Die Mode der Maske.
„Die Schwärze jener neidenswerten Larven, — Die schöner
Frauen Stirnen küssen, bringt — Uns in den Sinn, daß sie das
Schöne bergen.“ Dies Wort des liebetrunkenen Romeo mag viel—
eicht auch jetzt wieder zur Faschingszeit verführerischen Schönen
auf Maskenbällen und Redouten zugeflüstert werden; zu Shake⸗—
peares Zeiten hatte es aber eine viel alltäglichere und selbst⸗
rerständlichere Bedeutung als in unseren Tagen, denn die Maske
gehörte damals notwendig zur Straßentoilette eleganter Damen;
sie spielte im Reich der Mode die geheimnisreiche und faszinie—
rende Rolle, die sie heute nur in feltenen festlichen Momenten
noch beanspruchen darf. Die Gewohnheit des Maskentragens bei
Heren und Damen ist zuerst in Frankreich aufgekommen, und zwar
—
Karls V. konstatieren, wo sie wahrscheinlich aus der Mode des
Cachenez-Tragens entstand. Das Cachcnez, das man im Winter
trug, um das Gesicht gegen Kälte zu schützen, war ein Stück vier⸗
eckigen schwarzen Stoffs, das an den Ohrenklappen des Winter⸗
)jutes befestigt wurde und unterhalb der Augen das ganze Gesicht
edeckte. Diese unschönen „Wetzsteine der Nasentropfen“, wie der
Zatiriker, H. Estienne diese Nasentücher nicht gerade höflich ge—
nannt hat, wurden schon damals durch eine anliegende Ieneoee
exrsetzt. Doch der fromme Karl VI. verbot wieder im 15. Jahr⸗
zundert die „falschen Gesichter“, und erst unter Franz J. von
Frankreich begann die eigentliche Blütezeit des Maskentragens.
Die Damen behaupteten, dieser schmiegsamen Larven zu bedürfen,
im ihre zarte Haut sowohl gegen rauhe Winde wie gegen große
ditze zu schützen; im Geheimen aber mochte die Sehnsucht nag
okettem Intrigenspiel, nach den tausend Heimlichkeiten un
leberraschungen, die die Maske gewährt, der Hauptgrund sein,
daß die gestrenge Mode einer Dame von Welt das Ausgehen ohne
olch einen Gesichtsschutz überhaupt verbot. Der lustig dolle König
Franz griff diese Mode mit Freuden auf; er erschien mit seineñ
hofleuten und Pagen gern in den Straßen von Paris maskiert,
im allerlei Schabernack und Scherz zu verüben, schlüpfte wohl
auch heimlich unter dem Schutz feiner Larve zu seinen galanten
Abenteuern. Die Masken des Könings, deren in Rechnungen
Erwähnung geschieht, müssen sehr luxuriös gewesen sein; die
Runst des Schneiders vereinte sich mit der des Malers, und wir
zürfen uns vorstellen, daß vielleicht sogar Leonardo eine Maske
des Königs farbig ausschmückte.
Von Franukreich aus verbreitete sich das Maskentragen ubder
die ganze Welt der Rengissance. Der extravagante Schmuck der
Laxben ward aufgegeben, und durch fast zwei Jahrhunderte hin
herrschte nun die einfache Maske aus schwarzem, seidegefüttertem
Samt oder Atlas, mit zwei Löchern, die einen Teil der Stirn und
as Gesicht bis zur Nase bedeckte, während der untere Teil frei⸗
»lieb. Manchmal erschienen diese Masken auch in Gestalt einer
zreitgeränderten Brille, nur einen schmalen Streifen des Gesichts
Aerbergend; festgehalten wurden diese Larven durch eine im
Innern angebrachte Kette, die in eine Perle endete, die in den
Mund genommen wurde, oder auch durch einen uiten an der
Maske angebrachten Stahlbügel, dessen Eude man zwischen den
Zähnen hielt. Der Stahlbügel hatte vor der Perle noch den Vor—
zug, daß durch ihn zugleich die Stimme verändert wurde. Solche
Peasken trugen die Herren hauptsächlich in ausgelassener Fefi—
timmuug oder bei zärtlichen Rendezvous; die vornehmen Damen
egten sie des Nachts an, um dadurch die kosmetischen Mittel auf
dem Gesicht festzuhalten, die der Haut ihre Frische bewahren soll⸗
en; sie trugen fie auf der Straße, bisweilen auch in Gefellschaften.
