Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

nmges Sito. Es IIt selostverstãndsich, daß wir diesem 
chtveren Dienstzweige die größte Aufmerksamkeit widmen. Ve— 
rechtigten Beschwerden der Lokomotivführer und Heizer, denen 
eeben und Sicherheit von Millionen anvertraut wird, werden 
vir stets gern Gehör schenken. 
Bei den Ausgaben für „Arbeitslöhne“ bemerkt 
Abg. Emmel (Soz.): Auch den Eisenbahnarbeitern muß 
»as Streikrecht zugestanden werden; denn es gibt kein Ge— 
etz, wonach jemand gezwungen werden kann, zur Arbeit zu 
zehen. Deshalb ist das Streikrecht ein selbstverständliches Recht. 
In den Reichseisenbahninstituten. bestehen keineswegs glänzende 
Verhältnisse, als Musteranstalten können fie nicht hagesrrdäen 
verden. Die Steigerurg der Löhne entspricht nicht der Teue— 
rung der Lebensmittel. Den Arbeitern die Lektuͤre sozialdemo⸗ 
ratischer Blätter zu verbieten, ist unzulässig. (Präsident Graf 
earn mahnt den Reduer, beim Thema zu bleiben.) Die 
Arbeiter müssen sich doch von ihren Löhnen die sogialdemokrati— 
che Lektüre veschaffen. (Große Heiterkeit) 
Präsident Graf Schwerin Dann steht jedenfalls diese Sache 
n sehr losem Zusgmmenhange mit dem Etat. Dann heze sic 
schließlich über alles hier reden. 
Abg. Emmel: Nach einer behördlichen Aufforderung soll 
der, Diebstahl geringer beurteilt werden dis die Betaginig so— 
ialdemokratischer Gesinnung. Das beweift doch einen außer— 
xdeuntlich großen Tiefstand der Gesinnung, daß der betreffende 
Beamte nicht wert ist, Beamter zu sein. Bravo! bei den Soß. 
edebonr ruft: Fer Minister schweigt.) 
Abg. Hauß (Els. Zentr.): Das Angebot der Arbeiter bei 
en Eisenbähnwertstätten ift ertlärlich; denn alles 
nöchte an der Staatskrippe essen. Die Lohnverhältnisse der 
Arbeiter in Elsaß Lothringen ainden dringend revidiert werden. 
Abg. Behrens (Wirtsch. Voge: Wir sind nicht gewillt, das 
Arbeitsktammergefesz daran scheitern zu lassen, daß die 
Fisenbahner ihnen unterftellt werden. Dies entspricht auch der 
Ansicht der Eisenbahnarbeiter⸗Verbaͤnde diese wünschen als Er—⸗ 
gtz den Ausbau der Arbeiterausschüfse. Praktisch hat das 
Streikrecht für die Arbeiter kenen Wert; unter Umständen 
ann es sogar gefahrvoll werden. In Frankreich ist der Streik 
kein Segen gewesen, weder für den Staat, noch fuüͤr die Arbeiter. 
Sehr wahrs) 
Staatsminister v. Breitenbach: Der Andrang der Arbeiter 
st darauf zurückzuführen. daß sie nach einer ficheren Lebensbeschaͤf⸗ 
igung streben. Ieidriitel der Arbeiter werden im Laufe der 
Jahre Beamte. Die Regesung der AÄrbeitzlbhre 
nuß., sich den jeweiligen Verhältnisfen anpassen. Sie müssen ört⸗ 
ach festaesetzt werden. Deshalb st es möglich, daß an einem 
Orte eine Aufbesserung eintritt, an einem anderen nichi. Herrn 
Emmel fehlt jedes Verstaͤndnis dafür, daß zwischen der Arbeiter— 
—B 
bestehen kann. Dies ist aber notwendig, und deshalb verlangen 
vir mit Recht, daß, wenn sich Arbeiler vereinigen, üm über Löhne 
ind Arbeitsbedingungen zu beraten, die Verwaltung informiert 
vird. Der ganz überwiegende Teil der Arbeiter erkenute dies 
auch an. Bravo!) 
Abg. Hormann (F. Vp.): Die Axrbeiterlöhne sind nicht 
ausreichend. Das Minus in ihrem Etat muß durch Mitarbeit 
der Frau ausgeglichen werden. Das ist ein ungefunder Zustand. 
Nach weiteren Bemertungen der Abgg. Carstens (Vpt.), 
Wetzel (nl.) und Emmel ESoz.) wird det Titel bewilligt. 
