Full text: Lübeckische Anzeigen 1911 (1911)

Die Mode der Maske. 
„Die Schwärze jener neidenswerten Larven, — Die schöner 
Frauen Stirnen küssen, bringt — Uns in den Sinn, daß sie das 
Schöne bergen.“ Dies Wort des liebetrunkenen Romeo mag viel— 
eicht auch jetzt wieder zur Faschingszeit verführerischen Schönen 
auf Maskenbällen und Redouten zugeflüstert werden; zu Shake⸗— 
peares Zeiten hatte es aber eine viel alltäglichere und selbst⸗ 
rerständlichere Bedeutung als in unseren Tagen, denn die Maske 
gehörte damals notwendig zur Straßentoilette eleganter Damen; 
sie spielte im Reich der Mode die geheimnisreiche und faszinie— 
rende Rolle, die sie heute nur in feltenen festlichen Momenten 
noch beanspruchen darf. Die Gewohnheit des Maskentragens bei 
Heren und Damen ist zuerst in Frankreich aufgekommen, und zwar 
— 
Karls V. konstatieren, wo sie wahrscheinlich aus der Mode des 
Cachenez-Tragens entstand. Das Cachcnez, das man im Winter 
trug, um das Gesicht gegen Kälte zu schützen, war ein Stück vier⸗ 
eckigen schwarzen Stoffs, das an den Ohrenklappen des Winter⸗ 
)jutes befestigt wurde und unterhalb der Augen das ganze Gesicht 
edeckte. Diese unschönen „Wetzsteine der Nasentropfen“, wie der 
Zatiriker, H. Estienne diese Nasentücher nicht gerade höflich ge— 
nannt hat, wurden schon damals durch eine anliegende Ieneoee 
exrsetzt. Doch der fromme Karl VI. verbot wieder im 15. Jahr⸗ 
zundert die „falschen Gesichter“, und erst unter Franz J. von 
Frankreich begann die eigentliche Blütezeit des Maskentragens. 
Die Damen behaupteten, dieser schmiegsamen Larven zu bedürfen, 
im ihre zarte Haut sowohl gegen rauhe Winde wie gegen große 
ditze zu schützen; im Geheimen aber mochte die Sehnsucht nag 
okettem Intrigenspiel, nach den tausend Heimlichkeiten un 
leberraschungen, die die Maske gewährt, der Hauptgrund sein, 
daß die gestrenge Mode einer Dame von Welt das Ausgehen ohne 
olch einen Gesichtsschutz überhaupt verbot. Der lustig dolle König 
Franz griff diese Mode mit Freuden auf; er erschien mit seineñ 
hofleuten und Pagen gern in den Straßen von Paris maskiert, 
im allerlei Schabernack und Scherz zu verüben, schlüpfte wohl 
auch heimlich unter dem Schutz feiner Larve zu seinen galanten 
Abenteuern. Die Masken des Könings, deren in Rechnungen 
Erwähnung geschieht, müssen sehr luxuriös gewesen sein; die 
Runst des Schneiders vereinte sich mit der des Malers, und wir 
zürfen uns vorstellen, daß vielleicht sogar Leonardo eine Maske 
des Königs farbig ausschmückte. 
Von Franukreich aus verbreitete sich das Maskentragen ubder 
die ganze Welt der Rengissance. Der extravagante Schmuck der 
Laxben ward aufgegeben, und durch fast zwei Jahrhunderte hin 
herrschte nun die einfache Maske aus schwarzem, seidegefüttertem 
Samt oder Atlas, mit zwei Löchern, die einen Teil der Stirn und 
as Gesicht bis zur Nase bedeckte, während der untere Teil frei⸗ 
»lieb. Manchmal erschienen diese Masken auch in Gestalt einer 
zreitgeränderten Brille, nur einen schmalen Streifen des Gesichts 
Aerbergend; festgehalten wurden diese Larven durch eine im 
Innern angebrachte Kette, die in eine Perle endete, die in den 
Mund genommen wurde, oder auch durch einen uiten an der 
Maske angebrachten Stahlbügel, dessen Eude man zwischen den 
Zähnen hielt. Der Stahlbügel hatte vor der Perle noch den Vor— 
zug, daß durch ihn zugleich die Stimme verändert wurde. Solche 
Peasken trugen die Herren hauptsächlich in ausgelassener Fefi— 
timmuug oder bei zärtlichen Rendezvous; die vornehmen Damen 
egten sie des Nachts an, um dadurch die kosmetischen Mittel auf 
dem Gesicht festzuhalten, die der Haut ihre Frische bewahren soll⸗ 
en; sie trugen fie auf der Straße, bisweilen auch in Gefellschaften. 