In Shakespeares Tagen durfte keine Dame ohne Maske im Thea—
er erscheinen; vornehme Damen wie Kurtisanen yerbargen sich in
gleicher Weise gte diesem „nachtdunklen Schatten“, und so ge—
chah es denn auch, daß man vielfach die ehrbaren mit nnehrbaren
Frauen verwechselte, und durch das Maskentragen eine Freiheit
der Sitten entstand, bie die Puritaner entrüstete und zu Ver—
»oten des Maskentragens führte. 1615 eifert in Deutsch—
and der Vrediger Messerichmied gegen die teuflischen
Erfindungen der Masken und Larven; Moöfscherofch spoltet in
seinem „Philander von Sittewald“: „Die häßlichen Gefichter zu
herdecken, hat man die Mastken und Florfschleier erdacht⸗ In
einen „Betrachtungen über die höfischen und politischen Dinge“
empfiehlt Johann Christian Wagenseil das modijche Masken-
ragen auch der deutschen Frauenwelt: „Wenn das Frauenzimmer
n Frankreich geschwind ausgehen und, sich nicht viel anziehen will,
nimmt es, die Masque über den Kopf, daß nichts als die Augen
jerausgucken und geht so inkognitoz; wenn aber ein Bekannter
rö,umt oder einer, dem sie Affektion bezeugen wollen, nehmen sie
die Masque herunter. Diese ist von schwarzen Sammt gemacht
nid iuwendig eine Crystalle angenehet, welche das Frauenzimmer
n den Mund nimmt, damit sie die Masque halten kann“ In
dem deutschen Modebrevier vom Aufang des 18. Jahrhunderts,
dem „Frauenzimmer-Lerikon“, wird die Maske noch als im Ge—
zrauch erwähnt. „Ist ein von schwartzen oder andern bunten
Sammet nach dem Gesicht geschnittene und zusammengepappte
zurme mit offenen Augen-, Nasen⸗ und Mund-Löchern versehen,
eren sich das Frauenziinmer auf denen Redouten oder Reisen und
Zpatzier⸗Fahrten, wenn sie inkognito aehen wollen, zur Bedeckung
es Annesichts zu bedienen pfleget und selbige durch eine von
nne angeschlungene Coralle oder, auch an einen durchgesteckten
dinc in dem, Munde zu halten pfleget. Sie seynd entweder mit
hel' und Silber gestickt oder glatt.“ Vor der Mitte des 18. Jahr⸗
underts hatte man aber das Maskentragen allgemein aufge⸗
eben. Die Modedame legte nun so viel Rot auf, verschwendete
r7ch Piner und dekorierte fich mit Schünheitsvilästerchen
Das gewonnene Pferd.
Humoreske von Teffi.
Aus dem Russischen von E. Koeppen.
Nicolai Jwanowitsch Utkin, ein kleiner Accisebeamter in
ejnem Provinzstädtchen, hatte sich ein Los für einen Rubel ge—
uft und in der Lotterie, die die Gouverneurin veranstaltete ein
Pferd gewonnen.
Weder er selbst noch seine nächsten Bekannten konnten an—
iangs ein solches Glück für möglich halten. Sie verglichen lange
us Lo und wunderten sich.
Als die erste Freude vorbei war, wurde Utkin nachdenklich.
Wo bringe ich es unter?“ dachte er. „Ich habe eine Dieust⸗
vohlimg, die aus einem Zimmer und einer Küche besteht. Der
dolzschuppen ift winzig klein. Ein Pferd ist ein edles Tier, und
nan kaun es doch nicht im Freien halten.“
Die Freunde rieten ihm, seinen Vorgesetzten um Wohnungs⸗
gelder zu bitten.
Sag' Dich von der Dienstwohnung los. Miete, meinetwegen,
ine schlechtere, aber mit einem geräümigen Schuppen. Sollte
man Deine Bitte abschlagen — so fag', daß Dich Familienverhält⸗
nisse dazu zwingen, hm'. .. ein Familienzuwachs.“
Der Chef war es zu frieden, und das Geld wurde ausbezahlt.
Utkin mietete ecine Wohnung uͤnd stellte das Vierd in den
-dchuppen.
Die Wohnung war teuer, und das Pferd fraß sehr viel, Utkin
gewohnte sich aus bkonomischen Rücksichten das Rauchen ab.