Die Resolution Behrens wird angenommen; fie 
autet: 
Den Reichskanzler zu ersuchen, die Verwaltung der Reichs— 
eisen bahnen anzuweisen, daß 1) möglichst für alle Arbeiter in den 
Werkstätten, Betrieb und Bahnunterhaltung, Arbeiterausschüsse er— 
richtet werden; 2) den Arbeilerausschüffen bei Gestaltung der 
Lohn- und Arbeitsbedingungen eine geeignete Mitwirkung ermög— 
icht wird; 83) in, dem Bericht über die Verwaltung der Reichs- 
isenbahnen auch über die Tätigkeit der Arbeiterausschüsse berichtet 
vird; 4) alle Arbeiter und Handwerker der Reichseisenbahnen 
igch zehnjähriger einwandsfreier Dienstzeit aus dem Arbeitsver⸗ 
Jältnis mit 14tägiger Kündigung in ein gefichertes Ärbeisver— 
jältnis (Diplomverhältnis) überführt werden 
Abg. Göring (Zir.) wünscht bessere Bahnverbindungen der 
Bahrischen Pfalzemit Eisaß-Lothringen. *5 
Staatsminister v. Breitenbach: In kurger Zeit wird die Pfalz 
urch drei neue Bahnen mit Elsaß-Lothringen verbunden sein. 
Abg. Hauß (3tr.); Bei starkem Vertehr werden im Elsaß 
Bagen 4. Klasfe durch Anhängen eines Schildes in Wagen 
. Klasse verwandelt. Das sollte unterfagt werden. 
Abg. Dr. Spahn-Warburg (Hir); Im Interesse des Reichs⸗ 
—B 
iche Entwicklung des Elsaß verlangt einen weneren Ausbau des 
vortigen Bahnnetzes. 
Minister v. Breitenbach: Den Schwierigkeiten der Stadt 
traßburg wird Rechnung getragen die Requlierung des 
Merrheins wird für den Straßbinger Hafen don größter wirtschaft⸗ 
icher Bedeutung sein. Wir laffen uns die Hebung des dortigen 
berkehrs besonders angelegen sein. 
Abg. Gothein (Fortschr, Vpi.): Die Angliederung Elsaßs- 
dothringens an Deutfschland hat dem Reichslande einen außer⸗ 
ordentlichen Absatß an Tertilfabrikaten nach dem übrigen Deut sch⸗ 
and Kewonncu; ebenso steht es mit dem dorigen Weinbaus Wirl 
chastlich hat Elsaß⸗Lothringen bei der Annexion einen guten Tausch 
zemacht. Zum Absatz der Erzeugnisse qehört aber, neben dem 
Verkehr auch eine zunehmende Bevöllerungszahl. Diese sehlt aber 
ni Elsaß, wo die Einwohnerzahl geradezu sanniert. Wir dürfen 
nicht im partikularistischen Sinne die Reichslande bevorzugen und 
Mannheim dehossedieren. Wir wollen alles zur Erleichterung des 
Verkehrs im Elsaß tun, aber nichts zum Nachteil eines anderen 
Landesteiles. Uebrigens, wie kommt Dr. Spahn-Warburg daau für 
Straßburg zu plädierens Oder fieht eine Verschiebung der Wahl— 
reise bevors (Große Heitereit) 
Abg. Birkenmayer (Zenir.). Dr. Spahn hat einseirig 
Vaßz⸗ lothringische Julereffen verlreten zum RNoachten Badens. 
Dagegen möchte ich mich entschieden wenden. Baden hat bei An⸗ 
egung seiner Bahnen viel größere Schwierigkeiten zu über— 
viunden gehabt als das Reichsland. Deshalb sind wir alle auch 
tolz auf unsere Schöpfungen Ich mue ntschieden Front 
wachen gegen, die Darsegungen! dyr. Spahns. 
Viele Sozialdemokraten und Nationalliberale bealütwüntn 
hen Redner.) J 
Abg. Dr. Evahn (Hentr.): Ich bin voller Bewunderung für 
die badische Verkehrspolitik, die wir als vorbildlich halten. Künst⸗ 
liche Mittel zur Hebung des Verkehrs wünschen wir nicht, nur 
oll die günstige Lage Straßburgs ausgenutzt werden. Manitheim 
wird dabei nicht zugrunde gehen. Im übrigen bin ich berechtigt, 
als deutscher Abgeordneter auch über die elfässischen Verhaͤlinufe 
juu reden, die ich genau kenne. 