In Shakespeares Tagen durfte keine Dame ohne Maske im Thea— 
er erscheinen; vornehme Damen wie Kurtisanen yerbargen sich in 
gleicher Weise gte diesem „nachtdunklen Schatten“, und so ge— 
chah es denn auch, daß man vielfach die ehrbaren mit nnehrbaren 
Frauen verwechselte, und durch das Maskentragen eine Freiheit 
der Sitten entstand, bie die Puritaner entrüstete und zu Ver— 
»oten des Maskentragens führte. 1615 eifert in Deutsch— 
and der Vrediger Messerichmied gegen die teuflischen 
Erfindungen der Masken und Larven; Moöfscherofch spoltet in 
seinem „Philander von Sittewald“: „Die häßlichen Gefichter zu 
herdecken, hat man die Mastken und Florfschleier erdacht⸗ In 
einen „Betrachtungen über die höfischen und politischen Dinge“ 
empfiehlt Johann Christian Wagenseil das modijche Masken- 
ragen auch der deutschen Frauenwelt: „Wenn das Frauenzimmer 
n Frankreich geschwind ausgehen und, sich nicht viel anziehen will, 
nimmt es, die Masque über den Kopf, daß nichts als die Augen 
jerausgucken und geht so inkognitoz; wenn aber ein Bekannter 
rö,umt oder einer, dem sie Affektion bezeugen wollen, nehmen sie 
die Masque herunter. Diese ist von schwarzen Sammt gemacht 
nid iuwendig eine Crystalle angenehet, welche das Frauenzimmer 
n den Mund nimmt, damit sie die Masque halten kann“ In 
dem deutschen Modebrevier vom Aufang des 18. Jahrhunderts, 
dem „Frauenzimmer-Lerikon“, wird die Maske noch als im Ge— 
zrauch erwähnt. „Ist ein von schwartzen oder andern bunten 
Sammet nach dem Gesicht geschnittene und zusammengepappte 
zurme mit offenen Augen-, Nasen⸗ und Mund-Löchern versehen, 
eren sich das Frauenziinmer auf denen Redouten oder Reisen und 
Zpatzier⸗Fahrten, wenn sie inkognito aehen wollen, zur Bedeckung 
es Annesichts zu bedienen pfleget und selbige durch eine von 
nne angeschlungene Coralle oder, auch an einen durchgesteckten 
dinc in dem, Munde zu halten pfleget. Sie seynd entweder mit 
hel' und Silber gestickt oder glatt.“ Vor der Mitte des 18. Jahr⸗ 
underts hatte man aber das Maskentragen allgemein aufge⸗ 
eben. Die Modedame legte nun so viel Rot auf, verschwendete 
r7ch Piner und dekorierte fich mit Schünheitsvilästerchen 
Das gewonnene Pferd. 
Humoreske von Teffi. 
Aus dem Russischen von E. Koeppen. 
Nicolai Jwanowitsch Utkin, ein kleiner Accisebeamter in 
ejnem Provinzstädtchen, hatte sich ein Los für einen Rubel ge— 
uft und in der Lotterie, die die Gouverneurin veranstaltete ein 
Pferd gewonnen. 
Weder er selbst noch seine nächsten Bekannten konnten an— 
iangs ein solches Glück für möglich halten. Sie verglichen lange 
us Lo und wunderten sich. 