„Ein wunderschönes Roß haben Sie, Nicolai Iwanowitsch,“
agte eines Tages sein Nachbar, ein Krämer. „Ohne Kweifel wird
nan es Ihnen stehlen.“
nstin wurde uͤnruhig, kanfte ein Schloß und hing es vor die
Tür des Schuppens
Auch die Vorgesetzten von Nicolai Iwanowitsch interessierten
ich für das Pferd.
Sehen Sie doch mal an, NUtkin! Besitzen da ein eigenes
Pferd Haben Sie denn auch einen Kutscher? Oder sind Sie es
im Ende selbst, he — he — he!“
Utkin wurde verlegen:
Sneins Heute abend kommt zu mir ein Bursche, den ich
schon Tange erwartet habe. Jedem kann man doch das Pferd nicht
ainvertrauen.“
Nttin nahm den Burschen an und börte auf zu frühstücken.
dungrig lief er in den Dienst, und der Kraͤmer grüßte und
ragte freundlich:
Ist das Pferdchen noch nicht gestohlen? Nun, das wird schon
kommen, das wird schon kommen! Alles zu seiner Zeit.“
Dder Vorgesetzte fuhr fort, sich zu interessieren:
Warum fahren Sie denn niemals spazieren?“
F „Das Pferd ist noch nicht eingefahren und ein sehr feuriges
ier.“
Wirfklich? Bei der Gonmverneurin mußte es, wenn ich nicht
en diesen neueu Reizen die früher so gelleble Maske weichen
mußte.
Franzssische Höflichkeit in alten Tagen.
Daß die wahre, echte Höflichkeit ausstirbt, ist eine Klage, die in
unseren modernen Zeiten immer lauter erschallt. Man gründet Ver—
inigungen und Gesellschaften, um diese entschwundene Blüte früherer
dulfuren zu einem künftlichen Leben zu erwecken; man will in der
dindererziehung, in der geistigen Bildung daraufhin wirken, aber
s ist wohl alles vergeblich: mit so vielen anderen Schönheiten der
guten alten Zeit“ ist wohl auch in unserer Epoche einer praktischen
ereinfachung des Stils jener „feine Ton“ für immer verklungen,
er in alten Memoiren und Thegterstücken so altvätcrisch preziös und
remdartig anmutet. Selbst in Frankreich, dem klassischen Lande der
öflichkeit, ist nicht mehr viel von der allen Grazie zu verspüren, die
se ienden so entzückte, wenn sie die gallische Greuze überschritten.
Im Temps werden einige Bilder von dieser alten französischeu Poli—
esse entrollt, aus jeuen Tagen des slerbenden Rokoko, da die Poli—
zisten bei den öffentlichen Festen die andrängende Menge nicht' mit
inem brutalen „Zurück!“ berscheuchten, sondern auf ales Stoßen
und Drücken mit respektyollem Gruß erwiderten: „Meine Hercen
und Damen! Ich bedauere unendlich, daß die mir von' oben gegebenen
Befehle mir nicht erlauhen, Ihnen ein weiteres Vordringeu zu ge—
latten ...“ Auch damals schon scheint die Höflichkeit mehr Eindruck
jemacht zu haben als barsche Strenge, und man möchte noch heute
o manchem etwas von der konzilianten Ruhe der Stadbtsoldalen des
ancien régime wünschen; man braucht nur an den Telephonverkehr
den jetzt wieder so eifrig erschallenden Ruf nach Hoͤflichteit zu
denken.
Weunn man die französische Revolntion das „Grab der guten
Sitten“ genannt hat, so ist das nicht ganz richtig. Elu eigentlich
jcuer Ton im gesellschaftlichen Verkehr, jene foldatisch barsche und
vis zum Brutalen derbe Art, ist erst durch Napoleon am Hof der
ZTuilerien eingeführt worden und daun langsam ins Volk ge—
rungen. Als nach dem Verebben der Revolttionswogen die ge—
lüchteten Emigrierten sich wieder narh der Heimat zurückwagten
ind hier angstvoll ein Chaos roher Sansculotlen uünd wüder
Bewaltmeuschen erwarteten, waren sie freudig überrascht, die alte
Jallische Höflichkeit völlig unversehrt wiederzufinden. Eine hübsche
Illustration dafür gibt eine Szene, die Mue. de Boigne in ihren
Memoiren schildert. Als sie 1804 von London nach Paris zurück—
Ehrte, nachdem sie die ganze Zeit während der Revolution in
Englaud verbracht hatte, war fie vorsichtig genug, über Holland
u reisen, denn alles, was sie besaß, hätte als englische Ware auf
dem ersten franuzösischen Zollburcau konfisziert werden müssen.