Abbg. Hothein Kortschr. Volkspt.): Die zweite Rede Dr. 
—A— 
Der Etat wird bewilligt. Darauf tritt Vertagung ein. Nächste 
Sitzung Mittwoch 12 Ubr: Etat des Reichseisenbahnamts, des 
Reichstages, des Reichsschatzamtes usw. 
Schluß 738 Uhr 
Aus einer Beschwerdemappe. 
Der Pariser Matin bringt jetzt jeden Mittwoch unter der 
Spitzmarke „On réclame“ eine Seile Beschwerden über alleßs und 
ioch einiges, was einen friedlichen Menschen und Staatsbürger 
rgern kann. Nach dem Plane des Boulevardblattes soll auf der Be— 
chwerdeseite jeder Franzose zu Wort konmen dürfen; es ist aber 
chon so „eingerichtel“, daß nur Namen von Klang sich der Oeffent 
ichleit präsentieren. Unter den Beschwerden der letzten Mittwoch— 
ndumner verdienen drei als besonders interessant und amüsant her⸗ 
»orgehoben zu werden. Zuerst proklamiert Marcel Prévoit 
eierlich den Satz, daß „Duldsamkeit eine Tugend ist, aber nicht, wo 
s sich um seen „Die Duldsambkeit, deren sich die 
laviere exfreuen“, schreibt er, . etwas ganz Unerklärliches. Daß 
8 einem Bürger erlaubt sein so l, durch einen Lärm, an dem er 
llein Vergnügen sindet zwanzig oder dreißig seiner Nachbacn auf 
inmal zu stören, das ift durchgus gegen die soziale Billigkeit und 
gegen den gesunden Menschenverstand, Wie sollen denn aber die Künst— 
er arbeiten, wird man einwenden. Wie sollen die Kinder Klavier— 
pielen lernen? Man bringe die klavierspielenden Menschen in einen 
dnders abgeschlossenen Stadtteil, in dem sie ihre geraͤuschvollen 
dünste gegeneinander loslassen mögen. Oder man inöge, was durch— 
us möglich ist, mm Mieishäusern nur mit Schalldämpfern ver— 
ehene Klaviere, nur flüsternde Klaviere zulafsenEs 'st durch 
ichts gerechtiertiat, daß dein Lärm das Recht haben soll, bei mi 
einzudringen, während mein Swegen deine WVohnung respektiert.“ 
Eine andere Klage bringt die Schriftstellerin Marcelle Tinayre 
»or. Sie gibt zu, daß der Hosenrockerecht häßlich ist, behauptet 
ber gleichzeitig, daß das Verhalten, das die Männerwelt diesem 
ieuesten Kleidungsstück der Damen gegenüber an den Tag legt, noch 
veit eee Ich will hier“, so erklärt sie, „den Hosenrod nicht 
oben oder auch nur kritisteren, und wenn ich diese hereits recht alte 
Aktualität“ wieder aufs Tapet bringe, so tue es nicht von 
isthetischen Gesichtspunkten aus. Ich 3 abscheuliche e 
esehen, aber auch recht hübsche, und ich habe sie ganz uninteressiert 
etrachtet, da ich zu den reattionären Freuen gehöre und noch im⸗ 
ner einen richtigen Weiberrock trage. Was mich aber weit e 
ünkte als die häßlichsten Phantasien der Mode, ist die Haltung, 
„ie die Menge den armen weeeeen Frauen gegenüber 
eigen zu müssen glaubt. Auf den Rennplätzen, 3 dem Boulevard, 
iuf dem Opernplatz wurden „Anprobierdamen“, Angestellte großer 
Ichneider, die nach dem Willen ihrer Chefs Hosenröcke tragen muß— 
en, auße gröblichsie beleidigt und selbst tätlich I3 — In Lon— 
on und WMiadrid hat man sie beschimpft. In Wien schritt man von 
Beschimpfungen zu Handgreiflichkeiten Es gibt Leute, die das drol⸗ 
ig ö3 * finde das empörend. Der Hosenrock ist nicht hübsch, 
ugegeben; aber er ist nicht indezent, jedenfalls nicht unschicklicher 
Is die weite gefällete Hose der tuͤrkischen Bäuerinnen und als das 
dadlerinnen⸗Kostüm, das früher alle Frauen tragen durften. Der 
umpelrock weit weniger schicklich Man kann ia das ungewohnte 
leidungsstück lächerlich Nhbi aber das Lächerliche darf nur mit 