Als die erste Freude vorbei war, wurde Utkin nachdenklich. 
Wo bringe ich es unter?“ dachte er. „Ich habe eine Dieust⸗ 
vohlimg, die aus einem Zimmer und einer Küche besteht. Der 
dolzschuppen ift winzig klein. Ein Pferd ist ein edles Tier, und 
nan kaun es doch nicht im Freien halten.“ 
Die Freunde rieten ihm, seinen Vorgesetzten um Wohnungs⸗ 
gelder zu bitten. 
Sag' Dich von der Dienstwohnung los. Miete, meinetwegen, 
ine schlechtere, aber mit einem geräümigen Schuppen. Sollte 
man Deine Bitte abschlagen — so fag', daß Dich Familienverhält⸗ 
nisse dazu zwingen, hm'. .. ein Familienzuwachs.“ 
Der Chef war es zu frieden, und das Geld wurde ausbezahlt. 
Utkin mietete ecine Wohnung uͤnd stellte das Vierd in den 
-dchuppen. 
Die Wohnung war teuer, und das Pferd fraß sehr viel, Utkin 
gewohnte sich aus bkonomischen Rücksichten das Rauchen ab. 
„Ein wunderschönes Roß haben Sie, Nicolai Iwanowitsch,“ 
agte eines Tages sein Nachbar, ein Krämer. „Ohne Kweifel wird 
nan es Ihnen stehlen.“ 
nstin wurde uͤnruhig, kanfte ein Schloß und hing es vor die 
Tür des Schuppens 
Auch die Vorgesetzten von Nicolai Iwanowitsch interessierten 
ich für das Pferd. 
Sehen Sie doch mal an, NUtkin! Besitzen da ein eigenes 
Pferd Haben Sie denn auch einen Kutscher? Oder sind Sie es 
im Ende selbst, he — he — he!“ 
Utkin wurde verlegen: 
Sneins Heute abend kommt zu mir ein Bursche, den ich 
schon Tange erwartet habe. Jedem kann man doch das Pferd nicht 
ainvertrauen.“ 
Nttin nahm den Burschen an und börte auf zu frühstücken. 
dungrig lief er in den Dienst, und der Kraͤmer grüßte und 
ragte freundlich: 
Ist das Pferdchen noch nicht gestohlen? Nun, das wird schon 
kommen, das wird schon kommen! Alles zu seiner Zeit.“ 
Dder Vorgesetzte fuhr fort, sich zu interessieren: 
Warum fahren Sie denn niemals spazieren?“ 
F „Das Pferd ist noch nicht eingefahren und ein sehr feuriges 
ier.“ 
Wirfklich? Bei der Gonmverneurin mußte es, wenn ich nicht 
en diesen neueu Reizen die früher so gelleble Maske weichen 
mußte. 
Franzssische Höflichkeit in alten Tagen. 
Daß die wahre, echte Höflichkeit ausstirbt, ist eine Klage, die in 
unseren modernen Zeiten immer lauter erschallt. Man gründet Ver— 
inigungen und Gesellschaften, um diese entschwundene Blüte früherer 
dulfuren zu einem künftlichen Leben zu erwecken; man will in der 
dindererziehung, in der geistigen Bildung daraufhin wirken, aber 
s ist wohl alles vergeblich: mit so vielen anderen Schönheiten der 
guten alten Zeit“ ist wohl auch in unserer Epoche einer praktischen 
ereinfachung des Stils jener „feine Ton“ für immer verklungen, 
er in alten Memoiren und Thegterstücken so altvätcrisch preziös und 
remdartig anmutet. Selbst in Frankreich, dem klassischen Lande der 
öflichkeit, ist nicht mehr viel von der allen Grazie zu verspüren, die 
se ienden so entzückte, wenn sie die gallische Greuze überschritten. 