Bei ihrer Abfahrt aus Gravesend hatte sie bereits viel von un—
derschüntten und zudriuglichen englischen Zollbeamten ausstehen
mnüssen. Was mußte sie nicht erst von Bonapartes Spürhimden
zxwarten! Ihr Herz klopfte heftig, als sie an die Grenze kam.
Die Beamten baten sie sehr höflich, in das Buregau einzutreten,
und hörten mit dem liebeunswürdigsten Lächeln ihre Erzählung
un, daß sie aus Berlin käme und dort alle ihre Sachen, auch ihre
zrachtvolle Equipage, das Kunstwerk eines der berühmtesten Lon—
doner Wagenmacher, gekauft habe. Diese Erklärumg genügte
zöllig. Keine Andeutzmig eines Zweifels Worten aus so schönem
Munde gegenüber! Während man ihr den Erlaubnisschein für
reies Passieren ausstellte, bewunderten einige Zollbeamten den
zrrlichen Wagen mit Kennermienen, „Es ift ein deutscher
Wagen,“ bekräftigte der Chef des Zollbureaus. „Aber gewiß,“
ügte ein anderer hinzu. „Sehen Sie doch: es ist ja überall an—
Jeschrieben.“ Purpurröte übergoß das reizende Gesicht der
Reisenden, und äungstlich den Blicken der Hollbeamten folgend,
konstatierte sie, daß alle Beschläge des Wagens die Worte zeigten:
„Patent London“.
Mrur ein flüchtiges Lächeln glitt über die Züge der Beamten. Alle
waren liebenswürdig um sie beschäftigt, ihr ihren Passierschein
und, einen Paß auszustellen, und als Signalement diktierte der
Wef einem Unterbeamten: „Schreiben Sie: entzückend wie ein
e ist v zu gesgat wird der quädigen Zrau
X aden.“ erdesfe e ren xrinfachex Trägerx
offer geöffnet, dar nut — Spitßen And — ODis guau
Rande gefüllt war. Mme, de Boigne ließ ihm zwei Louisdor in
zie Hand gleiten, und der Mann schloß sogleich den Koffer. Kaum
iber hat nie sich zu ihrem Wagen gewendet, um einzusteigen, so
st er schon hinter ihr und dietet ihr mit einem diskret feinen
dächeln die beiden Goldstücke dar: „Gnädige Frau, da sind zwei
douisdor, die Sie wohl aus Versehen haben fallen lassen.“ Die
große Dame ist durch all das so verwirrt, daß sie ihre Verlegenheit
nichi verbergen kann, und wohl nux, um ihr aus dieser unange⸗
jehmen Situation zu helfen, bemerkt in demselben Augenblick cin
heamter, daß die Reitsche des Kutschers auf ihrem silbernen Griff
sie Bezeichnüng London trägt, also englisch ist. Mit vollendeter
höflichkeit und umter endlosen Entschuidigungen muß Madame,
ie bereits im Wagen sitzt, noch einmal behelligt werden;: „Ohne
zweifel hat der Kutscher diese englische Peitsche irgendwo in
deutschland oder Holland gekauft; aber in Frankreich dürfen
nalische Waren leider unter keinen Umständen eingeführt wer—
cn, und es ist die schwere Pflicht des Zollbeamten, zu seinem
größten Leidwesen die Peitsche konfiszieren zu müssen.“ Während
hieses Gesprächs bleibt alles totenernst, die Peitsche wird geopfert,
and dann setzt sich die Equipage unter unerschöpilichen Wünschen
einer alücklichen Reise in Reweounag
ehr irre, die Wassertonne ziehen. Merkwürdia! Eins wiu ich
zönen aber sagen, mein Lieber, denken Sie ja nicht daran, es zu
ertaufen. Später, wenn einige Zeit vergangen ist, wird es
ielleichht möglich sein. Aber jetzt in keinem Fallel Die Gouver⸗
eurin weiß, daß es bei Jhnen ist, und sie interessiert sich sehr da⸗
ur. Ich selbst dabe gehoͤrt, wie sie neulich sagte: „Ich freue mich
ehr, daß ich einen armen Menschen so glücklich gemacht habe, und
Ziist mir sehr angenehm zu wissen, daß er meinen „Zauberer“ lieb
gewonnen hat. Sie verstehen?“
Uttin verstand, gewöhnte sich auch das Mittagessen ab und
hegnügte sich mit Tee und Weißbrot.
