verfallenden Geisterszenen einwandfrei waltete. Herr 
Faube gab den Schmerz des alten Vaters mit ergreifender 
datürlichkeit. Herr Ellmar wußte nicht minder das tiefe 
hrausen des Sohnes vor dem vor ihm sich auftuenden Dunkel 
es Todes und lein leidenschaftliches Sichanklammern an 
as Dasein zum Ausdruck zu bringen. Nur ließ er sich in 
einem Streben nach Realistik dazu verleiten, die Worte des 
zterbenden teilweise so leise hinzumurmeln, daß sie im Zu— 
chauerraum platterdings unverständlich blieben. Das 
zublikum ist aber nun einmal der Ansicht, daß die Darsteller 
icht für sich, sondern für es selbst spielen sollen und es 
apriziert sich daher darauf, sie wenigstéüs zu verstehen. Dem 
zyrl. Tscherning, um auch dieses nicht zu übergehen, gelang die 
Viedergabe des harmlos leichtblütigen Backfisches vortreff⸗ 
ich. Der Geist der Mutter ward nach dem Theaterzettel — 
u erkennen war es nicht — von Frl. Betke gesprochen, an— 
angs recht gut, bis dann so allmählich doch ein wenig zu viel 
deben in die arme Tote kam. Solche Tote wollen 
virklich recht vorsichtig und zurückhaltend behandelt sein. 
die Toten sprechen nicht moduliert, mit Gefühl und mit 
lusdruck, sondern mehr fern von allem Menschlichen, „unbe⸗ 
tont“, wie Grillparzer, der es doch wissen muß, in der 
„Ahnfrau“ saat. aleichmäkig verhguchend. kaum die Luft be—⸗
	        
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