achen, in der Karikatur und in Spottliedern abgetan werden. In 
zirklichleit ist es der Menge gar nicht um Aesthelik und Moral zu 
uin; sie ergreift vielmehr mit Freude die Gelegenheit, ohne Gefahr 
inen brutalen Instinkt zu befriedigen. Sehr tapferte Manner. begin⸗ 
jen damit, daß sie einer armen Frau, die nicht in gleicher Weise ant— 
»orten kann, Invektiven ins Gesicht schleudern, ünd gehen schließ— 
ich zu Belästigungen über; wenn man es rühig geschehen ließe, 
vurden die braven Helden aͤuch dreinhauen. Ob Probierdamen oder 
)Namen der Gesellschaft, die Pariserinnen haben das Vege sich in dem 
dostüm zu zeigen, das ihnen gefällt, wenn es nuren hHt schamver⸗ 
etzend wirkt. Etwas Scheußlicheres, Komischeres als die Angströhre 
xrr Männer werden sie nicht leicht erfinden können. Und fuͤr ihre 
Extravaganzen einer Saison oder einer Woche werden sie durch den 
Streit der Verehrer genugsam bestraft sein ...“ 
Nach dieser geharnischten Strafpredigt einer empörten Frau 
nimmt sich die launige Epistel, die wir in nachstehendem wiedergeben, 
esonders amüsant aus, zumal wenn man ersährt, daß der Nann, 
»er sie entworfen hat, zůnftiger Diplomat, ist. Er heißt Fernand Ga— 
»arry, ist Sektionschef im Ministerium des Aeußern und verlangt 
nichts mehr und nichts weniger, als die Einführung amtlicher 
kede-Erlaubnißscheine', (nach Art der Jagdscheine, der 
Scheine, die das Waffentragen erlauben, usw.) „Es ist bedauerlich,“ 
chreibt er, „daß in einer gesellschaftlichen Organisation, in der das 
sevolvertragen und der Transport von Explosivstoffen aufs strengste 
erboten ist, der Gebrauch des Wortes, das doch seng zu den ge⸗ 
kährlichsten aller Waffen gehört, nicht wesentlich eingeschränkt wird. 
Ich fordere also die Einsehzuüng einer Kommission, die einen Redner— 
ẽrlaubnisschein nur solchen Leuten geben duͤrfte, die hinreichende 
garantien dafür böten, daß sie davon ihren Zeitgenossen nicht schäd⸗ 
ichen Gebrauch zu machen gedenken. Wle es Arbeitsinspekteren gtt 
nüßte man Redeinspeltoren anstellen. Ihr Amt wäre durchaus keine 
Sinekure, und ich will ihnen jetzt schon eine ganze Anzahl Leute be— 
eichnen, die von der ihnen vernehenen Gabe der Rede einen ganz 
imerlaubten Gebrauch machen: da sind die Leute, die im Eisenbaͤhn⸗ 
oder Straßenbahnwagen ihre häuslichen oder rein persoöͤnlichen An— 
elegenheiten laut mit ihrem Nachbar plaudern und daduͤrch die 
uze andere Iaest stören; die Leute, die durch die Nase 
prechen; die Klubmitglieder, die in den Lesezimmern ihre Aben—⸗ 
euer mit Weibern hinausschreien; die Herren, die schöne Bankette 
urch endlose, törichte Trinksprüche stören; die Schaufpieler, die 
eise sprechen und dabei noch dem Publikum den Rücken zuwenden; 
ie Leute, die sich immer und überäll vom Wetter unterhalten; die 
leute, die von jedem Menschen Gutes reden; die Leute, die einem 
nitten im Satz das Wort abschneiden; die Leue, die fortwahrend 
ragen, ohne irgend eine Antwort abzuwarten die langweiligen 
henschen, die ellenlange Geschichten erzählen und jeden Satz mit 
em Wort „kurz“ beginnen; die aee Sänger, die in Ge— 
ellschaft immer sentimentale Romanzen singen; die Frauen, die uns 
eteuern, daß sie uns lieben; die de die Anspselungen auf den 
zerfalltag des enh machen; die Couférenciers saͤmtlicher Ge— 
chlechter; endlich un haupifaͤchlich alle Leute, die immer nur von 
ich selbst sprechen.“ 
— — 
Hausãrzte in früheren Zeiten. 