Im Temps werden einige Bilder von dieser alten französischeu Poli— 
esse entrollt, aus jeuen Tagen des slerbenden Rokoko, da die Poli— 
zisten bei den öffentlichen Festen die andrängende Menge nicht' mit 
inem brutalen „Zurück!“ berscheuchten, sondern auf ales Stoßen 
und Drücken mit respektyollem Gruß erwiderten: „Meine Hercen 
und Damen! Ich bedauere unendlich, daß die mir von' oben gegebenen 
Befehle mir nicht erlauhen, Ihnen ein weiteres Vordringeu zu ge— 
latten ...“ Auch damals schon scheint die Höflichkeit mehr Eindruck 
jemacht zu haben als barsche Strenge, und man möchte noch heute 
o manchem etwas von der konzilianten Ruhe der Stadbtsoldalen des 
ancien régime wünschen; man braucht nur an den Telephonverkehr 
den jetzt wieder so eifrig erschallenden Ruf nach Hoͤflichteit zu 
denken. 
Weunn man die französische Revolntion das „Grab der guten 
Sitten“ genannt hat, so ist das nicht ganz richtig. Elu eigentlich 
jcuer Ton im gesellschaftlichen Verkehr, jene foldatisch barsche und 
vis zum Brutalen derbe Art, ist erst durch Napoleon am Hof der 
ZTuilerien eingeführt worden und daun langsam ins Volk ge— 
rungen. Als nach dem Verebben der Revolttionswogen die ge— 
lüchteten Emigrierten sich wieder narh der Heimat zurückwagten 
ind hier angstvoll ein Chaos roher Sansculotlen uünd wüder 
Bewaltmeuschen erwarteten, waren sie freudig überrascht, die alte 
Jallische Höflichkeit völlig unversehrt wiederzufinden. Eine hübsche 
Illustration dafür gibt eine Szene, die Mue. de Boigne in ihren 
Memoiren schildert. Als sie 1804 von London nach Paris zurück— 
Ehrte, nachdem sie die ganze Zeit während der Revolution in 
Englaud verbracht hatte, war fie vorsichtig genug, über Holland 
u reisen, denn alles, was sie besaß, hätte als englische Ware auf 
dem ersten franuzösischen Zollburcau konfisziert werden müssen. 
Bei ihrer Abfahrt aus Gravesend hatte sie bereits viel von un— 
derschüntten und zudriuglichen englischen Zollbeamten ausstehen 
mnüssen. Was mußte sie nicht erst von Bonapartes Spürhimden 
zxwarten! Ihr Herz klopfte heftig, als sie an die Grenze kam. 
Die Beamten baten sie sehr höflich, in das Buregau einzutreten, 
und hörten mit dem liebeunswürdigsten Lächeln ihre Erzählung 
un, daß sie aus Berlin käme und dort alle ihre Sachen, auch ihre 
zrachtvolle Equipage, das Kunstwerk eines der berühmtesten Lon— 
doner Wagenmacher, gekauft habe. Diese Erklärumg genügte 
zöllig. Keine Andeutzmig eines Zweifels Worten aus so schönem 
Munde gegenüber! Während man ihr den Erlaubnisschein für 
reies Passieren ausstellte, bewunderten einige Zollbeamten den 
zrrlichen Wagen mit Kennermienen, „Es ift ein deutscher 
Wagen,“ bekräftigte der Chef des Zollbureaus. „Aber gewiß,“ 
ügte ein anderer hinzu. „Sehen Sie doch: es ist ja überall an— 
Jeschrieben.“ Purpurröte übergoß das reizende Gesicht der 
Reisenden, und äungstlich den Blicken der Hollbeamten folgend, 
konstatierte sie, daß alle Beschläge des Wagens die Worte zeigten: 
„Patent London“. 