Das Pferd fraß entsetzlich viel. Utkin fürchtete sich vor ihm
ind ging nicht in den Schuppen. „Das fette Vieh könnte noch
nsschlagen, es hat keine Vernunft.“
Aber stolz war er nach wie vor und prahlte vor allen mit
einem Pferd:
„Ich begreife nicht, wie ein Mensch, der über genügende Mittel
erfügt, ohne eigene Pferde auskommen kann. Teuer ist es na—
ürlich, aber dafür wie bequem!“
Dann hörte er auf, Zucker zu kaufen.
Eines schönen Tages kamen zwei Burschen und baten um die
xrxlaubnis, das Pferd anzusehen. Sollte man es verkaufen, so
vären sie gern zu diesem Geschäft bereit. Utkin jagte sie vom
dofe und schimpfte lange hinter ihnen drein, daß man ihm für
sjas Pferd schon tausend Rubel geboten hätte, er aber nichts da⸗
jon wissen wollte.
Das hörte der Krämer. und er schüttelte miñbilligend den
opf.
„Ganz unnützerweise hetzen Sie diese Leute gegen sich auf.
Zie müssen doch felbst begreifen, was das für Käufer ind.“
„Wie so?“
Werstehen Sie denn nicht, daß es Diebe waren? Pferdediebe.
Zie wollien sich mit der Gegend näher bekannt machen und dann
n der Nacht kommen, um das Pferd zu stehlen.“
Utkin regte sich schrecklich auf und ging sogar, ohne Tee ge—
runken zu haben, in den Dienst. Unterwegs traf er einen be—
annten Telegraphisten. Nachdem Utkin ihm sein Herz ausge—
chüttet hatte, versprach der Telegraphist, Abhilfe zu schaffen.
„Ich werde Ihnen“ — sagte er — „einen Apparat aufstellen,
zer, falls sich ein Dieb in den Stall schleichen sollte, sofort das
janze Haus alarmieren wird.“
Der Telegraphist kam am Nachmittag, arbeitete den gauzen
Abend, richtete alles ein und ging nach Hause. Genau nach einer
alben Stumde ertönte die Alarmglocke.
Nikin stürzte in den Hof. Allein zu gehen, fürchtete er sich.
die Diebe könnten ihn noch totschlagen, Er weckte den Burschen,
Ȋhrend der Apparat fortfuhr, entsetzlichen Spektakel zu machen.
zeide schlichen ee zum Schuppen; das Schloß hing an
einem Plaß. Da wurden sie fühner und öffneten die Tür.
dunkelheit. Das Pferd fraß in aller Gemütsruhe. Sie betrachteten
en Fußbohen.
Der letzte ökfentliche Schreiber in Paris
Auf dem jüngst im Tuileriengarten enthüllten Denkmal Jules
Ferrys, den die dritte Republik als den Vater des obligatorischen
ientgeltlichen Schulunterrichts verehrt, ist ein marmorner Hofen
natz in andachtsvollem Aufblick zu dem großen Staatsmann min
em steinernen Oberkellnergesicht zu schauen. Der Bildhauer hat's
nit seiner Allegorie gut gemeint; aber wenn der kleine ABC-
zchüitz auf dem Denkmal die junge Generation Frankreichs reprä
entieren soll, so hat's damit in Wirklichkeit noch gMute Wege. Hal
och der leßte Rekrutenjahrgang, der bereits der Segnungen der
Ferryschen Schulgesetzgebung in vollem Umfang hätte teilhaftig
verden sollen, nicht weniger als 14000 des Lesens und Schreibens
unkundige Vaterlandsverteidiger geliefert. Eine Russin, Madam
ragardelle, hatte sich vermessen, diesen Analphabeten im Waffen
cock die Anfaugsgründe des ABCs in kurzer Zeit spielend bei
zubringen; allein sie scheint bei ihrem Unternehmen auf un
vwartete Schwierigkeiten, vielleicht auch bloß auf männliche
Fifersucht gestoßen zu sein, sodaß der Gouverneur von Varis ihr
en fechmeichelhaften Lehrauftrag wieder entzog. Gäbe es eine
Möglichkeit, in ähnlicher Weise eine Statistik über Wissen und
Nichtwissen des weiblichen Teils der Bevölkerung aufzustellen, se
ien die Ergebnisse voraussichtlich noch weit betrüblicher aus
iallen.