Die Kunst des Aeskulap hat bereits im Altertum in hoher Blüte 
estanden, aber in der christlichen Aera ist fie erst langsam wieder aus 
inem A von Aberglauben und Leichtsinn zu einer Wissenschaft 
rhoben worden. Aus diesen Anfängen und langsamen Fortschritten 
er Geschichte der modernen Heilkunst erzählt H. de Gallier viele 
nteressante Einzelheiten in einem Aufsatz det Revue. 
Im Mittelalter war die Kunst des Arztes fast völlig in den 
dänden der Kirche. Gregor von Tours. versichert, daß er in seinem 
zeben nur zwei Aerzte gesehen habe, die ein wenig von der Medizin 
erstanden; die anderen waren Priester, bei denen man nicht nach 
hren Kenntnissen, sondern nur nach ihrer Frömmigkeit fragte. Noch 
m 13. Jahrhundert studierten auf der Universität Montpellier, die 
amals entstand, fast nur Geistliche Medizin. Ein weiterer Beweis 
ür die Gleichstellung der Jünger des Aeskulap mit den Mönchen 
var die Forderung des Zoͤlibats für alle Aerzte. So wurde in 
frankreich den Lehrern der Heilkunde erst im 15. Jahrhundert die 
deirat gestattet. und den Schülern war es vor 1600 noch nicht er— 
aubt, sich zu verehelichen. Die Wissenschaft der Heilkunde, soweit 
ine solche schon bestand, war noch völlig in astrologischem Aber— 
lauben besfangen, und die gute Tradition aus dem Altertum wurde 
öchstens durch einige ungenau erschlossene arabische Quellen ver— 
tittelt. Bielfach waren diese Hausärzte des Mittelalters Juden, 
nd fie betrieben neben ihrem medizinischen Beruf auch noch aus⸗ 
edehnte Handelsgeschäfte, verkausten ihren Klienten Stoffe und 
Achmuckgegenstände, liehen ihnen „aus Freundschaft“. d. h. gegen 
ohe Zinsen, Geld. 
Einige Städte fingen. um solchen Mißständen abzuhelfen, an, 
m 14. und 15. Jahrhundert bestimmte Stadlaͤrzte einzusezen, die ein 
estes Gehalt, etwa 80 Florin Gold das Jahr, erhielfen. Dafür 
außten sie die Bürger behandeln, doch wurben ihnen für den Be— 
uch bei Lepra- und Pestkranken, sowie bei den Quarantäne-Unter⸗ 
uchungen in den Häfen wegen der großen Ansteckungsgefahr beson— 
ere nicht unbedeubende Gratifikationen gewährt. Wo der Hausarzt 
rzicht von der Stadt auf ein Fixum festgebegt war, da mißte er sich 
nit ziemlich geringen Honoraren begnügen. Wir wissen z. B. aus 
em Jahre 1348 von Dulceline de Sade, daß sie sich in einer Krank— 
seit von drei Aerzten behandeln ließ, — Juden und einem 
hristen. Jedem bezahlte sie pro Täg einen halben Florin gleich 
2 Sols, doch mußte dafür der Arzt zweimal den Kranken besuchen, 
a sich bis ins 17. Jahrhundert hinein jede „Visite“ aus zwei Kon— 
altationen zusammensetzte. Später setzte dann die Parifer Aerzte— 
haft fest, daß der Arzt für jede wirkliche Konsultation „einen 
Leißen“ gleich 3 Francs nehmen dürse, sür einen einfachen Besuch 
ie Hälfte. Viel war auch das nicht, und mancher bezahlte noch we— 
iiger. Das Ausgabenbuch eines Marseiller Bürgers von 1708 be— 
ichtet z. B.: Gezahlt an den Arzt M. Pelicely für 32 Besuche, die 
x mir während meiner Krankheit in meinem zuse gemacht hat, 
Livres.“ Doch gab es damals schon einige Aerzte, die ganz be— 
eutende Summen verdienten. Einige Chirurgen in Paris uͤnter 
er Regierung Ludwigs XIII. waren so wohlhabend, daß fie ihren 
öhnen für, 15000 oder 16000 Lipres Aemter kaufen konnten. 
leichtümer sammelten die Aerzte der französischen Könige; fie 
rauchten sich nicht an die geringen Summen zu halten, die für ihre 
ollegen festgesetzt waren. Auch die Aerzte der Vornehmen nahmen 
at 17. Jahrhundert an der Freigebigkeit ihrer Herren teil; Colbert 
. B. gab seinem Arzt 1 Lonisdor für die Vifite, und der Herzog 
on Richelieu setzte dem seinen eine bedeutende Rente aus. Wir 
vissen von einem durchaus nicht besonders bekannten oder geluchten 
lrzt des 17. Jahrhunderts, Nicolas Brage, daß er ein großes 
zermögen aus seiner Praxis zusammenbrachte, das ihm 30600 
ivres Rente abwarf. Trotzdem war der englische Arzt Lister über 
ie mäßigen Honorare seiner französischen Kollegen erstaunt. 