Mrur ein flüchtiges Lächeln glitt über die Züge der Beamten. Alle 
waren liebenswürdig um sie beschäftigt, ihr ihren Passierschein 
und, einen Paß auszustellen, und als Signalement diktierte der 
Wef einem Unterbeamten: „Schreiben Sie: entzückend wie ein 
e ist v zu gesgat wird der quädigen Zrau 
X aden.“ erdesfe e ren xrinfachex Trägerx 
offer geöffnet, dar nut — Spitßen And — ODis guau 
Rande gefüllt war. Mme, de Boigne ließ ihm zwei Louisdor in 
zie Hand gleiten, und der Mann schloß sogleich den Koffer. Kaum 
iber hat nie sich zu ihrem Wagen gewendet, um einzusteigen, so 
st er schon hinter ihr und dietet ihr mit einem diskret feinen 
dächeln die beiden Goldstücke dar: „Gnädige Frau, da sind zwei 
douisdor, die Sie wohl aus Versehen haben fallen lassen.“ Die 
große Dame ist durch all das so verwirrt, daß sie ihre Verlegenheit 
nichi verbergen kann, und wohl nux, um ihr aus dieser unange⸗ 
jehmen Situation zu helfen, bemerkt in demselben Augenblick cin 
heamter, daß die Reitsche des Kutschers auf ihrem silbernen Griff 
sie Bezeichnüng London trägt, also englisch ist. Mit vollendeter 
höflichkeit und umter endlosen Entschuidigungen muß Madame, 
ie bereits im Wagen sitzt, noch einmal behelligt werden;: „Ohne 
zweifel hat der Kutscher diese englische Peitsche irgendwo in 
deutschland oder Holland gekauft; aber in Frankreich dürfen 
nalische Waren leider unter keinen Umständen eingeführt wer— 
cn, und es ist die schwere Pflicht des Zollbeamten, zu seinem 
größten Leidwesen die Peitsche konfiszieren zu müssen.“ Während 
hieses Gesprächs bleibt alles totenernst, die Peitsche wird geopfert, 
and dann setzt sich die Equipage unter unerschöpilichen Wünschen 
einer alücklichen Reise in Reweounag 
ehr irre, die Wassertonne ziehen. Merkwürdia! Eins wiu ich 
zönen aber sagen, mein Lieber, denken Sie ja nicht daran, es zu 
ertaufen. Später, wenn einige Zeit vergangen ist, wird es 
ielleichht möglich sein. Aber jetzt in keinem Fallel Die Gouver⸗ 
eurin weiß, daß es bei Jhnen ist, und sie interessiert sich sehr da⸗ 
ur. Ich selbst dabe gehoͤrt, wie sie neulich sagte: „Ich freue mich 
ehr, daß ich einen armen Menschen so glücklich gemacht habe, und 
Ziist mir sehr angenehm zu wissen, daß er meinen „Zauberer“ lieb 
gewonnen hat. Sie verstehen?“ 
Uttin verstand, gewöhnte sich auch das Mittagessen ab und 
hegnügte sich mit Tee und Weißbrot. 
Das Pferd fraß entsetzlich viel. Utkin fürchtete sich vor ihm 
ind ging nicht in den Schuppen. „Das fette Vieh könnte noch 
nsschlagen, es hat keine Vernunft.“ 
Aber stolz war er nach wie vor und prahlte vor allen mit 
einem Pferd: 
„Ich begreife nicht, wie ein Mensch, der über genügende Mittel 
erfügt, ohne eigene Pferde auskommen kann. Teuer ist es na— 
ürlich, aber dafür wie bequem!“ 
Dann hörte er auf, Zucker zu kaufen. 
Eines schönen Tages kamen zwei Burschen und baten um die 
xrxlaubnis, das Pferd anzusehen. Sollte man es verkaufen, so 
vären sie gern zu diesem Geschäft bereit. Utkin jagte sie vom 
dofe und schimpfte lange hinter ihnen drein, daß man ihm für 
sjas Pferd schon tausend Rubel geboten hätte, er aber nichts da⸗ 
jon wissen wollte. 
Das hörte der Krämer. und er schüttelte miñbilligend den 
opf. 
„Ganz unnützerweise hetzen Sie diese Leute gegen sich auf. 
Zie müssen doch felbst begreifen, was das für Käufer ind.“ 
„Wie so?“ 
Werstehen Sie denn nicht, daß es Diebe waren? Pferdediebe. 