Wer in Frankreich lebt, kann alle Tage, nicht nur in der Pro
Ainz, sondern in Varis, der Lichtstadt, selbst, die überraschendsten
Frsährungen namentlich bei dienstbaren Geistern machen, deren
ünkenntnis der elementarsten Begriffe von Lesen und Schreiber
zäufig die Verständigung recht kitzlig gestaltet. Verfügt der
dienftherr über einiges zeichnerisches Darstellungsvermögen, se
lann er wenigstens mit Hilfe einer Zeichensprache schriftliche Be
stellungen hinterlassen, auf die Gefahr hin, daß die Bilderschrif
Jelegentlich falsch gedeutet und ein Hammel als ein Kalb aus—
jelegt wird. Schier unüberwindliche Hemmnisse stellen sich jedoch
meist der Abrechnung entgegen, für die man ausschließlich auf das
vedächtnis und den guten Willen des Hilfsgeistes angewiesen
leibt. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen ein ange
ehenes mittelalterliches Gewerbe, das man höchstens noch in
Spanien und Vortugal in Blüte glaubt, in Varis selbst noch
goldenen Boden findet.
‚Wie ein kulturhistorisches Denkmal ragt in der Nähe des
rinstern Franuengefängnisses Saint Lazare das alte, winklige, ge⸗
ziebelte Lädchen eines öffentlichen Schreibers über die gerade
Häuserzeile der Nachbarschaft hinaus in die Straße. Hinter den
jerstaubten Scheiben erwartet man einen in vermottetes Pelzwerk
ehüllten Mummelgreis zu finden, den die Jahrhunderte verschont
aben, wie er mit zittriger Hand den Gänsekiel in schnörkligen
Zügen über das Pergament führt. Man irrt sich. Der Inhaber
des altertümlichen Lädchens ist ein junger Mann, der die Besucher
in einen mit modernem amerikanischem Bureau-Mobiliar aus—
Jestatteten, elektrisch erhellten Raum führt, um dort die Aufträge
ines geschätzten Puüblikums entgegenzunehmen. Nicht ohne Stolz
nennt er fich zwar den „letzten öffentlichen Schreiber“, allein das
ille Lädchen dient ihm nur noch als Aushängeschild, denn es weckt
has Zutrauen der einfachen Leute aus dem Volke. Scin Vater,
in mittelloser pensionierter Offizier, hat es schon von einem
andern Vorgänger übernommen, und dem heutigen Besitzer, der
das erste juristische Staatsexamen hinter sich hat, führt es stetia
eine reichliche Kundschaft zu.
Man glaubt nicht, wie vielseitig die Tätigkeit des letzten
öffentlichen Schreibers ist! Am einträglichsten gestaltet sich für
ihn, danuk dem zopfigen Formelkram der Verwaltungsbureau—⸗
kratie, die Ausfertigung von Gesuchen, Bittschriften, Bewerbuu—
gen aller Art, die alle in vorgeschriebenen Formen auf vorschrifts—
mäßigem Papier oder auf Stempelbögen abgefaßt sein müssen,
sollen sie Ausficht auf Beachtung haben. Man, braucht kein
Analphabet zu sein, um angesichts all der schreckhaften Papier
wirtschaft sich zu dem Schreiber zu flüchten, der in solcher Wirr⸗
saal amtlicher Vorschriften und Kleinkrämereien Bescheid weiß wie
ein Lotfe im Fahrwaffer des Kattegat. Der Lotse hat ein gutes
Herz Er steuert auch arme greise Zeuitchen die eiue Dienste
— —— e scher.in den
Heicht selten finden auch Ehrgeizige, die das Knopfloch mit
dem violetten Bändchen der akadenmifschen Palmen schmücken
moöchten, den Weg zur Bude des Schreibers, damit er ihnen ein
regelrechtes Bewerbungsschreiben verfasse. Die violetten Bänd
hen, deren es heutzutage auf Gerechte und Ungerechte regnet,
tellen kein sicheres Zeugnis mehr aus für die Sattelfestigkeit des
Inhabers in den Kunsten des Lesens und Schreibens.