Der Ruf der Aerzte war in allen diesen Jahrhunderten außer— 
rdentlich schlecht. Ein berühmtes Dokument dafür ist der klassische 
zrief Petrarcas an den Papst Clemens VI. in dem er sich üher die 
ngeheure Iguoranz und Eitelkeit der damaligen Aeskulap-Jünger 
eklagt. Und so ganz, ohne Grund mögen diese Urkeile nicht gewesen 
ziin. Charlakane und „Naturheilkundige“ spielten die Hauptrolle. 
unter den zwölf Aerzten. von denen Philipp der Schöne migeben 
nar, befand sich ein gewisser Hermingard, der „die Kunst besaß alle 
trantheiten beim dioßen Anbsick des Patienten zu erkennen.“ Un 
lücklicherweise aber starb sein König am Fieber, ohne daß er eine 
hnung davon hatte. Ein anderer Arzt, Arugud Guillaume, rühmte 
ich, er könne Karl VI. durch ein einziges Wort heilen. Aber das 
Vort muß in diesem Falle machtlos gewesen sein, denn gleich nach 
diesem Heilkünftler werden zwei Augustinermönche in Dienst ge— 
nommen, die den Mongrchen mit zu Pulver zerstohenen Verlen“ ge⸗ 
und machen wollten. Ihre Perlen nüden nichts, man enthauptet die 
eiden armen Teufel und läßt zwei Hexenmeifter aus Dijon kommen, 
die nicht lange dangch öffentlich verbrannt werden. Der Konig 
aher bleibt frank. Noch Ludwig XIV geslatiet der Madam 
Maintenon, den Herzog von Maine inkognito zu einem Tausend⸗ 
ünstler in Antwerpen zu bringen: aber der dunge Prinz kommt ebenfe 
ucklig zurück. wle er in die Hände des Charlatans hekommen war. 
in seiner letzten Krankheit schlürft der Sonnenkönig ein ihm von 
rinem Hexenmeister gereichtes Lebenselixier, das aber seinen Tod 
uicht aufhalten kann. Jämmerlich war der Gesundhbeitszustand im 
Frankreich des 17. und noch des 18. Jahrhunderts In der 
Sonnenstadt“ waren die Strahen mit Kot bedegt; ein entsenlicher 
Bestank Jagerte über ganz Paris und ließ fich srotz strenger Maß— 
egeln nicht wegbringen. Die Segnungen eines Wasserklosetsts sind 
n Frankreich zum ersten Mal Marie Antoinette bei ihrer Krönung 
nutteil geworden. Die Pest und die Lepra müteten. Immer wieder 
esen wir in Briefen der Zeit Klagen darüber, daß so viele Men— 
chen sterben daß überall Tote find und Beerbigungen. die Sterb 
ichleit war damals sebr viel größer als heute aber die Menschen 
nüssen auch eine viel bessere Konstitutivn gehabte haben als heun 
‚utage, wenn doch einige von ihnen die schrecklichen Prozeduren 
iberstanden, die ihre Aerzte mit ihnen vornahmen,. 
Irgentinische Pfadfinder. 