Zie wollien sich mit der Gegend näher bekannt machen und dann 
n der Nacht kommen, um das Pferd zu stehlen.“ 
Utkin regte sich schrecklich auf und ging sogar, ohne Tee ge— 
runken zu haben, in den Dienst. Unterwegs traf er einen be— 
annten Telegraphisten. Nachdem Utkin ihm sein Herz ausge— 
chüttet hatte, versprach der Telegraphist, Abhilfe zu schaffen. 
„Ich werde Ihnen“ — sagte er — „einen Apparat aufstellen, 
zer, falls sich ein Dieb in den Stall schleichen sollte, sofort das 
janze Haus alarmieren wird.“ 
Der Telegraphist kam am Nachmittag, arbeitete den gauzen 
Abend, richtete alles ein und ging nach Hause. Genau nach einer 
alben Stumde ertönte die Alarmglocke. 
Nikin stürzte in den Hof. Allein zu gehen, fürchtete er sich. 
die Diebe könnten ihn noch totschlagen, Er weckte den Burschen, 
Ȋhrend der Apparat fortfuhr, entsetzlichen Spektakel zu machen. 
zeide schlichen ee zum Schuppen; das Schloß hing an 
einem Plaß. Da wurden sie fühner und öffneten die Tür. 
dunkelheit. Das Pferd fraß in aller Gemütsruhe. Sie betrachteten 
en Fußbohen. 
Der letzte ökfentliche Schreiber in Paris 
Auf dem jüngst im Tuileriengarten enthüllten Denkmal Jules 
Ferrys, den die dritte Republik als den Vater des obligatorischen 
ientgeltlichen Schulunterrichts verehrt, ist ein marmorner Hofen 
natz in andachtsvollem Aufblick zu dem großen Staatsmann min 
em steinernen Oberkellnergesicht zu schauen. Der Bildhauer hat's 
nit seiner Allegorie gut gemeint; aber wenn der kleine ABC- 
zchüitz auf dem Denkmal die junge Generation Frankreichs reprä 
entieren soll, so hat's damit in Wirklichkeit noch gMute Wege. Hal 
och der leßte Rekrutenjahrgang, der bereits der Segnungen der 
Ferryschen Schulgesetzgebung in vollem Umfang hätte teilhaftig 
verden sollen, nicht weniger als 14000 des Lesens und Schreibens 
unkundige Vaterlandsverteidiger geliefert. Eine Russin, Madam 
ragardelle, hatte sich vermessen, diesen Analphabeten im Waffen 
cock die Anfaugsgründe des ABCs in kurzer Zeit spielend bei 
zubringen; allein sie scheint bei ihrem Unternehmen auf un 
vwartete Schwierigkeiten, vielleicht auch bloß auf männliche 
Fifersucht gestoßen zu sein, sodaß der Gouverneur von Varis ihr 
en fechmeichelhaften Lehrauftrag wieder entzog. Gäbe es eine 
Möglichkeit, in ähnlicher Weise eine Statistik über Wissen und 
Nichtwissen des weiblichen Teils der Bevölkerung aufzustellen, se 
ien die Ergebnisse voraussichtlich noch weit betrüblicher aus 
iallen. 
Wer in Frankreich lebt, kann alle Tage, nicht nur in der Pro 
Ainz, sondern in Varis, der Lichtstadt, selbst, die überraschendsten 
Frsährungen namentlich bei dienstbaren Geistern machen, deren 
ünkenntnis der elementarsten Begriffe von Lesen und Schreiber 
zäufig die Verständigung recht kitzlig gestaltet. Verfügt der 
dienftherr über einiges zeichnerisches Darstellungsvermögen, se 
lann er wenigstens mit Hilfe einer Zeichensprache schriftliche Be 
stellungen hinterlassen, auf die Gefahr hin, daß die Bilderschrif 
Jelegentlich falsch gedeutet und ein Hammel als ein Kalb aus— 
jelegt wird. Schier unüberwindliche Hemmnisse stellen sich jedoch 
meist der Abrechnung entgegen, für die man ausschließlich auf das 
vedächtnis und den guten Willen des Hilfsgeistes angewiesen 
leibt. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen ein ange 
ehenes mittelalterliches Gewerbe, das man höchstens noch in 
Spanien und Vortugal in Blüte glaubt, in Varis selbst noch 
goldenen Boden findet. 