Erfrischende Abwechselung bringen dem Schreiber die Besuche
junger Weiblichkeit. Exrötend rücken die drallen Dienstmädel, die
sokelten Arbeiterdirnchen mit ihrem Anliegen heraus, das er
hnen längst vom Gesicht abgelesen hat: Ein Liebesbrief an den
Schaß, der in Afrika dient oder auswärts arbeitet. Den Inhalt
es Schreibeus baben fie im Kopf.aber der Schreiber verstehts
neisterlich, schöne Floskeln, ziervolle Arabesken hineinzuflechten,
so daß der ferne Schatßz an Stelle niaiven Geftammels eine pracht⸗
bolle Liebeserktarung zu lesen friegt — notabene, wenn er selbs
u fesen versteht! Doch seibst Dichter nehmen, wie das Raritäten-
abineit des Schreibers ausweist, zu dessen Künsten gelegentlich
hre Zuflucht Warum, nichte Müssen Voeten durchaus das
Schreiben gelernt haben? Auch Raffael wäre ein großer Künstler.
feißff wennü ex ohnhe Hände gehoren wäre
„D, das Bieh!“ schrie Utkin plötzlich auf. „Es ist selbst mit
dem Fiiß auf die Drähle getreten. Horch, es frißt. Wenn es doch
venigftens des Nachts nicht fressen würde! Bei uns Menschen er—
cauben sich selbst die Reichsten nicht, des Nachts zu essen. Das ist
kein Pferd, sondern ein Schwein.“
Damit ging er und legte sich schlafen. Kaum war er einge—
schlummert — wieder das schmetternde Signal.
Es erwies sich, daß es dieses Mal eine Katze war. Als der
Morgen graute, wiederholte sich dieselbe Geschichte.
Ganz erfchöpft kam Utkin in den Dienst und schlief über den
Akten ein.
Nachts wieder das durchdringende Geklingel. Die Drähte
schienen verrückt zu sein und sich selbständig miteinander zu ver—
einigen.
Ütkin lief unzählige Male während der Nacht vom Hause zum
Schuppen, und als es zum Morgen ging, fühlte er ein starkes
Unwohlsein. Er mußte den Dienst versäumen.
„Wer bin ich,“ dachte er, sein Gesicht in die Kissen vergrabend.
Biusch denn überhaupt ein Mensch“ Was ist das für ein Leben,
das ich führeꝰ Ich schleppe mein Dasein hin, und ein Vieh beherrscht
mich. Ich esse nicht und ich schlafe nicht. Meine Gesundheit habe
sch eingebüßt, meinen Dienst werde ich auch verlieren. Meine
Jugend wird maenukt vergehen. Das Pierd wird alles auf—
iressen!“
Den ganzen Tag lag er auf dem Bett. Und in der Nacht, als
es still waͤr und nur ab und zu das schrille Glockensignal ertönte,
fsland er auf, öffnete vorsichtig die Hofpforte, schlich sich zum Stall
mnd eacle die Tür hreit auf. Dann huschte er ilink ins Haus
zuriick.
Er zog die Decke über den Kopf und lachte veranügt.
„Nun, wer hat gesiegt? Nicht lange hat Deine Herrschaft ge—
dauctt, Du verfinchtes Dromedar. Die Diebe werden Dich auf
den Schindanger schleppen; aus Deiner Haut, daß sie verdammt
fcisj wird man Ziegenstiefel nähen. Du Tellerlecker! Jetzt wirf
Dir auch die Gonverneurin nicht helfen.“
Er schlief süß und aß im Traum Kuchen und Honig,
Am anderen Morgen rief er Ilja und erkundigte sich streng
ob nichts vorgefallen sei.
„Nichts ist passiert.“
Und das Pferd ..., was macht das Pferd?“ fragte voll Ent—
ietzen Utkin.
„Was soll ihm denn geschehen?“
Du lügst, niederträchtiger Bengel!“
Bei Golt, Herr Haben Sie keine Furcht. Ihr Pierdchen
ist heil und gesuud. Das Heu hat es schon aufgefressen und macht
ich jetzt an den Hafer.“
Ultin bekam eine Lähmung des Unken Fußes und der rechten
dene Mit der linken Hand schrieb er folgende Worte auf einen
Zettel;
Niemand ist schuld an meinem Tode. Das Pferd hat mid
aufgeitessen.“