Ein schweizerischer Ingenieur, der im Auftrage der argentinn 
chen Regierung im Süden und Westen des Rio Negro-⸗Territoriunis 
zraße Landkomplexe zu vermessen und einzuieilen hat, veröffentlicht 
im Berner Bund sehr interessante Mitteilungen über das „Leben“ 
in den Gebieten, durch die seine Tätigkeit ihn führt. Wir entnehmen 
einem Berichte eine sseniee Schilderung des argentinischen 
Spursuchers und Pfadfinders. Er schreibt. F 
Die Nachtruhe wird öfter dadurch gestört, daß die beiden Koter 
ole sich bei mir befinden, mit wülendem Gebell in das Dunkel hinaus⸗ 
ürmen und das ganze Lager auf die Beine bringen. Meistens beun— 
uhigt sie nur ein Fuchs, der durch den Fleischgeruch herangelockt 
ourde, manchmal ist es äber auch der Puma oder Silberlöwe, der 
zjer noch häufig vorlommt. Hat sich der ee so ist an 
uhe nicht mehr zu denken. Die Maultiere haben vor ihm eine heil— 
ose Furcht und machen sich nach gallen Windrichtungen davon, und 
obald der Tag anbricht, hät der Rastreador (von rastro“, Spur, 
Fährte), der Vrnen Spursucher und Pfadfinder, mit seinen 
ets gut aeeen eittier genug zu tun, um nur die fuͤr den 
ugenblicklichen Gebrauch nötigen Maulesel aufzufinden. Oft geht bei 
er Suche der n Tag verloren, und wohl oder übel muß man sich 
arein sügen. Die typischen Figuren von Spursucher und Pfadfinder, 
ie Cooper in sinen LederstrumpfsErzäblunsen so trefflich geschil— 
⸗rt hat, sind auch in dem zum großten Teil noch wenig bevölterten 
züdamerika zu sressen In Argentinien besonders sind viele dieser 
dänner während der von den Regierungstruüppen unternommenen 
⸗peditionen gegen die Indianer zu Berühmtheuen geworden, da es 
»hne sie niemals möglich gewesen wäre, die landeskundigen Indianet 
urückzudrängen und zu unterwerfen. 
Der argentinische Spursucher ist ein ungemein interessanter 
Nensch. Die meisten „Gauchos“ oder Rinderhirlen find Spursucher, 
ber nicht alle bringen es zu dem gleichen Grad von Vollkommenheit. 
In den noch wenig bewohnten ungeheuren Landkomplexen, wo taͤuni 
emerkbare Pfade die weiten Ebenen und Gebirge kreuzen, wo das 
zieh noch in unbeschränkter Freiheit sein Futter sucht, wo Guanga— 
os. Strauße und Silberlöwen noch nicht vor dem Blei des Jägers 
üchten müssen, ist es nur einem tüchtigen Spursucher möglich, die 
ür gewöhnliche Augen oft Irieharen Hufspuren oft tageweit zu 
erfolgen, unter Hunderten die bes gesuchten Pferdes oder Maul— 
esels naed und, ohne vom rechten Wege abpuenmen! das 
ewünschte Tier zu fangen. Wenn ofk Reit- und Lasttiere, durch 
Zunger und Durft Prlagt in der Nacht große Strecken zurücklegen, 
im das erquickende Naß oder soaftigeres Fuͤtter zu finden, und wenn 
er Wind dabei den losen Sandstaub aufwuͤhll, in dem die Tiere 
hre Spuren hinterlassen, dann ertennt man die Rotwendigteit des 
Spursuchers: so bald es zu tagen anfängt, satlelt er sein angekop⸗ 
ʒeltes Reittier, macht sich auf die Suche und kommt nicht zurück, be⸗ 
or er nicht wenigstens ein paar Tiere zusammengefunden hat, denn 
er weiß genau, daß man in vielen Fällen nur auf ihn angewiesen ist 
ind elend umkommen müßte, wenn nicht in einem zu Fuß erreich⸗ 
aren Umkreise sich ein bewohnter Rancho (aus Fellen errichtele 
oütte) befindet. In der Regel ist ein guter Spursucher ernster, ver— 
chlossener, wortkarger Natur. Er ist neben dem Wegkundigen oder 
Baquiano“ die Hauptperson bei jeder Erpedilion und wird vom 
esamten Arbeitspersonal 7* mit Zuvorkommenheit und Ehrfurcht 
khandelt. Während des Marsches entgeht ihm nicht die geringste 
5pur. Eine Ahe Stunde schon jagt ein Puma einem Füchslein 
urch das Dickicht nach, um es zum Frühstück zu verzehren, aber Preis 
ter Reinele macht, soviel Seilensprünge, daß sein Verfolger von 
Jeit zu Zeit langsamer gehen muß, um zu verschnaufen. Endlich 
iber wird der Gejagte müde, und w einen weiteren Eilmarsch ist 
er eingeholt. 5— Spuͤren am Boden, die ohne den Hinweis 
es Rastreadors vielleicht gar nicht beachtet würden, zeugen von dem 
Ziege, und ein paar Schritte weiter wird durch Fellstuͤne und Blut— 
puren die Desanpnne zur Gewißheit. Vor einigen Tagen hatte ich 
nit der Kugelflinte einen Hasen (die patagonische große Art mit den 
angen Hinterfüßen) angeschossen. Bei dem Knaul hatte fich mein 
Naultier losgerissen und wär im Gestrüpp verschwunden. Ich ver— 
olgte es eine Strecke weit, bis ich einsah, daß ich das Tier zu Fuß 
rie erreichen würde. Nach dem verabredeten Zeichen rles ich dutg 
ꝛin rauchentwickelndes Feuer meinen Raftreador herbei, und na 
ungefähr 15 Minuten saß ich wieder im Sattel. Der Rastreador ver⸗ 
olgte nun die Spur zurück, bis er zu der Stelle kam, wo ich geschossen 
atte, zeigte mir den Platßz, wo der deg gesessen, wies auf einige 
Blutspuren hin und kehrte nach kurzer Jeit mit bem toten Meister 
rampe zurück. 