‚Wie ein kulturhistorisches Denkmal ragt in der Nähe des 
rinstern Franuengefängnisses Saint Lazare das alte, winklige, ge⸗ 
ziebelte Lädchen eines öffentlichen Schreibers über die gerade 
Häuserzeile der Nachbarschaft hinaus in die Straße. Hinter den 
jerstaubten Scheiben erwartet man einen in vermottetes Pelzwerk 
ehüllten Mummelgreis zu finden, den die Jahrhunderte verschont 
aben, wie er mit zittriger Hand den Gänsekiel in schnörkligen 
Zügen über das Pergament führt. Man irrt sich. Der Inhaber 
des altertümlichen Lädchens ist ein junger Mann, der die Besucher 
in einen mit modernem amerikanischem Bureau-Mobiliar aus— 
Jestatteten, elektrisch erhellten Raum führt, um dort die Aufträge 
ines geschätzten Puüblikums entgegenzunehmen. Nicht ohne Stolz 
nennt er fich zwar den „letzten öffentlichen Schreiber“, allein das 
ille Lädchen dient ihm nur noch als Aushängeschild, denn es weckt 
has Zutrauen der einfachen Leute aus dem Volke. Scin Vater, 
in mittelloser pensionierter Offizier, hat es schon von einem 
andern Vorgänger übernommen, und dem heutigen Besitzer, der 
das erste juristische Staatsexamen hinter sich hat, führt es stetia 
eine reichliche Kundschaft zu. 
Man glaubt nicht, wie vielseitig die Tätigkeit des letzten 
öffentlichen Schreibers ist! Am einträglichsten gestaltet sich für 
ihn, danuk dem zopfigen Formelkram der Verwaltungsbureau—⸗ 
kratie, die Ausfertigung von Gesuchen, Bittschriften, Bewerbuu— 
gen aller Art, die alle in vorgeschriebenen Formen auf vorschrifts— 
mäßigem Papier oder auf Stempelbögen abgefaßt sein müssen, 
sollen sie Ausficht auf Beachtung haben. Man, braucht kein 
Analphabet zu sein, um angesichts all der schreckhaften Papier 
wirtschaft sich zu dem Schreiber zu flüchten, der in solcher Wirr⸗ 
saal amtlicher Vorschriften und Kleinkrämereien Bescheid weiß wie 
ein Lotfe im Fahrwaffer des Kattegat. Der Lotse hat ein gutes 
Herz Er steuert auch arme greise Zeuitchen die eiue Dienste 
— —— e scher.in den 
Heicht selten finden auch Ehrgeizige, die das Knopfloch mit 
dem violetten Bändchen der akadenmifschen Palmen schmücken 
moöchten, den Weg zur Bude des Schreibers, damit er ihnen ein 
regelrechtes Bewerbungsschreiben verfasse. Die violetten Bänd 
hen, deren es heutzutage auf Gerechte und Ungerechte regnet, 
tellen kein sicheres Zeugnis mehr aus für die Sattelfestigkeit des 
Inhabers in den Kunsten des Lesens und Schreibens. 