Fist man in einer dichter bevölkerten Gegend ein, 
o r t man am besten, mit welcher Achlung der 
Zpursucher behandelt wird. Das ist auch sehr 
rtlärlich. Da ist z. B. während der Nacht ein Diebstahl begangen 
porden. Kaum haben die Leute ihn benierkt, so wird ohne Zeit⸗ 
versäumnis die frische Fußspur des Diebes gefucht ind wenn sie 
efunden ist, sorgfältig zugedeckt, damit der Wind sie nicht verwehen 
enn. Darauf, wird der Spursucher geholt; er betrachtet sorgfältig 
ie Fußabdrücke und verfolgt fie zielbewußt, ohne nach rechts oder 
inks abzuweichen und nur von —* zu Zeit einen Blick auf den 
Ioden werfend. Durch Wasserläuse und Dickicht, über Ebenen und 
döhenzüge, wo ein nicht geschultes Auge überhaupt nichts mehr 
eht, geht es oft stundenlang fort, bis der Spursucher endlich in eine 
dütte oder in irgend ein Versteck tritt, kaltblütig auf einen Mann 
eiat und zu seinen Begleitern sagt: „Dieser ist es!“ Der Dieb ist 
efuuden. und er wagt höchst selten nur zu behaupten, er sei nicht 
er Täter. Für ihn steht der Rastreador bedeutend höher als der 
dichter, und er weiß zu gut, daß er nicht ohne erdrüccude Veweise 
zengetlagt wurde. 
Ist der Spursucher zu gleicher Zeit weg⸗ und gegendkundig, ein 
ogenannter Vaquiano, so ist er beinahe unbezahlbar Der Baquiano 
st eine andere typische Persönlichkeit, ohne die jede Reise durch weg— 
ose Gegenden zur Unmöglichkeit wird. Der Mann muß auf Reisen 
nd bei Arbeiten, die oft monatelang danern, jederzeit zum voraus 
ach der ihm vorgelegten Reiseroute die Lagerplätze bestimmen 
onnen. Plätze, an denen man lagsüber nicht zu wein von seinem 
Irbeitsfelde entsernt und in deren Rate Wasser mid Futer zu finden 
. Sein kundiger Blick sagt ihm fofort, von welc:er Seite zum 
zeispiel cin Verg auch noch mit den Maultieren besteigbar ist, und 
inige kleine Wollen am Hinmel und der aus einer gewissen Rich— 
ung wehende Wind lassen ihn zum voraus jeden Wetterunchlag 
rleunen. Er muß von einem beftimmten Puukte ans im moöglichft 
Jerader Linie cinen oft tageweit entsernten Ort erreichen können, 
hue unnötigerweise die Richtung zu äudern. Nachts, bei bedecktem 
dimmel und weit vom Lager emfernt, wäre es mic vjt genug ohne 
en, Baquiano einfach unmöglich gewesen, mich zurechtzüfinden, da 
je bei eintretender Dunkelheit in der Nähe des Lagers angezündeten 
dichtungsfeuer der großen Entsernungen und des sehr hugeligen 
errrains wegen nicht Jichtbat waren. Aber mein Begleiter weiß 
ch auth in diesem Falle zu helsen. Jede Gegend hatsihne charat. 
eristischen Merkmale, die einem Halblaien nicht anffallen die aber 
)er Baquiano sofrt lennt: er weiß immer. an welchem Odrte er sfich 
findet und welche Richtung eingeschlägen werden snnüß d erhban 
ich noch nie getäuicht
	        
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