Erfrischende Abwechselung bringen dem Schreiber die Besuche 
junger Weiblichkeit. Exrötend rücken die drallen Dienstmädel, die 
sokelten Arbeiterdirnchen mit ihrem Anliegen heraus, das er 
hnen längst vom Gesicht abgelesen hat: Ein Liebesbrief an den 
Schaß, der in Afrika dient oder auswärts arbeitet. Den Inhalt 
es Schreibeus baben fie im Kopf.aber der Schreiber verstehts 
neisterlich, schöne Floskeln, ziervolle Arabesken hineinzuflechten, 
so daß der ferne Schatßz an Stelle niaiven Geftammels eine pracht⸗ 
bolle Liebeserktarung zu lesen friegt — notabene, wenn er selbs 
u fesen versteht! Doch seibst Dichter nehmen, wie das Raritäten- 
abineit des Schreibers ausweist, zu dessen Künsten gelegentlich 
hre Zuflucht Warum, nichte Müssen Voeten durchaus das 
Schreiben gelernt haben? Auch Raffael wäre ein großer Künstler. 
feißff wennü ex ohnhe Hände gehoren wäre 
„D, das Bieh!“ schrie Utkin plötzlich auf. „Es ist selbst mit 
dem Fiiß auf die Drähle getreten. Horch, es frißt. Wenn es doch 
venigftens des Nachts nicht fressen würde! Bei uns Menschen er— 
cauben sich selbst die Reichsten nicht, des Nachts zu essen. Das ist 
kein Pferd, sondern ein Schwein.“ 
Damit ging er und legte sich schlafen. Kaum war er einge— 
schlummert — wieder das schmetternde Signal. 
Es erwies sich, daß es dieses Mal eine Katze war. Als der 
Morgen graute, wiederholte sich dieselbe Geschichte. 
Ganz erfchöpft kam Utkin in den Dienst und schlief über den 
Akten ein. 
Nachts wieder das durchdringende Geklingel. Die Drähte 
schienen verrückt zu sein und sich selbständig miteinander zu ver— 
einigen. 
Ütkin lief unzählige Male während der Nacht vom Hause zum 
Schuppen, und als es zum Morgen ging, fühlte er ein starkes 
Unwohlsein. Er mußte den Dienst versäumen. 
„Wer bin ich,“ dachte er, sein Gesicht in die Kissen vergrabend. 
Biusch denn überhaupt ein Mensch“ Was ist das für ein Leben, 
das ich führeꝰ Ich schleppe mein Dasein hin, und ein Vieh beherrscht 
mich. Ich esse nicht und ich schlafe nicht. Meine Gesundheit habe 
sch eingebüßt, meinen Dienst werde ich auch verlieren. Meine 
Jugend wird maenukt vergehen. Das Pierd wird alles auf— 
iressen!“ 
Den ganzen Tag lag er auf dem Bett. Und in der Nacht, als 
es still waͤr und nur ab und zu das schrille Glockensignal ertönte, 
fsland er auf, öffnete vorsichtig die Hofpforte, schlich sich zum Stall 
mnd eacle die Tür hreit auf. Dann huschte er ilink ins Haus 
zuriick. 
Er zog die Decke über den Kopf und lachte veranügt. 
„Nun, wer hat gesiegt? Nicht lange hat Deine Herrschaft ge— 
dauctt, Du verfinchtes Dromedar. Die Diebe werden Dich auf 
den Schindanger schleppen; aus Deiner Haut, daß sie verdammt 
fcisj wird man Ziegenstiefel nähen. Du Tellerlecker! Jetzt wirf 
Dir auch die Gonverneurin nicht helfen.“ 
Er schlief süß und aß im Traum Kuchen und Honig, 
Am anderen Morgen rief er Ilja und erkundigte sich streng 
ob nichts vorgefallen sei. 
„Nichts ist passiert.“ 
Und das Pferd ..., was macht das Pferd?“ fragte voll Ent— 
ietzen Utkin. 
„Was soll ihm denn geschehen?“ 
Du lügst, niederträchtiger Bengel!“ 
Bei Golt, Herr Haben Sie keine Furcht. Ihr Pierdchen 
ist heil und gesuud. Das Heu hat es schon aufgefressen und macht 
ich jetzt an den Hafer.“ 
Ultin bekam eine Lähmung des Unken Fußes und der rechten 
dene Mit der linken Hand schrieb er folgende Worte auf einen 
Zettel; 
Niemand ist schuld an meinem Tode. Das Pferd hat mid 
aufgeitessen.“
	        
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